Maschinenkinder

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»Zähneknirschend wurden die Fronten geräumt, und wir sind nach Hause. Ein paar traurige Paraden haben sie abgehalten, ein paar Denkmäler gebaut, und dann kam der Wiederaufbau. Dem Feind hatte man nicht viel zu sagen, es gab ja keinen echten Verlierer, und so musste auch niemand auf gut Wetter machen und Kriegsschulden tilgen oder den Witwen und Waisen das Brot in den Rachen stopfen. Natürlich war der Zorn noch lange nicht weg, auch wenn der Kaiser und die Herren Generäle von Reue und Frieden daherschwafelten, aber im Volk brodelte es ganz gewaltig: Nach Rache und Vergeltung schrien sie in den Wirtsstuben und schlugen mit der Faust auf den Tisch. Die Ehre retten! Aber keiner wusste, wie das angehen sollte … Der Krieg hatte sich selbst aufgefressen.«

»Das war ganz leicht«, strahlte Paul und schnipste mit den Fingern, um den Hund herbeizurufen – und Ludwig trottete los, die zerfetzte Socke im Maul.

Rhombus schaute verärgert drein. »Sei still und stell die Lauscher auf.«

»Aber ich hab doch bloß –«

»Und dann!«, Rhombus Mundwinkel zuckten, »ging eines Tages das Gespenst von der Bombe um. Die ganzen Gerüchte, auf die man natürlich nichts gab, alles nur Waschweibgeschwätz und feindliche Propaganda, was auch immer; machte den Leuten trotzdem eine Heidenangst. Sie sollte anders sein als alle anderen Waffen, die wir kannten; könne die ganze Welt aus den Angeln heben, mit einer rätselhaften Kraft, vor der man selbst im tiefsten Bunker nicht mehr sicher ist. Alsbald tauchten Photographien auf, unscharfe Bilder, die unter der Hand herumgezeigt wurden, von Industrien und diesen neuen Raketenstützpunkten, wo sie angeblich hergestellt werden sollte. Dann stand es in der Zeitung und kam im Rundfunk, und plötzlich war es offiziell: Der Feind baute eine Überwaffe, um uns mit einem gezielten Schlag ein für allemal auszulöschen und –«

»… dann wurden die Kuppeln gebaut!«, platzte es aus Paul heraus; er schlug die Hände vor den Mund.

»Unterbrich mich nicht, verdammt noch eins«, donnerte Rhombus, dass Paul den Kopf einzog. »Weh dir, du spielst mit deinem Leben, Freundchen.«

»Du alter Griesgram.« Lisa kicherte leise, presste den Korb an die Hüfte.

»Ihr raubt mir den letzten Nerv, ihr zwei.«

»Ist dir nicht gut?«, wollte sie wissen.

»Mein Bein, es schmerzt so.« Rauch quoll aus seinem Mund, als Rhombus den Pfeifenstiel herauszog. Er räusperte sich. »Ob es jetzt vorausschauend oder weise war oder ob unser Kaiser einen Hau weg hatte, unsere Städte unter die Kuppeln zu zwingen, kann es nicht sagen. Schließlich hatten die meisten vom Krieg einen abgekriegt und waren nicht mehr ganz bei Trost, wenn ihr wisst, was ich meine – mehr Verrückte, als man hätte zählen können. Jedenfalls wurden die Reserven mobilisiert. Und eines Tages stand eine riesige Bauarmee vor unserer Tür, mit ihren Stahlgerüsten und Kränen. Und dann kamen Laster auf Laster, die Teutonium und Glasscheiben herbrachten. Als ob ein Ameisenstamm auf Wanderschaft wäre, könnt ihr euch das vorstellen? Die zogen von Stadt zu Stadt, krempelten Fabriken und Stahlwerke für ihre Zwecke um; nahmen alles Metall, das sie finden konnten, natürlich auf Geheiß des Kaisers! Frontschweine, von schwersten Gefechten gezeichnet, und dazwischen Ingenieure und Schweißer und ein ganzes Heer aus Schwerstarbeitern. Auch Kriegskrüppel waren dabei, zusammengeflickt mit diesen neuen Prothesen, die man an den Muskeln und Nerven festlöten konnte: Zinnsoldaten; stark wie Riesen, aber so kalt wie Maschinen.«

»Wahnsinn«, stieß Paul hervor. »Das hätte ich gern gesehen.« Er fand es schade, dass er so spät geboren war, nach dem Krieg, den vielen Abenteuern.

