Maschinenkinder

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Maschinenkinder
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FRANK HEBBEN

MASCHINENKINDER

SF-Storys

[Begedia]

MASCHINENKINDER

fantastic episodes XV

Erste Ausgabe – 2012 im Shayol Verlag

© 2012 Frank Hebben

Vorwort © 2011 Myra Çakan

© 2016 dieser Ausgabe – Begedia Verlag

Lektorat – Armin Rößler

Gestaltung und E-Book-Erstellung – Hardy Kettlitz

Cover-Illustration – Carsten Dörr

Umschlaggestaltung – Hardy Kettlitz

Korrektur – Jakob Schmidt

ISBN: 978-3-95777-085-1 (epub)

Besuchen Sie uns im Netz:

http://verlag.begedia.de

Inhalt

Titel

Impressum

VORWORT

DAS LICHTWERK

SCHWARZFALL

MACHINA

ELYSIAN

KREMATORIUM

KINDER DER GROSSEN MASCHINE

BYTE THE VAMPYRE

HIGHSCORE

CYST

CÔTE NOIRE

MUSCHELPLANET

SCHWARZ/WEISS

BRAUSE

OUTAGE

Quellen

Über den Autor

Für Pierre E.

»Mit einem schmerzhaft gewaltsamen Ruck drehte Freder sich um sich selbst und trat vor seine Maschine. Etwas wie Erlösung ging über sein Gesicht, als er dieses helle, nur auf ihn wartende Geschöpf betrachtete, an dem nicht ein Stahlgelenk, nicht eine Niete, nicht eine Feder war, die er nicht errechnet und erschaffen hatte.«

(Thea von Harbou: Metropolis: 1926)

VORWORT

Persönlich kenne ich Frank Hebben nicht, doch man hat mir zugetragen, dass er gerne über Friedhöfe streift und auch in verlassenen Gemäuern soll man ihn schon gesehen haben. Die Geschichte, dass er manchmal in einem dunklen Keller sitzt und armen, plüschigen Duracell-Hasen die rosa Öhrchen ausreißt, halte ich allerdings für stark übertrieben. Denn Frank Hebben hat eine viel bessere Möglichkeit, seine dunklen Phantasien auszuleben: Er schreibt. Cyberpunk und Dark Industrial, so der Stil seiner Geschichten.

Und ganz schön finster sind die Welten, die der Autor erfindet in der Tat. Oft spielen seine Storys in einem post-apokalyptischen Environment. Die Protagonisten, soweit sie sich noch ihr Menschsein bewahrt haben, werden durch bizarre und bedrohliche, sich verselbstständigende Technologien vereinnahmt. Dies ist durchaus wörtlich zu verstehen. Oft sind es allmächtige Maschinen, Relikte aus einem längst vergangenen Krieg oder die Verlockungen des Cyberspace, die Frank Hebbens Protagonisten ein unerfreuliches Ende bescheren. Heile Welt ist abgebrannt, düstere und phantastische Endzeitszenarien haben Einzug gehalten. Aber in dem Schrecklichen, im Monströsen liegt auch Schönheit, auch wenn es eine grausige Schönheit ist.

Sicher, Geschichten wie sie in seinen Storysammlungen zu finden sind, hat man auf die eine oder andere Weise schon einmal gelesen, mir fallen spontan Storys von John Shirley, Jeffrey Thomas oder auch J. G. Ballard ein – und auch eine Figur wie aus einem William-Gibson-Universum ist mir begegnet: das Mädchen mit den Schmetterlingsaugen (in: Prothesengötter).

Allerdings geht es Frank Hebben nicht darum, das Geschichtenerzählen neu zu erfinden, seine Storys sind sinnliche Erlebnisse. Es ist seine Bildersprache, die einen in diese düstere Welt zieht, dazu braucht er nur ein paar lässig hingeworfene Sätze, und schon riecht, schmeckt man seine Welten. Auch wenn es nicht immer angenehm ist, aufregend ist diese Erfahrung aber auf jeden Fall.

Myra Çakan – August 2011

DAS LICHTWERK

»Krieg ist scheußlich, Junge.

Er sprengt die Menschen entzwei.«

(Rhombus)

Im Windglas der Laterne schwirrten die Feuerfalter auf, als das Boot gegen den Kai stieß. Paul legte das Paddel quer, deckte es mit einem Öltuch zu, bevor er das Anlegetau um einen Poller schlang und breitbeinig ausstieg. Kurz lockerte er seinen Nacken, seine Arme und streckte den Rücken durch – eine Fahrt durch die Katakomben war anstrengend, doch der Junge grinste, während er nach dem Bündel griff, das groß wie ein Buch auf einer Munitionskiste lag, es an seine Rippen presste:

Es wog ungewöhnlich viel für seine Größe.

