Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 20

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 20
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Impressum

Drei Musketiere

Eine verlorene Jugend im Krieg

Band 20

1944

Copyright: © 2019 Frank Hille

Published by: epubli GmbH, Berlin

www. epubli.de

Günther Weber, Mogilew, 27. Juni 1944

Martin Haberkorn, 28. Juni 1944, auf dem Weg nach Hamburg

Fred Beyer, 29. Juni 1944, Weißrussland

Martin Haberkorn, 30. Juni 1944, Frankreich

Günther Weber, 30. Juni 1944, Waldgebiet, Weißrussland

Fred Beyer, 30. Juli 1944, Weißrussland

Martin Haberkorn, 31. Juni 1944, Frankreich

Fred Beyer, 30. Juni 1944, Weißrussland

Günther Weber, 1. Juli 1944, Waldgebiet, Weißrussland

Fred Beyer, 1. Juli 1944, Weißrussland

Günther Weber, 1. Juli 1944, Waldgebiet, Weißrussland

Martin Haberkorn, 1. Juli 1944, Frankreich

Fred Beyer, 2. Juli 1944, Weißrussland

Günther Weber, 2. Juli 1944, Weißrussland

Martin Haberkorn, 2. Juli 1944, Frankreich

Fred Beyer, 3. Juli 1944, Weißrussland

Günther Weber, 3. Juli 1944, Weißrussland

Günther Weber, Mogilew, 27. Juni 1944

Vor drei Minuten hatte eine explodierende Granate das Leben des SS-Panzergrenadiers Alfred Becker beendet. Das 12-Zentimeter-Geschoss war direkt im Schützenloch des Soldaten eingeschlagen und hatte dessen Körper zerrissen. Als sich der Explosionsqualm verzogen hatte konnte man an dieser Stelle einen gut anderthalb Meter tiefen und knapp zwei Meter breiten Trichter sehen. Von dem 18jährigen Soldaten waren rein gar keine Überreste mehr vorhanden, die höllische Explosionsenergie und die Splitter des Geschosses hatten seinen Körper pulverisiert. Günther Weber hatte zu Beginn der Offensive der Sowjets mit einer heftigen Artillerievorbereitung gerechnet und wollte seine Männer nicht nur in den Gräben konzentrieren, sondern im Gelände vereinzeln. Diese Deckungslöcher sollten nur so lange besetzt bleiben wie der Gegner schoss. Dann würden die Männer wieder Positionen in den Schützengräben einnehmen, um eine geballte Feuerkraft der Einheit zu gewährleisten. Weber wusste ganz genau, wie stark belastend das einsame Hocken in so einem Schützenloch war, und deswegen wollte er diese Deckungen nur für die Zeit des Granatbeschusses besetzen lassen. Dass es einen überall erwischen konnte war allen Männern klar gewesen, in so weit war es ihnen auch relativ unwichtig erschienen, welche Positionen sie wo besetzen mussten. Weber hatte den Tod des Grenadiers Becker als Führer des Kampfverbandes formal zu verantworten, aber so eine Art von Verantwortung kam in seinen Gedanken gar nicht vor. Verantwortlich zu handeln hieß für ihn seine Männer richtig einzusetzen, den Gefechtsauftrag zu erfüllen, und vor allem, Verluste zu vermeiden. Dass ein Geschoss einen seiner Männer tötete oder verwundete konnte er nicht beeinflussen.