Rhombus nickte. »Und wie schnell sie die Kuppel spannten, dieses riesige Ding. Aber sie waren auch grob, fraßen unsere Vorräte weg, rissen alles an sich, was ihnen nütze schien. Es kam zu kleineren Aufständen, die wir als Miliz auflösen mussten. Die meisten Bewohner haben aber mit angepackt, auch bei den Brunnen für das geschlossene Wassersystem und —«

»Was … was ist?« Paul warf einen Blick über die Schulter – und da sah er, wo der Alte hinstarrte und was auf sie zukam: ein zäher, eisblauer Dunst, wabernd, zerfließend wie Tiefseequallen. Sporen! Giftig!

»Auch das noch.« Rhombus zerrte sich hoch, schwankte. »Die Propeller an, Junge, jetzt lauf schon. Und du deckst die Pflanzen zu, schnell.«

Polternd hatte Lisa den Korb fallen gelassen und war losgerannt, um die Beete mit einem Tuch zuzudecken. Paul überholte sie. Als er zur Brüstung kam, wo der kleine Motor stand, riss er das Anlasserseil zu sich, einmal und noch mal, damit die Maschine stotternd ansprang. Die Propeller begannen zu rotieren, quietschten, wurden schneller, dann sogen sie den Sporennebel zu sich heran, teilten ihn, bündelten ihn zu festen Luftströmen, die quer über die Plattform zur anderen Seite abzogen.

Obwohl beide klein genug waren, hielten sie den Kopf gesenkt; auch Rhombus duckte sich unter den Schwaden hinweg, während er zu seinem Werkzeugkasten humpelte und den Deckel aufschlug und drei Gasmasken herausholte, die er ihnen brüllend hinhielt; aber die Propeller waren so laut, dass sie seine Stimme übertönten. Erst als sie hinrannten, um ihm die Masken abzunehmen, am Gummi rissen, sie überstülpten, konnten Lisa und Paul ihn dumpf verstehen:

»Schaut im Haus nach, ob wir Löcher von den Beben gekriegt haben. Ich komme nach!« Worauf er seine Maske überzog und einen großen Kanister holte, den er zur Brüstung weiterschleppte.

Er fluchte.

Gleichzeitig flitzten beide los, der Hund blieb zurück – die Stufen abwärts, eine Treppe, eine zweite, bis sie die Hintertür erreichten, aufschlugen; eintraten. Hinterm Fenster konnte Paul den Nebel sehen, der zur Flak hochzog, angesaugt von den Propellern; ihr Lärm drang nach unten, dazwischen das schwere Pumpen des Motors.

Auf dem Tisch zuckte das Kerzenlicht.

»Scheint alles dicht«, schnaufte Lisa und holte so tief Luft, dass die Atempatrone zischte. Durch die Rundgläser sah Paul, wie ihr der Schweiß in die Augen rann. Sie blinzelte. »Wir sollten trotzdem nachsehen.«

»Und die Kammer?«, fragte Paul, der den Rücken durchbog: Seitenstechen. »Ich weiß, wo heute der Schlüssel ist.« Der Alte nutzte immer dieselben Verstecke …

Ohne Antwort sprang er zum Ofen, wo ein Berg aus Töpfen lag; von einem kleinen stieß er den Deckel beiseite, fischte den Schlüssel heraus, rannte zur Tür und öffnete sie:

Ein fensterloser Raum, mit Brettern verkleidet. Keine Bilder an den Wänden, auch kein Regal, alle Bücher waren neben das Feldbett aufgestapelt: Bände über Elektronik und Astrophysik. Noch eine Kommode, ein Sekretär, auf dem ein Einmachglas stand, mit Leuchtkäfern drin, und eine offene Patronenkiste, in der Rhombus seine Kleidung aufbewahrte.

Zögernd setzte Paul einen Fuß über die Schwelle – dann, mutiger, kletterte er aufs Bett und suchte Ecken und Rückwand ab. Weil er keine Löcher fand, drehte er sich auf den Po und ließ die Füße baumeln; erst verschnaufen; wobei ihm ein hölzerner Standrahmen auffiel, den er noch nie gesehen hatte.

Er griff danach.

Die Photographie war älter und an den Rändern verfärbt. Sie zeigte einen jungen Mann, winkend vor einem Fesselballon, der gerade zum Himmel aufstieg. Ringsum Schaulustige: Männer im Anzug, schwarz und mit Hut; die Damen in weißen Kleidern.

Die Sonne schien.