Außer den Wellen, dem Knarzen der Lederjacke, wenn er sich bewegte, hörte Paul nur noch das leise Raunen der Geistervögel, die unsichtbar, in weiter Ferne, durch die Finsternis segelten.

Ein Signal pfeifend wandte er sich nach vorn, um dann den Henkel der Laterne vom Haken zu streifen.

So blieb er stehen und wartete. Durch das Glosen der Falter konnte Paul das kleine Motorboot am vorderen Steg – und die Treppe zum Flakturm ausmachen; oben, auf einem Plateau, stand ihre Hütte, noch höher die alte Kanone und der Suchscheinwerfer als breite Schatten in der Dunkelheit.

Ein Bellen erklang.

Paul pfiff, lauter diesmal, obwohl er den Hund schon erkennen konnte, der in langen Sätzen die Stufen abwärts sprang; ein altes Tier, mit grauen Flecken im Fell, das hechelnd zu ihm kam und die Schnauze an Pauls Stiefel drückte, schnüffelte.

»Ludwig!«, rief der Junge fröhlich und kraulte dem Hund die Hängeohren. »Riecht nach Heizkeller, was? Ich sterbe vor Hunger … los, komm.«

Beim Aufstieg blickte er zur Glaskuppel hoch, die auf den Stadtmauern lag wie der Deckel einer riesigen Taschenuhr, von außen bedeckt mit der Asche des Krieges, eine meterdicke Schicht, durch die kein Sonnenlicht mehr einfiel …

Immernacht.

Noch nie hatte Paul den Himmel gesehen, keine Wolken, keine Sterne, die er nur aus Büchern kannte; denn als die Bombe zündete, war er gerade erst zur Welt gekommen.

Ganz nah hörte er, wie der Hund schnaufte und fühlte sich sicherer; hier schienen keine Gefahren zu lauern, und er war nicht mehr allein. Noch wenige Stufen, dann glomm der Schein des Kamins über ihm, ehe ein Fenster und die Vordertür aus der Schwärze rückten: Ihre Hütte bestand aus Brettern und Kupferblechen, die sie aus allen Vierteln herbeigeschafft hatten. Mit Tarnfarbe bestrichen und ausgebaut war sie über der Stadt ein Zuhause geworden – und warme Luft begrüßte Paul, als er die Klinke runterdrückte und ungestüm eintrat, das Paket im Arm, Ludwig an seiner Seite.

Die Scharniere der Tür quietschten so laut, dass Lisa in ihrem Sessel aufschreckte. Sie saß am Kamin, eingehüllt in eine Wolldecke, und hatte dem Grammophon zugehört, dessen Schalltrichter im Flackern des Feuers glänzte. »Geht das wohl leiser«, tadelte sie, wobei sie den Tonarm kratzend von der Platte nahm.

Das Lied verstummte.

»Wo bist du gewesen?«

»Draußen«, wich er ihrer Frage aus und klopfte Dreck aus den Stiefeln, bevor er die Laterne an einen Wandhaken hängte und von der Fußmatte stieg.

»Ach; Paul, du sollst die Treter ausziehen, weil du mir sonst den Matsch reinträgst.«

»Aber, schau«, entgegnete er und zeigte die Sohlen vor. »Ganz sauber.«

»Wie, das nennst du sauber? Wenn du nur einmal auf mich —«

»Schluss, ihr zwei«, ging Rhombus dazwischen. »Tu, was das Mädchen dir sagt.« Der alte Soldat saß am Esstisch, das bärtige Kinn trübsinnig auf die Fäuste gestützt, und studierte einen Bildband über moderne Fliegerei.

»Na schön.« So schmutzig waren die gar nicht! Trotzig zog Paul seine Stiefel aus, pfefferte sie in eine Ecke, um sich danach an den Tisch zu setzen. »Wann gibt’s Essen?«

»Du bist spät dran. Die Suppe hast du verpasst.«

»Was, ich bekomm nichts mehr?« Paul knallte das mitgebrachte Paket hin. Und dafür die ganze Mühe …

Zögernd, er schien mit seinen Gedanken weit weg gewesen, hob Rhombus den Kopf; und es klickte wie bei einer Uhr, als sein Maschinenauge zuerst das Paket und dann den Jungen fixierte. »Was ist das?«

»Da musst du wohl selbst nachschauen«, sagte Paul, die Arme verschränkt, und lehnte den Rücken an. Nicht mal lausige Suppe, so was Blödes!