Wie erwartet, war das Bataillon von Minsk verlegt worden, und zwar nach Mogilew. Damit waren die SS-Männer jetzt in die 4. Armee eingegliedert. Die Sowjets hatten nicht eine einzige Hauptstoßrichtung für ihre Offensive gewählt, sondern Aufgaben an ihre Kräfte an drei Frontabschnitten übertragen. Im ersten nördlich gelegenen Abschnitt sollte die 3. deutsche Panzer-Armee vernichtet, und die festen Plätze Witebsk und Orscha eingenommen werden. Im zweiten Abschnitt war die Liquidierung der 4. Panzer-Armee als Ziel ausgegeben worden. Im dritten Abschnitt sollte Bobruisk eingenommen und die 9. Armee vertrieben werden. Ein Blick auf die Karte machte klar, dass Bobruisk und Witebsk die Ausgangspunkte einer Zangenbewegung sein würden, deren Spitzen sich dann im Verlauf der Operation hinter Minsk vereinen, und so einen Kessel von ungeahnten Ausmaßen bilden sollten. Sollte dies gelingen, würde sich der größte Teil der Heeresgruppe Mitte in einer eisernen Umklammerung befinden. Auf der deutschen Seite sprach niemand von den Kräfteverhältnissen, aber es erschien eigentlich sehr wahrscheinlich, dass die Sowjets sowohl bei den Soldaten als auch bei den Waffen ein deutliches Übergewicht aufweisen würden. Wäre dies der deutschen Führung näher bekannt gewesen hätte dies sicher Gefühle in der Nähe der Verzweiflung hervorgerufen. 850.000 deutschen Soldaten standen 1.400.000 Rotarmisten gegenüber, 560 deutsche Panzer und Sturmgeschütze würden gegen 5.200 russische antreten müssen, gerade einmal 3.200 deutsche Geschütze würden 31.000 gegnerischen gegenüberstehen. 600 deutsche Flugzeuge würden im Gefecht auf 5.300 sowjetische treffen. Der Kampf war von vornherein entschieden. Weißrussland würde vermutlich in überraschend kurzer Zeit von den Sowjets besetzt sein werden.

Die deutschen Einheiten, die die Verteidigungsstellungen ausgebaut hatten, waren sehr überlegt vorgegangen. Es gab zwei gut angelegte Hauptverteidigungslinien vor Mogilew, danach existierte aber praktisch nichts mehr, nur frei durchstoßbares, aber sehr bewaldetes Hinterland ohne größere Hindernisse. Günther Weber interessierte das momentan überhaupt nicht, er hatte den Auftrag, zusammen mit den anderen Truppen die Stellungen zu halten. Als er die Stellung inspiziert hatte war ihm aufgefallen wie schwach die Ausrüstung mit schweren Abwehrwaffen war. Zwischen der ersten und zweiten Linie waren einige wertvolle Acht-Acht-Flakgeschütze gut getarnt eingegraben worden, wenige 5-Zentimeter-PAK standen mit in der Linie. Weiter hinten waren ein paar Panzer postiert worden, aber diese waren so kostbar, dass man sie nur im Falle eines brutalen und heftigen Einbruchs der Sowjets in den Kampf werfen wollte. Es handelte sich um Panzer IV Ausführung G, also Typen mit der 48 Kaliber langen 7,5-Zentimeter Kampfwagenkanone, Kettenschürzen und breiten Ostketten. Diese Panzer waren ein gutes Beispiel für eine gelungene Kampfwertsteigerung, denn sie waren den T 34 in der Feuerkraft immer noch überlegen. Der mittlerweile übliche Mangel an Panzerabwehrwaffen sollte durch die Ausstattung der Infanterie mit Panzerfäusten ausgeglichen werden. Für Weber war schon allein dieser Fakt ein untrügliches Zeichen für den nahenden Zusammenbruch der Ausstattung mit schweren Waffen. Diese „Westentaschenartillerie“, wie er sarkastisch zu seinen Offizieren sagte, war doch immer ein noch nicht ausgereifter Notbehelf. Mit einer Reichweite von maximal 30 Metern war es eher eine selbstmörderische Waffe, denn der Schütze musste erst einmal in eine günstige Angriffsposition kommen. Eine Bekämpfung feindlicher Panzerkräfte auf Distanz lag also nur bei den starken Rohrwaffen. Wenn die gegnerischen Panzer mit Tempo in die Stellungen eingebrochen wären würde es sehr schwierig werden sie zu vernichten. Aber ein entschlossener und kaltblütiger Soldat mit einer Panzerfaust konnte einen herumkurvenden Kampfwagen vernichten.

Die Russen hatten ihr Vorbereitungsfeuer von der Intensität und der Dauer nach den zu beschießenden Zielen unterschiedlich geplant. Von der Aufklärung ermittelte lohnenswerte deutsche Ziele wurden 90 Minuten unter Beschuss genommen, die Hauptkampflinie und die Verteidigungsstellungen insgesamt 35 Minuten. Die Rohrdichte bei den Russen lag bei rund 180 Geschützen pro Kilometer, aller knapp 6 Meter stand eine Artilleriewaffe. Günther Weber war mit seinen Männern in den Erdbunkern verschwunden und hoffte auf keinen Treffer auf den Unterschlupf. Mit ihm saßen fünf Soldaten in dem nur durch eine flackernde Kerze erleuchteten modrig riechendem Raum. Weber ließ unter seinem Stahlhelm hervor heimlich Blicke schweifen, er beobachtete die Männer. Es waren vier Grenadiere, die ihre Karabiner zwischen die Beine gestellt hatten, der fünfte war ein Unterscharführer, der seine MPi 40 über die Beine gelegt hatte. Drei der Männer waren erfahrene Soldaten, die weiß Gott nicht das erste Mal unter Beschuss lagen. Zwei waren gerade 17Jahre alt und seit drei Wochen in der Einheit.