War das Rhombus? Im Schatten konnte Paul das Gesicht kaum erkennen, und so stand er auf, wollte nach dem Einmachglas greifen, doch Lisa war schon hereingekommen und stellte sich dazwischen. »Was machst du denn da? Wenn er spitzkriegt, dass du seine Sachen wegnimmst …«

»Ist er das?«, fragte Paul ungerührt und trat beiseite, um sich an ihr vorbeizudrücken.

»Geht dich nichts an. Gib her.« Sie packte das Bild – doch er riss es ihr aus den Fingern, die über das Glas quietschten. Kurz rangelten sie miteinander, Paul, im Schwitzkasten, hielt den Rahmen weit von sich gestreckt, ehe Lisa sich ganz auf ihn drauf warf und beide stolperten und umkippten:

Rücklings prallte er gegen das Bettgestell, ihre Maske traf sein Augenglas, das splitterte, aber nicht brach – und Sterne schossen durch seinen Kopf wie Feuerwerksraketen, danach explodierte der Schmerz, und brüllend schälte Paul das Gummi vom Gesicht ab: »Geh runter von mir!«

»Das … das wollte ich nicht«, stammelte Lisa, die hastig zur Seite plumpste. »Blutest du? Oh nein, du blutest.« Sie holte ein Schnupftuch aus der Tasche, zerknüllte es, drückte es ihm auf die Schläfe.

»Aua, nicht so fest«, knurrte Paul und wehrte sich. »Blöde Kuh!«

»Still jetzt. Leg den Kopf nach vorn.«

Dabei fiel sein Blick auf den Rahmen, den er beim Sturz verloren hatte: zum Glück, das Glas war noch heil – nur die Fotografie verrutscht; und darunter klebte ein zweites Bild, das unter dem ersten versteckt worden war:

Auf demselben Flugfeld stand eine junge Frau, die Hand zum Gruß erhoben, die andere auf einen Sommerhut gelegt, damit er nicht davonsegelte. Der Ballon wurde noch mit Sandsäcken beschwert, stattdessen schoss ein Propellerflieger im Tiefflug vorbei und wirbelte den Staub auf.

Der Himmel, dieser endlos weite Himmel.

Paul dröhnte der Kopf; und ein Druck im Bauch, als würde er fallen, herabtrudeln in die grelle, wolkenlose Fläche, um dann einen Bogen zu fliegen, die Tragflächen hochzureißen und durchzustarten, zur Sonne hin, näher, immer näher heran …

Ihm wurde schwarz vor Augen.

Außer der Kerze brannte kaum Licht; auch der Kamin war kalt. Sie saßen am Tisch, aßen eine Brotsuppe, die Lisa mit Leuchtpilzen gestreckt hatte: Ein geisterhafter Schein glänzte in ihren Augen; und Rhombus’ Gesicht, von unten bestrahlt, wirkte finster und alt, mit tiefen Falten gezeichnet.

 

Keiner sagte ein Wort.

Während sie ihre Teller leer löffelten, schaute Paul aus dem Fenster: kein Nebel mehr, der sich verflüchtigt hatte; sie hatten die Propeller abgestellt. Er betastete seine Schläfe, auf der ein großes Pflaster klebte, sie tat noch immer höllisch weh; dann griff er nach der Kelle, wollte sich einen Nachschlag einschenken, als Rhombus das Schweigen jäh unterbrach:

»Einen Knall hörten wir nicht von der Bombe, nur ein ohrenbetäubendes Brausen, bis der Stromwind die Kuppel erreichte und seine Blitze über die Scheiben peitschten, manche so dick wie ein Arm. Drinnen, bei uns, kühlte sich die Luft schlagartig ab. Eiskalt, dass einem der Atem auf den Lippen gefror. In Panik liefen die Leute los, suchten Schutz in den Kellern und Bunkeranlagen, und da ging ein Ruck durch die Stadt, alles verschwamm vor den Augen, die tränten, als hätte man Gas reingekriegt. Es roch nach verschmorten Kabeln und Äther. Ich packte meine Frau am Ärmel, zerrte sie die Treppen der Stadtwache runter, wo wir ein Notlager eingerichtet hatten, mit Rationen, Wasser und einem Telegraphen für den Lagebericht, und plötzlich, ich schaute zurück, weil ich den Stoff ihres Kleids nicht mehr spürte – und da war sie einfach verschwunden. Weg! Wie vom Erdboden verschluckt. Ich machte kehrt, die Stufen hoch, weil ich dachte, sie könnte raus gerannt sein, doch ich fand sie nicht wieder, weder oben noch auf der Straße, die völlig ausgestorben schien. Und kein Geräusch, nichts. Im Dunkeln, weil schon Asche auf dem Kuppeldach lag, habe ich Haus für Haus und Bunker für Bunker abgesucht, aber dort war keiner mehr. Alles verlassen. Alle fort … bis auf euch beide.« Er reckte das Kinn, presste die Lippen zusammen.