Mit seiner Hand, die von Narben gekerbt war, griff Rhombus nach dem Bündel und schlug das Ledertuch zurück; ein schwarzer Kasten kam zum Vorschein, groß wie eine Schatulle. »Das ist ja …«, begann er, sichtlich erstaunt.

»Ein Stromkonverter, ganz recht.«

»Bengel, wo hast du den her?«

»Ist das so wichtig?« Paul gähnte, obwohl er nicht sonderlich müde war. »In den Katakomben hinterm Marktplatz. Deswegen bin ich spät dran.«

 

»Viel zu gefährlich dort«, sagte Lisa vorwurfsvoll, während sie ihm einen Teller hinstellte: Speck und Erbsen aus der Konserve.

Paul nahm ihr den Löffel ab. »Unten ist nichts mehr. Alles verrostet, kaputt und verfault. Oder der Sporennebel hängt drin, und ich hatte meine Gasmaske nicht dabei.«

»Eine Maske sollst du immer mit dir tragen.«

»Weiß ich doch. Hör auf zu schimpfen.«

Vom Geruch angelockt winselte Ludwig herbei und legte die Schnauze auf sein Bein. »Ich lass dir was übrig«, seufzte Paul und kraulte ihm Lefzen und das graue Fell, worauf er die kalten Erbsen verschlang.

Gerade als Lisa das Grammophon wieder ankurbelte, wurde die Hütte von einem leichten Beben durchgeschaukelt; Tassen und Besteck klirrten auf den Regalen. Sie ließ den Porzellangriff los. »Das geht schon den ganzen Tag so.«

»Wieder diese Phase, wie?«, fragte Paul, der seinen Teller fast leer hatte und nun die letzten Speckstücke an den Hund verfütterte. Richtig satt war er nicht.

Rhombus schob den Stuhl zurück und stand auf. »Das wird holprig diese Nacht. Mittlerweile ist der Pegel so stark, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache. Jeden Monat wird es schlimmer.«

»Sollen wir die Maschinen festbinden? Weiß aber nicht, ob unten am Steg noch viele Taue rumliegen.«

»Wir warten ab und hoffen das Beste, Junge.«

Auf einer Kommode stand das umgebaute Radio, und Rhombus ging hin und schaltete es ein – verdrehte die Skala, bis ein ätherisches Flüstern erklang, das nicht aus dem Lautsprecher kam. »Hört ihr? Ganz nah.«

»Ich krieg bestimmt kein Auge zu.« Paul gähnte und rieb sich die Wangen und das Kinn. »Morgen raus zum Bahnhof.«

»Na fein«, sagte Lisa gereizt, während sie ein Buch aus der Vitrine nahm. »Und ich hab wieder keine Ruhe.«

»Der Bub kann schon auf sich aufpassen.«

»Kann ich, hörst du?«

»Nimm wenigstens den Hund mit.« Schwer ließ sie sich in den Ohrensessel fallen, schlug das Buch auf und las, ohne einmal den Kopf zu heben.

»Jetzt sei nicht sauer«, sagte Paul. Immer die gleiche Leier. »Er kann doch nicht raus, wegen dem Bein …«

»Ja, mein Bein. Ich will nichts hören davon!« Rhombus, der einen Schlüssel aus der Uniform geholt hatte, öffnete damit eine Schublade und zog sie heraus. »Wir brauchen mehr Benzin. Schau, ob du Automobile oder Lastwagen findest.«

Hinter ihm war Paul an eine Waschschüssel herangetreten, griff nach der Kanne, schüttete Wasser ins Becken, um sich mit dem Schaum einer Seife die Hände und sein Gesicht zu waschen. Er nahm ein Handtuch vom Stapel.

»Sieh her, Junge«, klang Rhombus’ tiefe Stimme auf, und Paul knüllte das Handtuch zusammen, warf es in den Wäschekorb, bevor er sich zu ihm umdrehte.

Mit einer Faust auf Augenhöhe stand der Alte da, die Lippen schmal, das Auge verschlagen – doch dann lachte er hart, es klang wie ein Bellen, und öffnete die Hand, sodass ein silbernes Kleinod an einer Kette herausfiel. Es war ein Orden.

»Für deine Verdienste im Namen der …« Rhombus brach ab, sein Maschinenauge klackte. »Na, weil du mir beim Lichtwerk geholfen hast, zeichne ich dich mit dem Adlerkreuz erster Klasse aus. Gute Arbeit, Rekrut.«

»Oh«, machte Paul, über beide Ohren strahlend, als der Veteran ihm den Orden umhängte. Das war alle Mühe wert!