„Na ja“ sagte einer jetzt „der Iwan muss wohl überzählige Bestände abbauen, dass er so heftig und lange trommelt.“

„Die haben wenigstens Munition im Überfluss, das ist bei uns ja immer mehr Mangelware“ erwiderte ein anderer „habt ihr schon gemerkt, dass die Gewehrpatronen aus lackiertem Blech bestehen? Das erklärt auch so manchen Hülsenklemmer.“

„Meine MPi begleitet mich seit 1942“ sagte der Unterscharführer „das ist eine ganz solide Waffe, die eigentlich so gut wie nie versagt. Natürlich hat sie eine recht geringe Durchschlagskraft, das ist schon von Nachteil. Und der Iwan hat mit der Schpagin was Besseres. Und die ist auch nicht so empfindlich wie meine Spritze.“

Alle rauchten, keiner zeigte Anzeichen von Angst, die Hände, die die Zigaretten hielten, zitterten nicht.

 

Das sind genau die Menschen die wir haben wollten dachte Weber, und er vernachlässigte vollkommen, dass er selbst Produkt so einer Erziehung war. Furchtlose, nüchterne Kämpfer, denen klar war, dass ein winziger Granatsplitter ihnen das Leben nehmen konnte, sie waren darauf eingestellt. Sie gingen mit der Überzeugung in ein Gefecht, dass sie im Auftrag ihres Landes und seiner Bevölkerung für deren Wohl handeln würden, und das gab Ihnen eine große Erdung und auch Zuversicht an das Gelingen ihrer Sache. Die russische Artillerie schoss ununterbrochen weiter. Wenn große Brocken in der Nähe einschlugen bebte der Boden. So wie diese sechs Männer hockten viele Soldaten in ihren Deckungen, wie Mäuse, die nicht nach oben kommen konnten, weil draußen ein wütender Bauer auf sie wartete, um sie zu töten. Was bei den SS-Männern aber im Vergleich zu den Mäusen ganz anders war, war natürlich die Größe, aber auch die Farbe des Fells, also der Uniform.

Die SS war schon immer ein Vorreiter im Einsatz von Tarnkleidung gewesen. Die verschiedenen Muster wiesen unterschiedliche Formen und Farben auf, und waren auch für unterschiedliche Gebiete vorgesehen. Zwei der Männer trugen Tarnjacken mit einem Erbsenmuster, und dieses war gut für das Erscheinungsbild des Grabensystems geeignet. Besonders bei Gefechten in bewaldeten Gebieten waren überaus günstige Erfahrungen mit einen braun-grünen Flecktarnmuster gemacht worden. Für Weber war das schon interessant, denn er ging davon aus, dass sie die Linien nicht lange halten würden. In seinem Gepäck hatte er eine Tarnjacke mit einen für den Wald geeigneten Muster. Das hinter ihnen liegende Gebiet war in der Art eines riesigen Schachbretts angelegt. Größere nach Westen führende Verbindungen wurden in ungleichen Abständen durch von Norden nach Süden angelegte Wege in Quadrate aufgeteilt, und das wiederholte sich viele Male, so dass man sich tatsächlich entweder auf den breiteren Verbindungen schneller, oder tiefer im Waldgebiet, entsprechend langsamer vorwärts bewegen konnte, da auch die Qualität der Wege recht unterschiedlich war. In diesem Labyrinth waren die inneren Verbindungen simple unbefestigte Waldwege, die größeren nach Westen führenden konnte man als Rollbahnen bezeichnen, da sie recht breit und zum Teil ordentlich befestigt waren.

Günther Weber machte sich Gedanken über den Verlauf der russischen Offensive, zumindest, was an zu erwartenden Auswirkungen seinen Verband anging. Zweifellos würde der Gegner keine Mühe haben die schwachen deutschen Stellungen zu durchbrechen und die feindlichen Kräfte nach Westen zu drücken, also zum Teil in das Waldgebiet hinein. Webers Bataillon wäre vermutlich davon betroffen.