Erst jetzt goss Paul die Suppe in den Teller; davor hatte er reglos gewartet, den Kellenstiel lose in der Hand. »Wo sind wir gewesen?«, flüsterte er.

Zu seiner Überraschung gab Lisa ihm Antwort: »Meine Eltern hatten die Koffer gepackt und im Salon abgestellt. Das Grammophon spielte noch – schnell mussten wir das Haus verlassen, ich aber bin rauf ins Kinderzimmer, um meine Puppe zu holen, die auf dem Bett lag. Als ich runterkam, die Treppe hat gezittert und es war ein Geknalle wie von Schwefelböllern, stand unser Gepäck allein im Raum. Sofort bin ich raus auf den Hof, vielleicht stiegen sie ins Automobil ohne mich, doch niemand war da, weder Mama noch Papa und auch der Hund nicht. Dann bin ich weiter gerannt, auf die Straße … und fast über dich gestolpert. Du lagst mitten auf dem Bordstein. Erst lief ich an dir vorbei, ich hatte so Angst, aber ich hab kehrtgemacht nach ein paar Metern und dich aufgehoben und mit mir getragen; warum, weiß ich nicht mehr. Ach, warst du schwer! Bis zum Hoftor konnte ich dich noch weiterschleppen, dann wurden meine Knie weich und ich hab mich einfach auf den Boden gesetzt und geweint und nach meinen Eltern gerufen – wie lange, kann ich nicht sagen, nur dass es dunkel wurde um uns rum.«

Sie schaute Rhombus an, der ihr zunickte:

»Und dort fand ich euch schließlich, und seitdem sind wir beisammen.«

Mit einer Hand schob Paul den Teller von sich weg. Er dachte nach. »Ich wüsste so gern, wer meine Eltern waren«, sagte er leise. »Und wieso sind alle tot, außer uns?«

»Das ist verdammt schwer zu erklären«, antwortete Rhombus und stapelte den Teller auf seinen.

»Bitte«, flehte Paul. »Erzähl es mir endlich.«

Als Lisa den Tisch abräumte, holte Rhombus einen Stift und einen Block aus seiner Kammer und begann darauf zu zeichnen – viele kleine leere Kreise. »Die Bombe hat nicht nur das Land draußen zerstört«, erklärte er, »sie hat die Wirklichkeit auseinander gesprengt. Aus einer einzigen Welt, aus unserer Welt mit unserer Zeit, sind viele weitere geworden, jede für sich abgeschottet von den anderen.« Er tippte auf einen Kreis. »Weißt du, ich glaube nicht, dass die Menschen beim Angriff gestorben sind. Vielmehr ist es wohl so: Hier sind wir, wir drei, und vielleicht noch wenige Menschen mehr, außerhalb der Kuppel, in einer anderen Stadt.« Er tippte auf einen zweiten. »Und hier sind wieder welche drin, möglicherweise eure Eltern, meine Frau oder der Bürgermeister, eine Gruppe von Zinnsoldaten, wer weiß.« Die Spitze des Bleistifts sprang von Kreis zu Kreis. »Und hier sind welche, und hier drin auch und da und da … Verstehst du?«

»Weiß nicht so recht«, flüsterte Paul, der gebannt auf die Kreise starrte. Was malte der Alte da?

»Junge, ich sagte doch, dass es schwer ist. Also streng dich an!« Rhombus kritzelte Pfeile aufs Blatt. »Aber diese Welten, sie bewegen sich, mal aufeinander zu, mal voneinander weg. Je näher sie sich kommen, desto stärker wird die Phase, bis ihre Ränder sich kurz berühren, dann stoßen sie sich wieder ab wie Magneten … und die Beben werden schwächer. Aber da ist noch etwas …« Grob füllte er den weißen Zwischenraum mit schnellen Strichen aus; auch Lisa sah ihm dabei zu.