Lisa schmunzelte. »Nicht, dass dir noch die Brust platzt, Kleiner.« Dann, mit strengerer Mine, zu Rhombus: »Du solltest ihn nicht ermutigen, sich an gefährlichen Orten rumzutreiben. Irgendwann wird er sich verletzen, oder Schlimmeres passiert.«

»Nur hat der Bengel recht«, seufzte Rhombus, als er beide Hände auf Pauls Schultern legte. »Ich brauche seine Augen und seine flinken Beine. Sonst wird das Lichtwerk niemals fertig.«

»Ach was«, sagte Paul, der verlegen den Orden bestaunte: »Schön ist der. Wofür hast du ihn bekommen?«

Doch Rhombus überhörte die Frage. »Es ist schon spät, Kinder«, brummte er und streckte den Arm vor. »Verriegelt die Fenster. Und legt euch hin.«

In einer Nische rechts vom Kamin stand ein großes Ehebett, dessen Gestell in der Mitte geteilt war: Wolldecken hingen zwischen den einzelnen Hälften – so hatte jeder sein Abteil, links sie, und rechts schlief Paul. Nachdem Rhombus den Nebenraum hinter sich abgeschlossen hatte, zupfte Lisa ihr Nachthemd unter dem Kissen hervor. »Dreh dich weg, ich will mich umziehen.«

»Und wenn ich die Augen zumache?«

»Ha, den Trick kenne ich schon«, sagte sie und strich derweil ihr Nachthemd glatt. »Sei so lieb, Paul. Du bist zu alt, mir dabei zuzuschauen.«

»Was du immer hast …« Er streckte ihr die Zunge raus, wandte sich aber zum Fenster ab.

Draußen die Immernacht.

Im Halbschlaf lauschte er dem steten Knacken des Feuers, als würde das Grammophon noch auf leerer Rille laufen. Der Geruch des Kissens, das ruhige Atmen von Lisa, die sofort eingeschlafen war – und ein Flüstern, ganz leise, obwohl der Phasenmesser abgeschaltet auf der Kommode stand: ein seltsames Fisteln, wie Luft, die einem Rohr entströmte; doch Paul war zu müde, um länger darauf zu achten. Es schien ohnehin weit weg …

Und so zog er die Bettdecke bis zum Hals, räkelte sich, rieb die Füße aneinander, bis er in einem Traum versank:

Wasser, Wasser, und hohe Wände, von denen die Farbe abblätterte: Paul glitt durch die Katakomben, und das Licht der Feuerfalter schwamm auf den Wellen voraus, kroch an den Stützpfeilern hoch, die das Kuppeldach mittrugen, weit über ihm im Schatten.

Die Asche lag dicht.

Langsam, unwirklich langsam, trat das verfallene Schulgebäude aus der Dunkelheit. Der Türsturz hing abgesackt und schräg wie eine Guillotine ins Eingangsportal runter – und als der Kiel gegen den Bordstein stieß, erzitterte das ganze Gebäude wie von einer Bombe getroffen.

Ein fremder Wille ließ Paul nach der Laterne greifen, das Boot verlassen und die Treppen hochsteigen. Sand knirschte unter seinen Stiefeln, während er die Schule betrat:

In der Aula herrschte ein Wispern, ein Raunen, tausend Stimmen schienen hektisch zu sprechen, aber niemand war hier, außer Schemen, die über die nackten Wände huschten. Um sie zu verscheuchen, hob Paul die Laterne höher, schwenkte sie nach links, nach rechts, dann nach unten, wobei er hastig den Boden absuchte:

Fliesen, gesplittert, und ölige Pfützen spiegelten das Licht; eine Glasvitrine, in Scherben; ein Schulranzen; eine Mütze; ein rostiges Fahrrad. An der Stirnseite führten Wendeltreppen zum oberen Stockwerk und runter, zur Sporthalle, zu den Umkleiden; und in den Heizkeller, wo Paul den Konverter gefunden hatte.

Etwas zog ihn magisch dorthin. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen, doch die Beine gehorchten ihm nicht mehr: Paul musste vorwärts marschieren, jede Bewegung mechanisch, als wäre er ein Spielzeugsoldat. Nein; er wollte nicht weiter, bloß nicht nach unten, zu diesem Ungetüm aus Rohren und Kesseln, dort, wo die Schiefertafel und die Schulbänke standen und fleckige Matratzen lagen, in denen noch Gespenster schliefen!