Er musste sich also schon jetzt Gedanken machen müssen, wie er sein Bataillon unter diesen Geländebedingungen führen sollte.

Martin Haberkorn, 28. Juni 1944, auf dem Weg nach Hamburg

Der schlanke Oberleutnant zur See in der makellosen Uniform und mit dem Ritterkreuz um den Hals zog die Blicke der Reisenden in dem Zug auf sich, aber er steuerte kein separates Coupé an, sondern ein ganz normales Abteil. Dort hatte er noch einen Fensterplatz belegen können. Seinen Holzkoffer hatte er in der Ablage über den Sitzen verstaut. Der Waggon war wie die anderen auch bald bis auf den letzten Platz belegt gewesen, und später gekommene Reisende mussten sich auf den Waggonplattformen oder in den Gängen aufhalten. Martin Haberkorn war klar gewesen, dass diese Reise nicht angenehm werden würde, denn von Brest bis Hamburg waren es rund 1.430 Kilometer. Die Strecke führte in einer leicht nach Norden ansteigenden Linie erst nach Belgien, und ab Aachen wurde die Streckenlinie steiler nach Norden gebogen, um dann Hamburg zu erreichen. Leider war das alles Theorie, denn am 6. Juni waren die Alliierten in der Normandie gelandet. Die Bahnstrecke in Frankreich verlief in unmittelbarer Nähe des Kampfgebietes, und damit war es ausgeschlossen, diese Route zu nutzen. So war der Fahrplan den Gegebenheiten angepasst worden, und der Zug würde erst von Brest aus nach Süden schwenken, und dann im französischen Kernland befindliche Strecken nutzen. Die Alliierten hatten schnell und mühelos die absolute Luftherrschaft errungen und einer ihrer Zeitvertreibe bestand schon jetzt darin, im Hinterland Jagd auf Züge zu machen.

Martin Haberkorn war am 30. Mai 1944 Vater eines gesunden Sohnes geworden, und Marie und er hatten den Jungen Michel genannt, so war der Name im Deutschen und im Französischen gleich auszusprechen. Zufällig war Marie zusammen mit ihrer Mutter am Tag der Invasion zu ihrer Cousine aufgebrochen. Das war für Haberkorn eine riesige Erleichterung gewesen. Die Kämpfe würden sich in der Normandie abspielen und die Alliierten dann in den gewonnenen Gebieten den Stoß nach Osten planen. Eine Südwärts-Bewegung der Truppen würde also nicht gleich erforderlich werden, denn die schwachen deutschen Kräfte standen fast ausnahmslos in Küstennähe, und Gefechte würden sich dort abspielen. Marie, ihre Mutter und Michel würden in Sicherheit die Vertreibung der Deutschen aus Frankreich abwarten können. Für Haberkorn war das Abschiednehmen eine schwere Sache gewesen aber er hatte verstanden, dass er mit seiner Abkommandierung den Himmelfahrtkommandos an Bord der alten Boote entkommen war. Jetzt musste er noch nach Hamburg kommen, dann würde er weitersehen.

Haberkorn Abteil war mit 8 Personen jetzt voll besetzt, und er hatte wegen der Wärme das Fenster ein Stück heruntergezogen.

„Herr Offizier“ sprach ihn eine deutsche Frau von vielleicht 60 Jahren an „entschuldigen Sie bitte, ich kenne mich mit den Dienstgraden nicht so aus, aber möchte Sie richtig ansprechen können. Was bedeuten Ihre Schulterstücke?"

„Ich bin Oberleutnant zur See.“

„Und diese Auszeichnung am Halsband?“

„Das ist das Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz.“

„Bevor Sie noch weiterfragen, gute Frau“ schaltete sich ein geschniegelter Mann von vielleicht 40 Jahren ein „diese Auszeichnung wird nur für höchste Tapferkeitstaten verliehen. Wir haben die große Ehre, das Abteil mit einem deutschen Seehelden zu teilen. Übrigens, mein Name ist Krause, Verwaltungsdirektor der Zell AG. Wir produzieren hier Verbandsstoffe. Leider sind ja nun die Amis und die Tommies über den Kanal gekommen, und wir werden die Produktion verlegen müssen. Ich bin auf der Reise ins Ruhrgebiet.“

„Diese Panik der Zivilisten regt mich auf“ erwiderte ein Leutnant des Heeres „es wird sich alles klären, und dann werden diese Herrschaften wie bei Dünnkirchen wieder über den Kanal nach Hause flüchten müssen. Der Führer hat schon Verstärkungen zugesagt.“

„Wo sind Sie denn im Einsatz, Herr Oberleutnant“ fragte eine junge, sehr gut aussehende und dezent geschminkte Frau.