»Dort, wo jetzt schwarz ist, klafft eine ganz andere Welt wie ein tiefes dunkles Loch. Eine Zwischenwelt, eine … Geisterwelt, die mit unserer nichts gemein hat. Und fremde Wesen leben darin, du kennst sie: Feuerfalter, Würmer und diese Geistervögel. Fremde Pflanzen auch, wie die Pilze, die Lisa oben in der Holzkiste züchtet. Sie gehören nicht hierher. Das sind bloß Vermutungen, obwohl ich viel gerechnet habe in den letzten Jahren. Ich glaube, als die Bombe zündete, hat sie einen großen Riss gesprengt, durch den die Geisterwelt zu uns hereingequetscht wird, wenn die Phase näher rückt – verstehst du, wie Schuhcreme aus einer Tube. Hoffen wir also, dass nichts Schlimmeres durchbricht als diese verdammten blauen Sporen. Junge, was ist?«

Pauls Schultern zitterten.

Rhombus’ Worte hatten ihn so aufgewühlt, dass er nicht mehr auf dem Stuhl sitzen konnte. Er sprang auf. »Dann sind sie also gar nicht gestorben?«, stieß er hervor, während er langsam zurückwich, weg von ihnen, rückwärts zur Haustür. »Ihr habt mich angeschwindelt! Miese Lügner seid ihr.«

»Junge, du kapierst nicht ...«

»Oh doch, ich kapiere sehr wohl!«, brüllte er und hatte die Klinke schon in der Hand. »Meine Eltern leben, und ihr habt gesagt, sie sind tot. Ich hasse euch!«

»Ruhig, Paul. Lass es dir erklären.« Lisa legte das Spültuch beiseite und kam auf ihn zu, doch Paul wandte sich ab, schlug die Tür auf und stürzte hinaus, ohne sich umzudrehen, die Treppen runter. Unten, auf den letzten Stufen, breitete er seine Arme aus, rannte, so schnell er nur konnte – und sprang, wobei er das Geräusch eines Propellers nachmachte. Wegfliegen! Fort von hier. Alles hinter sich lassen.

Beim Landen verlor er einen Schuh; knickte mit dem Fuß weg, fiel auf die Knie, dann auf die Hände.

Tränen brannten in seinen Augen.

Ohne Laterne, dafür war ihm der Hund nachgefolgt, löste Paul das Boot vom Steg und paddelte in die Nacht hinaus. Nie wieder wollte er umkehren, nie mehr.

Beidseits des Kanals wuchsen Feuerbeeren, hier und dort, winzige Leuchtmarken, und so konnte er Kurs halten, obwohl das Wasser tiefschwarz war. Die feuchte Luft ließ ihn schwer atmen, weil die Häuser näherrückten: ein Grabgeruch zwischen den engen hohen Wänden – die Erdgeschosse überflutet, Möbel und Teppiche verfault, die Tapeten verschimmelt; loses Geschirr am Grund verstreut. Auf Augenhöhe sah Paul einen Kronleuchter hängen; und da war ein Porträt, von eisblauem Moos befleckt: ein Geistergesicht; und es gruselte ihn so sehr, dass er schneller paddelte.

In der Stille hörte er Wasser tröpfeln.

Je weiter er in die Schatten vordrang, desto dunkler wurde es ringsum; noch glühten ein paar Beeren, aber dann wurden die Ufer schwarz, als hätte ein Gas alles Licht erstickt.

Paul hustete.

Er machte Rückwärtsschläge, um das Boot zu bremsen. »Runter mit dir, du Faulpelz«, sagte er zu Ludwig, der auf der Munitionskiste döste; und der Hund trollte sich, kletterte unter das Dollbord, wo er sich schnaufend hinlegte. Eins der Wolfsaugen glänzte, verschwand.

Von oben drang noch ein Schimmern durch die Asche, ein kleiner, glühender Riss – plötzlich verblasst wie ein Glühdraht ohne Strom, und Paul sah die Hand vor Augen nicht mehr, als er die Kiste öffnete und ihren Inhalt durchwühlte: Verbandszeug. Eine Schere. Ein Lappen. Draht. Eine Leuchtpistole. Und die Phosphorstäbe, nach denen er gesucht hatte.

Es war stockfinster geworden.

Vorsichtig nahm er eins der Glasröhrchen heraus, knickte die Plombe ab und wartete, bis die chemische Reaktion begann: Lautlos ging der Phosphor in Flammen auf. Paul zählte bis drei, ehe er den Stab im hohen Bogen zum Ufer warf. Ein Klirren, ein Splittern. Worauf Feuerschein auf den Fassaden tanzte.

Am Ende der Häuserreihe gabelte sich der Kanal und floss zum Marktplatz, dahinter lagen die Katakomben, der Echosee – und rechts entlang zum alten Bahnhof, der höher gelegen und trocken war. Da Rhombus ihm aufgetragen hatte, nach Benzin zu suchen, ließ er das Boot auf den dunkleren Seitenarm zudriften. Ob der Alte seine Eltern herholen konnte, überlegte er, aus den Kreisen zwischen den Strichen? Wurde dafür das Lichtwerk gemacht? Funktionierte die Maschine überhaupt? Oder war das alles bloß ein Schwindel?