Danach verdunkelte sich alles, und die Stufen verschwanden bei jedem Schritt, den er abwärts folgte, bis ein sternenschwarzes Maul den Kellertrakt verschlang.

Paul riss die Schultern zurück, drehte sich; und dabei flog ihm die Laterne aus der Hand, die klirrend auf dem Boden zerschellte. Finsternis brach über ihn herein, als die Falter wie Aschefunken aus dem Windglas aufstiegen; davonwirbelten, verloschen.

In seinen Ohren brausten die Stimmen.

Er schrie!

Die Hütte schwankte. Ein Gekreisch und flüchtige Schatten, als Paul die Augen aufriss. »Was …?«

»Unter die Bettdecke, schnell!« Mit bloßen Händen hielt Lisa einen Geistervogel in Schach, der durchs offene Fenster hereingekommen war. Auch der Hund saß aufrecht, die Ohren steif, die Zähne gefletscht, und knurrte und bellte nach Leibeskräften, traute sich dennoch nicht näher.

Im Dunkel schienen die Flügel wie Spinnweben; ihre Knochen glühten eisblau, wurden grell und blendeten, ehe der Vogel blitzartig zuschnappte. Um Haaresbreite konnte Lisa dem Schnabel ausweichen, stolperte unglücklich und fiel; schürfte sich die Knie wund ...

Sie heulte.

»Pass auf!« Paul stürzte aus dem Bett zum Kamin, nahm den Schürhaken vom Ständer.

»Du musst ihn verjagen«, stöhnte Lisa und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, während Paul zu ihr hastete, sich schützend hinter sie stellte, indem er das Eisen schwang – doch sein Schlag ging ins Leere. Erst als der Vogel die Krallen vorstreckte und mit den Flügeln wild um sich peitschte, Töpfe aus dem Regal und das Grammophon wegriss, gelang es ihm, einen seitlichen Treffer zu landen. Noch einen. Und noch einen gegen den Hals, bis die Bestie taumelnd abdrehte.

Na warte! Paul setzte dem Vogel nach, seinen Schürhaken in beiden Händen, schlug und stach damit zu, drängte ihn zum Fenster hin; und wollte gerade einen langen Hieb austeilen, als in der Tür neben ihm ein Schlüssel gedreht wurde: Sie sprang auf.

»Zur Seite«, brüllte der Alte, mit seiner Pistole bewaffnet. Er hob sie an, zielte, feuerte – schoss zwei Kugeln durchs offene Fenster. Vom Knall nach hinten gescheucht, prallte das Tier gegen die Holzblende, rutschte und flatterte nach draußen, wo ein ganzer Schwarm dieser Vögel in Schleifen um die Hütte kreiste. Ihr Flügelschlag klang wie das Flüstern von Stimmen.

»Zumachen«, rief Rhombus, noch immer die Waffe im Anschlag. »Mach hinne, Junge.«

Sofort ließ Paul den Schürhaken fallen, schlug die Fensterblende zu, dann wollte er rasch den Riegel vorschieben, aber der lag am Boden verstreut, zerborsten in Splitter. »So ein Mist«, keuchte er, ganz außer Atem.

»Dieses Viech war … im Zimmer und schrie … da bin ich aufgewacht.« Lisa, die wieder stand, rieb sich die verletzten Knie. »Hatte alles verriegelt, wirklich.«

»Ich glaube dir, Mädchen«, sagte Rhombus und legte die Pistole auf den Esstisch, bevor er zu Paul hinüber kam. Im Vorbeigehen wurde er von Ludwig angejault, der zitternd im Korb lag, die Pfoten über der Schnauze. »Gib schon Ruhe, du großer Held.«

»Die Blende ist abgebrochen, schau.«

»Wird das Beben vorhin schuld sein. Müssen ein Brett vornageln.«

»Unheimlich, irgendwie.« Die flogen zu tief und viel zu weit draußen. Wachsam die Geistervögel im Blick, kniete Paul nieder, um alle Bruchstücke aufzulesen. Er wollte sie an Rhombus geben, der seine Hand aber nicht ausstreckte.

»Das kann man nicht leimen«, erklärte der Alte. »Wirf die Reste ins Feuer.«

»Oh nein …!«

Beide fuhren herum.