„Ich bin U-Boot-Kommandant.“

„Die Ritter der Tiefe, die Helden des Überraschungsangriffs“ sagte ein Mann von gut fünfzig Jahren der neben Haberkorn saß „ich bewundere Ihren Mut, Herr Oberleutnant. Wie ist das bei einer Wasserbombenverfolgung?“

„Laut“ sagte Haberkorn nur „sehr laut, bis zum nicht mehr aushalten. So eine Lautstärke haben Sie noch nie gehört. Es ist ein infernalischer Krach. Mit nichts zu vergleichen.“

„Sie sind noch sehr jung und schon so hoch ausgezeichnet“ sagte die ältere Dame „wie fühlt man sich da.“

„Sie sollten Ihre Neugier mal schnell zurückstellen, der Herr Oberleutnant ist sicher froh, ein paar Tage auf Urlaub zu fahren und etwas Ruhe zu haben“ sprang der Verwaltungsdirektor Haberkorn bei, und dieser nickte dem Mann dankbar zu.

„Da will man mal was von einem richtigen Soldaten erfahren, und dann wird man gleich so abgekanzelt“ schimpfte die Dame halblaut vor sich hin.

Dieser Satz war so etwas wie ein Signal gewesen jetzt ruhig zu sein, und die anderen Fahrgäste nicht weiter zu belästigen.

Haberkorn sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr langsam, nach seiner Schätzung etwa 50 Kilometer in der Stunde. Sie hatten Saint-Brieuc passiert, und von dort an ging es ein ganzes Stück auf Südostkurs, bei Rennes aber wieder auf klaren Ostkurs Richtung Paris. Für die Reisenden war dies ein extremer Umweg, aber so sollten sie recht weit weg von den Kampfgebieten an der Küste unterwegs sein.

Lieutenant Paul Webster hatte sich in seine de Havilland "Mosquito“, das „hölzerne Wunder“, regelrecht verliebt. Schon wenn er zu der Maschine ging konnte er sich an den eleganten Formen des fast vollständig aus Sperrholz, Fichtenholz und Birken- sowie Balsaholz gefertigten Flugkörpers und der Tragflächen nicht satt sehen. Die ersten Muster dieses Typs, der von Luftfahrtministerium damals noch mit größter Skepsis gesehen worden war, konnten die Kritiker aber überzeugen. Als Fotoaufklärer ausgerüstet, flogen sie den Me 109 einfach davon. Nach und nach waren diese Flugzeuge zur Truppe gekommen, und sie wurden begeistert übernommen. Die hohe Geschwindigkeit, die enorme Manövrierfähigkeit und die guten Flugeigenschaften sprachen für die Maschinen. Webster Ausführung war ein Jagdbomber FB VI, der mit zwei 227 Kilogramm Bomben im Schacht beladen war, und über vier 20-Millimeter-Maschinenkanonen sowie vier 7,7 Millimeter MG verfügte. Unter den Tragflächen konnten noch acht Raketen mitgeführt werden. Webster zweiter Mann, Georg Culligarn, flog mit ihm schon ein halbes Jahr, sie waren ein eingespieltes Team. Die beiden Männer ihres Rottenfliegers kannte er auch gut, Baker und Fitch waren erfahrene Piloten.

Die Alliierten zweigten von ihren ungeheuren Kräften gern ein paar Flugzeuge ab, um diese im französischen Hinterland freie Jagd fliegen zu lassen. Die beiden Maschinen waren heute für Einsätze im Gebiet Saint-Brieuc eingeteilt worden. Ihr Auftrag war der, vor allem erkannte militärische Ziele zu attackieren, aber auch Züge mit den wertvollen Lokomotiven anzugreifen. Ob es sich um Güter- oder Personenzüge handelte war egal. Besondere Erfolge erwartete man sich von diesen Aktionen nicht, aber sie würden doch für Unruhe und Verunsicherung sorgen.