»Miese Lügner«, zischte er, wieder zornig auf beide. Nein, er würde nicht umkehren, sondern eine eigene Hütte bauen, irgendwo in den tiefsten Schatten. Sie würden ihn nicht finden. Dann konnte er Pilze züchten und nach Konserven suchen; außerdem war Ludwig bei ihm, er hatte also einen Freund.

Doch erst wollte Paul etwas nachprüfen …

Kräftiger zog er das Paddel durch, steuerte das Boot unter Rohren hindurch, die einst zum geschlossenen Wassersystem gehörten, aber längst verrostet und aufgebrochen waren: Aus den Löchern sickerte eine stinkende Brühe.

Der Kanal weiterte sich, bis er mit dem Vorplatz des Bahnhofs verschmolz; alles war meterhoch überflutet – die Hallen und Lokschuppen ringsum umschlossen ein Becken, in dem sich das Treppenportal spiegelte; noch höher die gläsernen Pforten. Das ganze Gebäude erweckte den Eindruck, als wäre es eine Gartenlaube von riesigen Ausmaßen. Innen ein rötliches Licht.

Nochmals warf Paul einen Leuchtstab zum Ufer, der aber nicht weit genug flog, sondern ins Wasser fiel und versank wie ein Stern, hell funkelnd … Kurz tauchte am Grund eine Trambahn auf, die auf ihrem Gleis schlief, unten, in der grünen Tiefe.

Und Schwärze.

Nach einem langen Schlag ließ Paul das Boot ausgleiten und kletterte von Bord. Sein Fuß schmerzte, als er auftrat, der Knöchel war geschwollen. Trotzdem packte er ein Tau, zuerst mit einer, dann mit beiden Händen, zog das Boot unter eine Gaslaterne und band es dort am Pfahl fest. »Ludwig, komm«, sagte er, bevor er die wenigen Stufen hinaufhumpelte.

Hinter sich hörte er Wellen schwappen.

Der Treppe schwankte leicht.

Paul stemmte die Glaspforte auf und ließ zuerst den Hund durch, bevor er selbst den Bahnhof betrat. Wo er auch hinsah, im Gewölbe und auf den Gleisen, wucherten fremdartige Pflanzen, Unkraut, Blumen und Sträucher, die feurige Blüten trugen. Ein herber Geruch sättigte die Luft, und Paul musste niesen, als er den Fahrkartenschalter passierte, danach ein Café, dessen Tische und Stühle noch draußen standen – leere Teller, leere Tassen wie bei einer Puppenstube.

Gespenstisch.

Paul spürte einen Kloß im Hals. Flach atmend blieb er stehen, um einen Baum zu betrachten, der mitten auf dem Bahnsteig wurzelte. Schwere, glutrote Früchte hingen an den Ästen. Seit seinem letzten Besuch hatten sich die Pflanzen stark vermehrt, anscheinend wirkte die Halle wie ein Gewächshaus, obwohl es hier drin weder drückend noch feucht war.

Während Paul vorwärts ging, ließ er den Blick bis zum Abstellgleis schweifen, wo noch ein Güterwaggon allein im Schatten stand: Seine Räder und Puffer wurden von eisblauen Ranken überwachsen – und auch die Fracht war unter Blättern und Zweigen versteckt, als hätte jemand ein Tarnnetz darüber gelegt: Kriegspanzer hatte der Waggon geladen, mit wuchtigen Feuerrohren, die zum Glasdach aufragten.

Schon früher war Paul auf ihnen herumgeklettert, hatte in die seitlichen Kanonen gespäht und versucht, die Einstiegsluken zu öffnen; heute wollte er nicht spielen, sondern das Metall anfassen. Deshalb humpelte er zu einer Trittleiter, stieg den Güterwaggon hinauf, streckte die Hand vor – und da fühlte er das feine, unsichtbare Feld, das über der Armierung schwebte. Wie ein Luftpolster, tatsächlich. Vielleicht stimmte dann auch der Rest: das mit den Zinnsoldaten und der Bombe; und dass seine Eltern noch lebten und —

Ludwig, der eben noch friedlich an einem Rad geschnüffelt hatte, bellte plötzlich laut, winselte und heulte, wobei er ruhelos umher lief.