Lisa hatte das Grammophon entdeckt und ging hin und nahm es hoch in den Arm; sie streichelte über den eingedrückten Trichter, ganz behutsam, als wäre er ein verletzter Kater, vielleicht: »Jetzt sieh dich an, ganz verbeult bist du.« Vorsichtig stellte sie den Kasten auf der Anrichte ab und drehte an der Kurbel, bis ein dumpfes Knirschen erklang. Besorgt schaute sie über die Schulter zurück. »Der Plattenteller, er dreht sich nicht mehr.«

»Repariere ich später, Liebes.«

»Warum belagern uns diese Biester?«

»Kann ich nicht genau sagen. Segeln stramm auf der Phase… Wer weiß?«

»Was meinst du damit?«, fragte sie.

»Das Wellenmuster«, erklärte er nachdenklich. »Könnte sein, dass sie ihm nachjagen.«

Draußen zogen die Geistervögel ihre Kreise.

Rhombus schaute ihnen nach, sein Gesicht in tiefen Falten. »Die werden uns Ärger machen.«

Am Morgen wurde Paul von einer kühlen feuchten Hundenase geweckt, die gegen seine Stirn stupste. »Ach Ludwig, nicht«, raunte er schläfrig und wollte das Kissen schon über den Kopf ziehen, als er ein lautes Klappern hörte. Er fuhr hoch, blickte zum Fenster, doch von den Vögeln war nichts mehr zu sehen. Trotzdem stieg Paul aus dem Bett, streichelte den Hund und zog Schuhe an, bevor er zum Tisch ging, wo ihm Lisa eine brennende Kerze und einen Teller mit Marmeladenbrot hingestellt hatte.

Er war allein im Raum.

Also setzte er sich hin, frühstückte einen Happen, bis neues Geklapper, ein Hämmern, ein Schrauben durch das Kupferdach zu ihm drangen.

Rhombus baute den Konverter ein! Paul klatschte in die Hände, dann konnte ihn nichts mehr halten, und er stürmte zur Hintertür, riss sie weit auf und spurtete die Treppen des Flakturms empor.

Ludwig folgte ihm japsend auf den Fersen.

Oben fanden sie Rhombus bei seiner Arbeit am Lichtwerk. Auch Lisa war hier; auf einem Tuch kniete sie in den Gemüsebeeten, und darüber hingen Leinen mit festgeknoteten Flaschen, die wie Lichterketten strahlten: Eisblaue Würmer ringelten sich am Glasboden, auch etwas Erde war eingefüllt.

 

»Guten Morgen, ihr«, begrüßte Paul die beiden, und Lisa drehte sich zu ihm um, hob die Hand und winkte, worauf der Hund zu ihr hintrottete, die Nase schnüffelnd am Beton. »Dass du mir heute keinen Streifzug machst«, rief sie herüber. »Da wartet Wäsche auf dich.«

»Aber ich hab doch Letztens erst gewaschen …«

»Und alles wieder eingesaut. Ich bin nicht eure Dienstmagd, ihr könnt beide mit anpacken.«

Paul schnitt ihr eine Grimasse, während er zu Rhombus weiterging. Waschen, pah! Dafür bekam er keinen Orden.

»Soso, auch schon wach, ja?«, brummte dieser und streckte den Schraubenschlüssel vor. »Nerven wie Stahl hast du, Rekrut. Wir haben kein Auge mehr zugekriegt.«

»Ich war müde«, sagte Paul achselzuckend und betrachtete die Schäden am Lichtwerk: Von der Maschine waren Stangen und Zahnräder abgefallen, die verstreut auf der Plattform lagen; im Suchscheinwerfer spannten sich Risse durchs Glas; das Flakgerüst hing schief, als wären die Streben unten geschmolzen. Und einer der kleinen Propeller, die wie Windspiele auf der Brüstung standen, hatte einen Knick, sah aber sonst funktionstüchtig aus.

Ganz schön ramponiert alles.

Rhombus folgte seinem Blick zu einem Verteilerkasten, dessen Deckel nur noch an einer Angel hing; die Kabel baumelten bis zum Boden, ineinander verdreht und verknotet. »Eine Sauerei ist das! Kostet uns Tage, wenn nicht Wochen, das erneut instand zu setzen.«

»Die Vögel …«

»… sind abgezogen, als die Phase weitergerückt ist, zur Altstadt. Die Marienkirche hat ein paar Schindeln weg, dann ist irgendwo ein Haus eingekracht. Aber ich denke, wir haben Ruhe so weit.«

»Hoffentlich«, sagte Paul. Er hob ein schweres, rostiges Zahnrad auf, das er zu Rhombus herüberschleppte. »Baust du den Konverter heute ein?«