Martin Haberkorn hatte sich noch etwas an den langsam einschlafenden Gesprächen beteiligt und war dann weggenickt. Im Halbschlaf spürte er, dass der Verwaltungsdirektor mit seinem massigen Körper gegen seine rechte Seite gesackt war, der Mann schnarchte schon leise. Haberkorn schob den Körper mit sanfter Gewalt weg, aber dieser kippte gleich wieder gegen ihn. Die ihm gegenübersitzende attraktive junge Frau lächelte ihn an. Es war mehr als ein verlegenes Lächeln. Er ignorierte es. Dann versuchte er wieder etwas zu schlafen und presste sich gegen die Abteilwand neben dem Fenster. Tatsächlich schlief er ein. Der Zug näherte sich Lamballe. Dieser unscheinbare Ort beherbergte zirka 12.000 Einwohner und verfügte über nichts, was ihn anziehend hätte machen können.

Die beiden de Havilland „Mosquito“ waren mit hoher Geschwindigkeit in Frankreich eingeflogen und dann zügig auf geringe Höhe gegangen. Die Piloten hatten die Motoren gedrosselt, denn der Sinkflug hatte die Geschwindigkeit wieder erhöht. Um gut beobachten zu können mussten sie mindestens bis auf 200 Meter herabgehen. Bei ihrem langgezogenen Sinkflug hatte Webster einen nach Osten fahrenden Zug erkannt, aber sie waren noch zu hoch gewesen. Beide Maschinen flogen mit fast auf Leerlauf gedrosselten Motoren einen großen Kreis um noch weiter herunterzukommen, und das Flugzeug von Baker hängte sich in 200 Metern Entfernung an die andere Maschine am Heck an. Die Piloten hatten sich vor dem Start bereits abgesprochen, wie sie bei Angriffen auf potentielle Ziele vorgehen würden. Webster „Mosquito“ war jetzt 280 Kilometer schnell, 250 Meter hoch, und befand sich gut 1.800 Meter hinter dem Zug. Der Pilot reduzierte auf 250 Kilometer in der Stunde, langsamer konnte er nicht werden, denn dann würde es zu einem Strömungsabriss an den Tragflächen kommen und die Maschine würde abschmieren. Webster zweiter Mann Culligarn war schon in die zum Teil durchsichtige Rumpfspitze geklettert und hatte sich hinter das sich im Bug befindliche Bombenzielgerät geklemmt. Der langsam fahrende Zug war ein ideales Ziel für die Bomben, denn er bewegte sich momentan auf einer absolut geraden Strecke. Webster musste die Maschine bloß direkt über dem Zug halten, dann würde die Sache funktionieren. Die Männer in den Jagdbombern waren nicht leichtsinnig und suchten den Luftraum nach deutschen Flugzeugen ab, aber diese würden sich wohl viel weiter östlich in den Landungsgebieten der Alliierten aufhalten. Außerdem hatten die Deutschen kaum noch Jagdflugzeuge.

 

Unter den vor allem französischen Zugbesatzungen hatte sich schnell herumgesprochen, dass die Alliierten Jagd auf alle lohnenswerten Transportmittel machen würden und dass es besser wäre nicht den Helden zu spielen, sondern sein Heil in der Flucht zu suchen. Die Heizer hatten seitdem die Aufgabe die Kohle in den Kessel zu schaufeln, aber auch den Luftraum im hinteren Bereich zu beobachten. Von der Logik her war ein Angriff auf einen Zug von der Seite her wenig sinnvoll, Bombentreffer wären so nur schwer zu erzielen. Günstiger würde ein Anflug in direkter Linie sein, denn dann hätte man die ganze Wagenkette unter sich und könnte entscheiden, wohin man die Sprengkörper warf. Webster Bombenschütze hatte bei einem vorherigen Angriff auf den ersten Waggon hinter der Lok gezielt und das Ergebnis war ein totales Chaos von aus den Schienen gesprungenen und umgekippten Wagen gewesen.