 

»Was ist?«, fragte Paul. »Gefahr?«

Und wie zur Antwort wurde der Bahnhof von einem Beben hart getroffen; Gleise und Pflanzen, der Waggon und die Tanks – alles verschwamm vor den Augen.

Der Boden rumorte.

Wankend verließ Paul die Leiter, machte kehrt, als ein zweites, noch stärkeres Beben das Gewölbe vibrieren ließ: ein kristallklarer Ton, gleich einer Opernstimme, die sang, ehe Risse durchs Glas sprangen.

So schnell er nur konnte, hinkte er den Bahnsteig hinab, bog ab, links entlang, die Halle runter; stolperte, vom Beben fast umgeworfen, fiel aber nicht hin. Dann barst das Kuppeldach mit lautem Knall, und Splitter und Scherben prasselten auf die Gleise, messerscharf wie Schrapnellgeschosse – Wolken aus Glas, als sie am Boden zerspritzten und Paul und den Hund zum Café weiter trieben, wo sie Schutz hinter einem Korbsessel fanden.

Ins Getöse mischte sich ein neues Geräusch, ein Zischen, dann pfeifend und schrill, als würde eine Dampflok einfahren, doch war es kein Zug, der in den Bahnhof kroch, sondern ein monströses Ding, amorph und sternenschwarz, einer Schlange ähnlich, die ganze Häuser verschlang. Und was Paul darin sah, ließ ihn erstarren; er stöhnte. Reglos schaute er zu, wie der Schlund sich weit öffnete: ein Tunnel zu einer anderen Welt, an dessen Ende eine fremde Landschaft lag, ein Wald aus Pilzen, die blauen Lamellen so groß wie Zeppeline.

Und ein glühender Himmel.

»Ich träume«, flüsterte Paul, und seine Schultern zitterten.

Wie er nach draußen gelangt war, wusste Paul nicht mehr, nur dass er den Hund getragen hatte – über die Splitter und Scherben hinweg. Jetzt, mit dem Rücken zum Boot, starrte er auf den Bahnhof zurück; das Dach eingedrückt und die Säulen krumm, als wären dort Fliegerbomben gefallen.

Noch schien das Monstrum darin gefangen, aber dann, begleitet von einem mächtigen Krachen, bohrte es sich einen Weg quer durch die Fassade hindurch, inzwischen so groß wie ein Riesenrad, schwarz an den Rändern, wo Blitze zuckten, wenn es ein Hindernis fraß, eine Mauer, ein Fenster; und innen die fremde Welt. Dort wehte ein Sturmwind, der die Pilze schüttelte, und wie Dampf aus einem Rohr quollen blaue Schwaden herüber; Sporennebel.

Paul hielt den Atem an.

Hastig löste er das Tau vom Laternenpfahl, hechtete an Bord, pfiff, und Ludwig sprang rein, während er mit kurzen Schlägen das Boot wendete und rückwärts ruderte – das Ungetüm im Auge behaltend.

Der Nebel waberte hintendrein, zäher geworden; und auch das Monstrum schien träge, seitdem es den Bahnhof verschluckt hatte, als müsse es gegen einen Widerstand kämpfen. Außen krachte es wie Gewitter.

Trotzdem brauchte Paul alle Kraft, um den Vorsprung nicht einzubüßen. Seine Muskeln taten weh, und er verfluchte sich selbst: schon wieder die Maske vergessen!

Als sie das Becken überquerten und den Kanal erreichten, umfing sie die Immernacht: Im Dunkeln schien das Ungetüm noch lauter zu grollen, das, einen Steinwurf entfernt, hinter den Häusern verschwunden war.

Mist! So kamen sie nicht vorwärts: Paul musste das Boot wieder wenden, aber auch das kostete Zeit. Was sollte er –

Eine Bö zerzauste sein Haar. Erschreckt duckte er sich, hätte das Paddel fast losgelassen: Er packte fest zu, zwang den Kopf hoch – gleichzeitig fraß sich das Ungetüm zu ihm durch wie Feuer, das Papier verzehrte, und Blitze jagten über die Wände, im Zickzack die Häuserschlucht runter; hin und her, und verpufften.

Funken.

Die Luft roch elektrisch aufgeladen.

Fast hatte der Nebel das Boot erfasst, alles Rudern half nichts mehr; so sehr sich Paul auch anstrengte, der Abstand wurde kleiner und kleiner: fünfzig Meter, dann vierzig, dreißig – Ludwig, der am Bug stand und knurrte, mit Schaum vor dem Mund, schaute plötzlich nach oben, winselte, bellte, ehe der erste Geistervogel über sie hinweg schoss. Ein ganzer Schwarm war gekommen, und sein eiskaltes Raunen mischte sich ins Getöse.