»Das kann warten, bis wir Strom haben.«

»Was soll das heißen?«

»Was das heißen soll, Bursche«, murrte Rhombus und trat beiseite, damit Paul freie Sicht auf den Benzingenerator und die galvanischen Säulen hatte, die gesplittert und ohne Säure im Schlagschatten der Flak standen. »Da kriegen wir doch kein Volt mehr raus.«

»Ist der Generator kaputt?«

»Nein, aber mit dem bisschen Benzin …« Der Alte wandte sich dem Gestänge zu, an dem er die lockeren Muttern festzog. »Reich mir die Ölkanne, Junge.«

Schweigend reparierten sie die gröbsten Schäden, bauten die Zahnräder ein, schraubten eine Konsole fest und lose Stahlplatten, ehe Rhombus das Werkzeug sinken ließ: »Ich kann nicht mehr stehen«, sagte er müde und wies auf die Brüstung nahe den Gemüsebeeten. »Wir haben uns eine Pause verdient.«

»Erzählst du mir vom Teutonium?«, fragte Paul, der neben ihm ging, sobald Rhombus eine Pfeife und Stopftabak aus dem Waffenrock gezogen hatte. »Es wurde im Krieg benutzt, richtig?«

»Woher weißt du davon?«

»Aus deinen Büchern«, sagte Paul verlegen und neigte den Kopf, zerstrubbelte sein kurzes blondes Haar. Er musste aufhören, solche Sachen auszuplaudern. Das gab nur Ärger …

»Hatte ich dir nicht verboten, meinen Raum zu betreten? Warum schließe ich wohl ab?« Langsam, um sein Bein zu schonen, ließ Rhombus sich auf einem Betonstein nieder. »Da sind Dinge drin, die dich nichts angehen!«

»Na gut, aber –«

»Das Teutonium«, schnaubte Rhombus verächtlich. »Dieses Teufelsmetall. Aber ich glaube, so langsam bist du alt genug, ein wenig mehr zu wissen.«

Was er wohl zu hören bekam? Neugierig setzte sich Paul in den Schneidersitz zu seinen Füßen. »Lisa, willst du herkommen?«

»Ich kriege schon alles mit«, antwortete sie, während sie eine fluoreszierende Blume von einem Topf in den nächstgrößeren verpflanzte.

Sie lächelte zufrieden.

Mit dem Daumen drückte Rhombus etwas Tabak in den Pfeifenkopf, dann entfachte er ein Zündholz, hielt es tiefer – und saugte am Mundstück, bis die Glut aufknisterte. Er blies den schweren Rauch durch die Nase, schloss träge die Augen.

»Am Ende des letzten Jahrhunderts wurde es zufällig von einem Geologen entdeckt. Im Boden schaut es aus wie gewöhnliches Erz. Kippt man beides in den Hochofen, entsteht nur das stinknormale Roheisen ohne spezielle Eigenschaften. Kannst du mir folgen, Bursche?«

Paul nickte. Dann schob er die Handflächen seitlich, um den Rücken abzustützen, und schaute den Alten an.

»Man braucht also Teutonium in Reinform, ohne Verunreinigungen durch andere Metalle – und auch ein anderes Schmelzverfahren, das seine wahren Kräfte weckt. Und jetzt willst du sicher wissen, welche das denn sind …«

»Spann mich nicht auf die Folter«, sagte Paul. Seine Wangen glühten. »Was war so Besonderes daran?«

»Du kennst doch Magneten? Ich hab dir mal einen gezeigt. Das Teutonium ist ähnlich, nur viel, viel stärker: Ein, ja, unsichtbares Feld schwebt über dem Metall – es fühlt sich wie ein Luftpolster an; nur mit ruhiger Hand kann man hindurch greifen und die Oberfläche anfassen. Aber wenn man es mit Kugeln oder einer Granate beschießt, prallen die Geschosse einfach davon ab … paff! Ein hübsches Feuerwerk gibt das; und mit Quarz gemischt kann man sogar Fenster draus machen.«

Paul zog Luft durch die Zähne und pfiff. »Du meinst …«

»Jawohl«, bestätigte der Alte, setzte die Pfeife an und rauchte. »Erst haben sie Flugzeuge gebaut, um den Flakkanonen eins auszuwischen. Unsere Hübsche hier, die war Altmetall, als der erste Teutoniumbomber kam, um seine Fracht abzuwerfen. Phosphor, schreckliches Zeug. Das Gerberviertel ist abgebrannt damals; man konnte die Feuer nicht löschen.«

Rhombus setzte die Pfeife ab.