Culligarn wollte das heute wieder so praktizieren aber er wusste nicht, dass der Heizer dem Lokführer zugebrüllt hatte, dass sich von hinten ein Flugzeug nähern würde. Der Lokführer hatte sofort alle Ventile für die Antriebszylinder der Räder geschlossen und die Bremsen gezogen. Für den Bombenschützen sah es im Anflug und aus nunmehr 80 Metern Höhe so aus, als würde der Zug mit konstanter Geschwindigkeit weiterfahren und er visierte den ersten Wagen hinter der Lok an. In der Hektik des Augenblicks hatte er eine bestimmte Einstellung am Bombenabwurfgerät nicht verändert, und diese würde eine minimale Verzögerung des Abwurfs hervorrufen. Das vom Lokführer eingeleitete Bremsmanöver erzeugte eine starke Verzögerung und rief ein infernalisches Kreischen der Bremsbacken auf den Rädern hervor, mit funkensprühenden Bremsen wurde der Zug langsamer. Die beiden Bomben segelten über die Lok hinweg und explodierten knapp 30 Meter vor ihr. Der viele Tonnen schwere Zug war zwar abgebremst worden, aber das reichte nicht aus, so dass die Lok in einen der Bombentrichter rutschte und zur Seite kippte. Der Lokführer und der Heizer sprangen von der Lok herunter und rannten weg, denn jetzt schoss ein zweites Flugzeug auf den stehenden Zug.

Martin Haberkorn war durch das starke Bremsen munter geworden und wusste sofort, dass etwas schieflief. Ein paar Sekunden später krachte es weiter vorn, dann ratterten Maschinenwaffen. Der Instinkt des vom Feind Gejagten ließ ihn brüllen:

„Raus, alle raus, schnell!“

Die Waggons boten auf den ersten Blick besseren Schutz als das freie Gelände, aber sie könnten zur tödlichen Falle werden, wenn Bomben den Zug trafen. Auf dem Gang drängten sich panisch verängstigte Fahrgäste, und sie kamen nicht voran, da der schmale Weg hoffnungslos mit Menschen verstopft war.

„Wir müssen aus dem Fenster raus“ rief er.

„Das ist doch aber viel zu hoch“ rief die attraktive junge Frau.

„Los“ brüllte Haberkorn „wir haben keine Zeit mehr, die kommen wieder!“

Er half dem Verwaltungsdirektor aus dem Fenster heraus, dieser ließ sich fallen und kam gut neben dem Gleisbett auf.

Haberkorn sah die junge Frau direkt an und machte eine winkende Bewegung zu sich heran. Sie reagierte aber nicht, und wollte die Abteiltür zum Gang öffnen.

Als Haberkorn ein näherkommendes Motorengeräusch hörte schrie er:

„Runter! Auf den Boden!“

Durchgängige Abschüsse von größeren Kalibern waren zu hören, dazwischen ratterten MG-Waffen. Die Menschentraube im Gang wurde plötzlich in einen Blutnebel getaucht, die Abteilfenster zum Gang waren auf einmal stark rot gesprenkelt und zerbarsten dann. Auch im Abteil schlugen Geschosse ein und rissen scharfkantige Holzteile aus den Abteilwänden. Die junge Frau hatte in den Gang gesehen, drehte sich entsetzt zu Haberkorn um, dann erbrach sie sich würgend. Jetzt gab es im Abteil kein Halten mehr, innerhalb kürzester Zeit waren alle aus dem Fenster geklettert. Die Leute hatten noch Teile ihres Gepäcks aus den Waggons geworfen, es geschnappt und rannten jetzt über das Gelände. Haberkorn war unter den Zug gekrochen und hatte festgestellt, dass zwei Flugzeuge den Zug attackiert hatten. So wie er die Situation einschätzte würden die Piloten keine Bomben mehr abwerfen, sondern noch etwas Jagd auf die fliehenden Passagiere machen. Im Zug waren Deutschen und Franzosen gewesen und es war schon eine ironische Geschichte, dass jetzt Franzosen von ihren Befreiern erschossen wurden. Als eine Maschine abdrehte sah er, dass es eine „Mosquito“ war. Auch das andere Flugzeug entfernte sich.

Haberkorn kam unter dem Zug hervor und betrachtete die Gegend. Er sah die weggekippte Lokomotive, er sah, dass einer der hinteren Waggons brannte, vielleicht waren Leuchtspurpatronen mit eingegurtet worden und hatten das Feuer entfacht. Er war als letzter aus dem Abteil geflohen, und sein Gepäck war noch dort. Er musste es unbedingt holen, in der jetzigen Zeit bekam man kaum Ersatz für alltagsnotwendige Dinge wie Socken oder Unterhosen. Er kletterte in den Waggon zurück und wusste, dass ihm schon wieder ein belastender Moment bevorstand, er musste den Fenstergang passieren. Natürlich hätte er warten können, bis irgendwelche Sanitätsfahrzeuge und Bergungstrupps aufgekreuzt wären, das wollte er aber nicht tun, da der Ort schon zu erkennen war, und dort wollte er hin. Der Luftangriff hatte ihn nicht so sehr schockiert, eher die Tatsache, dass der Gegner jetzt schon Jagd auf Personenzüge und einzelne Menschen machte.

Als er auf dem Perron stand und die Tür zum Waggon öffnete stieg ihm der bekannte Blutgeruch in die Nase. Er erbrach sich unvermittelt und schaute wie irr nach unten, ob etwa Spritzer seine blankgeputzten Schuhe verunreinigt hätten. Die Geschosse der 20-Millimeter-Maschinenkanonen und die der 7,7-Millimeter-MG der „Mosquitos“ hatten das Holzdach des Wagens fast völlig zerrissen und alles, was sich im Fenstergang befunden hatte, getroffen. Zum Zeitpunkt des Beschusses hatten sich etliche Reisende dort aufgehalten, und alle waren tot. Einige der Körper waren übereinander gefallen, andere lagen in unnatürlichen Stellungen auf dem Gangboden. Zwischen den Leichen gab es keine freien Stellen wo er hätte hintreten können um an sein Gepäck zu gelangen. Was ihn am meisten erschreckte war nicht der Anblick der grässlichen Wunden der Toten, sondern das Bild einer Mutter und ihrer kleinen Tochter. Noch im Tod hielt die Frau ihr Kind umklammert. Dem Mädchen hatten die Geschosse den halben Schädel weggerissen. Der Gang schwamm in Blut, er würde dort niemals entlanggehen, selbst wenn man versuchen würde, ihn dazu zu zwingen.

Haberkorn stieg mit schwachen Beinen von dem Waggon herunter und setzte sich gut 5 Meter von der Gleisstrecke entfernt auf den Boden. Seine zu Beginn der Reise noch vorhandene Energie war wie weggeblasen, er würde sich gern einfach hinlegen und schlafen, nur noch schlafen. Mittlerweile waren zwei klapprige Wehrmachts-LKW am Zug eingetroffen. Die Soldaten waren abgesessen und vor den Fahrzeugen angetreten. Ein Feldwebel meldete einem Leutnant, und dieser kam auf Haberkorn zu. Martin Haberkorn erhob sich. Der Leutnant schaute überrascht auf Haberkorns Ritterkreuz.

„Leutnant Seltmann von der Standortkommandantur Lamballe. Wir sollen hier Hilfe leisten, der Zug soll beschossen worden sein.“

„Ja“ erwiderte Haberkorn „Hilfe wird nicht mehr nötig sein, es wird wohl darum gehen, die Toten zu bergen. Die paar Leute, die neben dem Gleis sitzen, haben nichts abbekommen, einige sind über die Felder geflüchtet. In den Waggons liegen etliche Leichen.“

„Gut“ antwortete der Leutnant „ich habe 80 Prozent Rekruten dabei, das wird nicht ganz einfach für die werden.“

Er blieb kurz still, dann sagte er wütend:

„Diese Verbrecher machen jetzt schon Jagd auf Zivilisten. Schweine! Sie dürfen nicht die Überhand gewinnen!"

Haberkorn sah ihn an. Vor ihm stand ein schmächtiger junger Mann, vielleicht Anfang der Zwanzig. Die Uniform wirkte überall viel zu groß an ihm, insbesondere die Schirmmütze. Wahrscheinlich war er wie Haberkorn ehemals als Abiturient eingezogen worden. Vermutlich hatte sich sein militärisches Leben im ehemals so beschaulichen und ruhigen Frankreich auf Exerzieren und ein paar Übungen beschränkt.

Der Leutnant hatte die ungefähr 30 Soldaten jeweils zu viert auf einen Waggon verteilt, er wusste ja nicht, wo sich die Opfer befinden würden. Jeweils zwei Leute würden die Toten an den Armen und Beinen packen und zu den Perrons tragen, um sie den anderen beiden Soldaten am Gleis dann zu übergeben. Der Leutnant oder wer auch dafür verantwortlich gewesen war hatte aber vergessen den LKW Decken oder Zeltbahnen mitzugeben, um die Opfer des Angriffs darauf abzulegen. Haberkorn war ein Stück auf dem Feld zurückgetreten um den Ablauf der Aktion zu beobachten. Fast zeitgleich erschienen zwei Soldaten auf den Perrons, um sich dort mit grünen Gesichtern zu erbrechen. Der Leutnant war sofort bei Ihnen.