In letzter Not warf Paul das Paddel hin, schlug die Munitionskiste auf, nahm die Leuchtpistole, streckte sie vor und feuerte und traf: Fauchend ging ein Vogel in Flammen auf, die Flügel brannten, während er abwärts trudelte, ins Wasser klatschte, verglühte.

Dann fiel der Schwarm über sie her.

Es waren einfach zu viele.

Paul hatte versucht, sie mit dem Paddel abzuwehren, doch schnell hing sein Hemd in Fetzen; blutige Striemen und Bisse, dass er sich schreiend hinwarf. Zusammengekauert, den Kopf durch das Öltuch geschützt, lag er im Boot und musste mit ansehen, wie Ludwig nach den Vögeln schnappte, sich schüttelte, sich krümmte, um sie vom Rücken wegzuschleudern. Auch der Hund war verletzt, sein Fell durch die Schnäbel und Krallen zerrauft.

Dahinter, so nah, dass Paul einen gigantischen Wurm ausmachen konnte, der unter den Pilzen das Erdreich aufwühlte, gähnte das Ungetüm – turmhoch über ihm, laut wie ein Dampfzug, als es in den Kanal hineinkroch. Seine Masse drückte den Nebel nach außen, die Wände hoch, und nach vorn, schob ihn vor sich her: eine Springflut aus eisblauen Schwaden, knisternd. Nur eine kurze Distanz, bis die giftigen Sporen das Boot eingehüllt hatten …

Paul schlug das Öltuch zurück. Packte das Paddel, wollte rudern, obwohl ihn noch immer die Vögel umkreisten, dann aber blitzte ein greller, perlweißer Strahl von der anderen Seite her auf. Ein Scheinwerferlicht.

Lisa schrie: »Lasst sie in Frieden, ihr Mistviecher!«

»Hilf uns«, stöhnte Paul, der einen Vogel wegschlug, bevor er sich umdrehten konnte:

Im Höchsttempo kam ihr Motorboot angebraust, direkt auf sie zu; sein Keil zerpflügte das Wasser, die Bugwelle rollte und spritzte gegen die Häuser. Lisa saß hinten, die Pinne fest in der Hand, mit der sie lenkte – in der anderen eine Pistole. Sie schoss! Der Knall donnerte durch den Kanal, drückte den Schwarm nach hinten; und auch der Nebel schien einen Herzschlag zu stocken, ballte sich, um dann rascher zu fließen: Ludwig, noch immer vorn, wurde eingeweht, gerade als er wegspringen wollte.

»Ins Boot, schnell!«, rief Lisa, während sie eine Schleife fuhr, dabei den Motor drosselte, um Reling an Reling zu bringen. »Klettert rüber. Los, macht schon!«

Ein Satz, und Paul war drin, das Paddel wegschleudernd – der Hund folgte keuchend, Schaum an den Lefzen; das Fell klitschnass vom Blut. Sofort startete Lisa durch, gab Vollgas, und im scharfen Bogen preschte das Boot davon.

Für nur einen Moment hatte sie auf das Monstrum gestarrt, das sich, gleich einer Naturgewalt, in die Stadt hineinfraß, blitzend, bebend und krachend.

Ihr Gesicht war blass vor Entsetzen.

Rhombus öffnete die Tür zu ihrer Hütte – und da standen sie, müde, zerlumpt, und verletzt; wie nach einer schweren Schlacht. Und in den Augen das Grauen.

Schweigend trug Paul den Hund zu seinem Bett; strich über das blutige Fell, bevor er die Decke drüber zog. Ludwig durfte einfach nicht sterben! Eine Träne tröpfelte von seinem Kinn.

»Kinder, was ist mit euch passiert? So redet! Erzählt mir, was los war.«

»Wir waren am Bahnhof«, begann Paul, »wo ein Monster kam und alles gebebt hat, und wir sind abgehauen. Trotzdem hat es den Kanal verschluckt, und die Sporen, die flossen aus seinem Maul, und Geistervögel haben uns angegriffen, bis Lisa uns im Boot retten konnte.«

»Junge, du faselst ja.« Der Alte verschloss die Tür. »Was für ein Monster denn? Nur die Phase wird etwas stärker, kein Grund zur Sorge.«

Matt hob Lisa den Kopf; auch sie weinte, ihr Mund bibberte. »Es kommt näher, das Biest, schwarz und ganz riesig, und es macht Blitze und poltert wie ein Gewitter. Hör hin …«