»Na, so richtig schlimm ist es aber an der Front gewesen. Die alten Kriegswaffen aus Stahl haben wir ja noch geknackt, aber als dann Artillerien und auch die Tanks aus Teutonium waren … Um diese Monster zu kriegen, musste man schon dicht ran: denen auf den Pelz rücken und fettbeschmierte Haftgranaten anbringen, sonst half da nichts; die Tellerminen im Boden noch, auch wenn oft nur die Panzerketten zerbrachen. Ein feines Morden hat das gegeben, mein Junge; so viele Soldaten, die bei den letzten Großangriffen auf den Feldern totgeschossen wurden, nur um ein paar lumpige Maschinen zu sprengen. Da grub man sich lieber ein wie ein Maulwurf und blieb im Schützengraben hängen, bis sich dann überhaupt nichts mehr regte. Furchtbar ist das gewesen. Stille über dem Land. Sie haben zwar neues Spielzeug für uns Soldaten gemacht, ein Panzerhemd aus Teutonium oder gleich die Büchse, wie sie im Graben hieß, eine Art Ritterrüstung. Weißt du, was das ist?«

»Die kenne ich«, sagte Paul, der auf seinem Hintern hin und her rutschte. »Standen in Burgen herum.« Wo hatte er die gesehen? In einem Märchenbuch?

Rhombus schnaufte. »Der modernste Krieg, den die Welt gesehen hat, und wir, die Frontschweine, stapften im Harnisch durch die Bombentrichter. Ein Witz war das! Und nutzlos obendrein, weil einen das schwere Gerät in den Schlamm runterzog oder Schrapnelle zwischen die Platten pfiffen; und wenn erst Feuer oder Ätzgas wehte …«

Ehe er weitersprach, ließ Rhombus seinen Blick über die Plattform gleiten: Lisa hatte die Gemüsebeete verlassen, um Kleidung von einer Leine zu holen; neben dem Wäschekorb spielte Ludwig mit einer alten grauen Wollsocke.

»Nun ja, wie dem auch sei. Eine Weile blieben die Fronten wie eingefroren, bis der Feind uns endlich das Remis anbot, wie man beim Schach so sagt, wenn es keinen Sinn hat, die Partie überhaupt noch weiterzuspielen. Tja. Und ohne Sieger war der Krieg dann vorbei gewesen. Meine Güte, was haben wir Soldaten geflucht: tausende Kameraden verloren, für nichts und wieder nichts. Alle tot. Das war schon was …«

»Erzähl mir doch mehr«, bat Paul, weil Rhombus eine Weile nur schweigend dagesessen hatte, dicke Wolken paffend, bis das Kraut ganz verkohlt war. »Wann wurden die Kuppeln gebaut?« Kurz warf er einen Blick nach oben: Kaum Licht drang heute durch die Asche. An manchen Tagen fiel Kondenswasser, das sich an den Scheiben sammelte.

»Ach, das willst du auch noch wissen«, murrte Rhombus und klopfte Asche aus dem Pfeifenkopf, worauf er neuen Tabak aus der Dose zupfte. »Bloß weil du gestern den Orden gekriegt hast, glaub nicht, dass ich dir alles hinlege.«

»Aber ich will es jetzt hören«, drängte Paul und setzte sich aufrecht hin. Nie erklärte der Alte etwas: Warum die ganzen Leute tot waren, seine Eltern und alle, und weshalb sie das Lichtwerk bauten. Gemein war das!

»Bengel, ruhig. Das ist zu schwer für dich.«

»Denkst du, ich bin dumm?« Paul klang, als ob er Treppen hochgerannt wäre. »Der kleine blöde Junge, der immer deine Sachen herholt. Aber weißt du was? Das will ich gar nicht mehr machen!« Er schluckte, als ihm die Tränen kamen; schnell mit dem Ärmel abgewischt.

»Schon gut, Paul.« Unbemerkt hatte Lisa die Wäscheleine verlassen und stand nun dicht bei ihm, den Korb an ihren Bauch gedrückt. Zu Rhombus gewandt, sagte sie: »Du hast doch selbst gesagt, dass er groß genug ist.«

»Zu schwierig, Mädchen.«

»Ist es nicht. Und das weißt du auch.«

Rhombus ließ die Schultern hängen.

»Komm schon«, sagte Lisa lächelnd und stupste ihn mit dem Knie an. »Jetzt gib dir einen Ruck.«

»Nun denn.« Das Auge klackerte im Gehäuse, sobald er Paul, dann Lisa ansah: Beide nickten ihm aufmunternd zu. Also schob er seine Pfeife in den Mund, holte ein Zündholz aus der Tasche – und nachdem der Tabak brannte, fuhr er fort: