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Buch lesen: «Das Buch der Könige»

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Der deutsche Kaiser

Die Geschichte wird ihm eines unbedingt zugestehen, und daran werden auch die Nörgler der Nachwelt nicht zu rütteln vermögen: dass nämlich unter seiner Regierung die Schnurrbarte einen fabelhaften Aufschwung genommen haben. Seinem erhabenen Beispiel ist es zu danken, wenn jetzt beinahe alle deutschen Männer, die sich überhaupt leisten können, diesen hochfahrenden, jähen und drohenden Schnurrbart tragen. Solch ein Schnurrbart ist einfach ein Programm, eine sichtbar gewordene, emporgezwirbelte Gesinnung. Man kennt den Untertan, wenn man seinen Schnurrbart kennt. Er darf sich alle Worte sparen, und ein kurzes Hurra genügt, um sich mit ihm zu verständigen. Seit dem dreizehnten Ludwig hat Europa so steile Lippenhaare nicht mehr gesehen. Aber wer fragt heute noch nach König Ludwigs Bart? Solche Friseurmoden sterben mit ihren souveränen Erfindern, und wenn der Sang an Ägir nicht ebenso lange vorhält wie die Gavotte Louis' Treize, dann muss der Historiker sich nach anderen Leistungen Wilhelms II. umsehen.

Unterschätzen wir die Äusserlichkeiten nicht. Ein Mann, der sich die Haare kurz schneidet oder sie lang werden lässt, der sein Haar rechts oder links scheitelt, es glatt bürstet oder einfach zurückstreicht, will damit immer etwas sagen. Schliesslich wollen wir ja das aus uns machen, was wir für das Allerschönste halten. Und da verrät doch ein jeder, wie er sich die Sache mit dem Allerschönsten denkt. Vollends bei einem Monarchen sind Äußerlichkeiten wichtig, da er doch mit Uniformen und goldenen Knöpfen, mit Orden und Bändern, mit lauter äusserlichen Dingen Gnaden und Höflichkeiten bezeigt, und da er seinen Kopf als das Muster aller Männerköpfe im ganzen Lande abbilden lässt. Und gar erst, wie ein Mann seinen Schnurrbart trägt. Das zeigt die Dominante seines Wesens. Sein ganzes Temperament liegt darin. Habt ihr schon bemerkt, wie der schüchterne Liebhaber auf dem Theater den Schnurrbart aufdreht, wenn er seine Courage zusammenrafft, um sich zu erklären? Es ist eine psychologische Nuance. Keine von den besonders neuen oder tiefen Nuancen, aber bewährt, weil sie aus der Beobachtung des menschlichen Charakters resultiert. Nun also! Ein Mann, der seinen Schnurrbart aufdreht, ist allemal ein hochgemuter Mann. Hat man Wilhelm II. schon anders als hochgemut gesehen?

Immerhin, es ist eine Äusserlichkeit. Und das wäre doch gar zu bequem. Dieser Kaiser hat schliesslich noch andere Leistungen aufzuweisen als sein Verständnis für Haby. Zum Beispiel hat er Bismarck weggeschickt und an die Völker Europas das Ersuchen gerichtet, sie mögen ihre heiligsten Güter wahren. Dem Prinzregenten von Bayern hat er einmal hunderttausend Mark angeboten und den alten Herrn dadurch in eine der sonderbarsten Geldverlegenheiten gebracht. Den Amerikanern hat er eine Statue Friedrichs des Grossen geschenkt und den Römern ein Goethedenkmal. Daneben freilich auch der Stadt München die Schackgalerie. Den Deutschen hat er eine grosse Flotte gegeben, dazu die Berliner Siegesallee und den Dichter Lauff. Er hat verschiedene Hymnen komponiert, für Leoncavallo ein Opernlibretto geschrieben, pathetische Bilder mit Knackfussens Hilfe gemalt und sich mit der Saufeder photographieren lassen. Er hat lange Gespräche mit dem Baron Berger geführt, bei denen er freilich selbst nicht oft zu Wort gelangt sein dürfte; und er hat dann den schweigsamen Menzel zur Exzellenz ernannt. Kurz, es sind die widersprechendsten Dinge, die wir von ihm erleben. Und weil Gerechtigkeit eine schöne Sache bleibt, möchte man sich oft wünschen, es solle einer, der ihn genau kennt, die ganze Angelegenheit ins Reine bringen. Das müsste natürlich einer sein, der es vermag, auch gekrönte Menschen zu wägen und zu werten, einer, an dessen Urteil alle glauben, und er müsste uns endlich genau sagen, ob der deutsche Kaiser ein grosszügiger oder nur ein beweglicher Mensch sei, ob er seinen Impulsen unterliegt oder auf den Effekt arbeitet oder beides zusammen, ob man ihn Wilhelm den Bedeutenden nennen darf, oder ob es genügt, ihn als Wilhelm den Interessanten hinzunehmen.

Das Ganze wäre ja bei aller Kompliziertheit so schwierig nicht, wenn seine Mienen den Stempel eines hervorragenden Geistes tragen würden. Könnte man es ihm nur vom Gesicht ablesen, dass er ein grosser Mann ist, dann wäre die innere Einheit für all seine disparaten Handlungen bald gefunden. Den grossen Herrn merkt man ihm freilich an, und der biedere Frosch könnte zu ihm sagen: »Sie scheinen mir aus einem edlen Haus, Sie sehen stolz und unzufrieden aus.« Nehmt aber alles nur in allem, dann ist es ein Soldatengesicht von jenem Heroismus des Ausdrucks, der Frisur und Haltung, den Schönthan und Gustav v. Moser auf die deutsche Bühne bringen. Ein Gesicht, in dem Tüchtigkeit und ein strammer Wille geschrieben stehen. Vom Wetter und von der Seeluft völlig braun gegerbt. Ein bewegliches, munteres Antlitz, das nur zu gern lächelt und lächelnd auch sehr liebenswürdig wirkt, das aber zu einer majestätischen Herrschermiene sich zwingt. Kleine, vergnügte, temperamentvolle Augen beleben dieses Gesicht, aber ihnen wird es auferlegt, starr und streng zu blicken. Der Kaiser zieht die Brauen hoch, wenn er jemanden anspricht, reisst die Augen auf, »blitzt die Menschen an«, wie man wohl sagen soll. Untersetzt und breitschultrig von Gestalt, hält er sich in einer kerzengeraden Würde, und wie der »korsische Parvenu« ersetzt er durch überraschende Schnelligkeit, was seiner Gebärde an Adel etwa fehlt. Er hat nicht die Art der Könige, die sich beobachtet fühlen, sondern viel eher die Art der Menschen, die sich unablässig selbst beobachten, die ihre eigene Wirkung auf andere ständig kontrollieren.

Man könnte ihn, wie er des schönen Deutschen Reiches sich freut, den lachenden Erben nennen. Aber das wäre lange nicht genug. Denn Wilhelm II. ist auch ein bewundernder und er ist ein dankbarer, dazu noch ein fleissiger Erbe. Er ist der glühendste Verehrer des deutschen Kaisers, und dass er sich einmal hinreissen liess, vom chinesischen Sühneprinzen den Kotau zu heischen, hat nur in der tiefen Ehrfurcht, die er vor dem deutschen Kaiser hegt, seinen Grund. Vielleicht rührt auch sein Streben nach Vielseitigkeit, sein Ehrgeiz, sich in allen Künsten und Wissenschaften zu betätigen, nur daher, dass er glaubt, der deutsche Kaiser müsse schier ein Ausbund von Genialität und universaler Begabung sein. Jedenfalls zeigt er mit allem, was er tut, dass er eine wahre und herzliche Freude an seinem Beruf hat. Von allen Herrschern Europas ist er wahrscheinlich der einzige, der in heutiger Zeit, in der das Regieren ja ein ziemlich mühsames und oft gar nicht ungefährliches Geschäft geworden, mit Passion bei der Sache ist. Wenn man ihn beobachtet, wie er in Potsdam sein Regiment zur Kaserne führt, wie er in Berlin durch den Tiergarten reitet, wie er auf dem Subskriptionsball den Saal betritt, wenn man immer wieder gewahr wird, wie er sich wohlfühlt an seinem Platze, dann möchte man darauf schwören, dass er alle Tage, sobald er nur aufwacht, an den lieben Gott folgende Ansprache richtet: »Mein Herre Gott, ich danke dir, dass ich deutscher Kaiser und König von Preussen bin!«


Der Zar

Bin schlanker junger Mann, den man in seiner bürgerlichen Nettigkeit für einen mittleren Beamten halten könnte. Das Antlitz fein, schmal und blass. Stubenfarbe, Kanzleiblässe vielleicht. Ein bisschen Männlichkeit gibt der hübsche, lichtbraune Vollbart diesen weichen Zügen. Die hohe Stirn wölbt sich weiss unter kastanienbraunen, sauber gescheitelten und willig glatten Haaren. Von der Nase lässt sich nichts weiter sagen, als dass sie eben eine Nase ist. Sanfte, verbindlich zwinkernde Augen, an denen nur auffällt, dass sie gescheucht und ruhelos umherwandern. Manchmal beginnt er heftig zu blinzeln, als sei ihm was ins Gesicht gefahren. Er hält sich aufrecht, wiegt sich in den Hüften, hat runde, anmutige Gebärden, ohne Strammheit, und ein anmutiges, gar nicht gebietendes Wesen. Den Kopf trägt er dabei immer ein wenig geduckt, wie Menschen, die der vollen Sonne entgegenwandern, oder die einen Streich erwarten. Im übrigen erinnert auch das schüchterne Lächeln an einen Beamten, oder an sonst einen wohldisziplinierten Menschen, der um Herrengunst sich müht. Dass er selbst ein grosser Herr ist, würde ihm niemand vom bourgeoisen Antlitz ablesen. Ein grosser Herr, jawohl . . . aber beständig in der Furcht vor einem grösseren.

Unermesslich ist das Reich, dem dieser hübsche junge Mann gebietet. Erfüllt von allen Wundern und Schätzen und vom tiefsten Elend. Uns leidlich freien Europäern ist es das Land der rätselhaften Widersprüche, ist es das Kaisertum der Geheimnisse. Wir wissen nur, dass es die prunkvollsten Schlösser und die grausigsten Kerker dieser Erde besitzt. Wir wissen nur, dass seine Grenzen abgesperrt sind, damit kein Schimmer geistigen Lichtes auf das von der Macht der Finsternis bezwungene Volk falle, und dass Dostojewski dort der menschlichen Seele dunkelste Tiefen erleuchten konnte; dass ein üppiger Adel seine Reichtümer nach Menschenseelen rechnen durfte, und dass Graf Tolstoi im Bauernrock die Pflugschar durch die Äcker zieht. Wir wissen nur, dass barbarischer Aberglaube und tierische Roheit unter diesen Völkern wüten und dass die kulturfeine, moderne Seele Turgenjews diesem Boden entsprossen ist. Von unsagbarer Schergengrausamkeit wissen wir und von unendlicher menschlicher Geduld. Wir wissen, dass im ganzen Europa kein Raubgeselle, kein Dieb und Mörder geprügelt werden darf, und dass in Russland an Geist und Bildung reiche, hochherzige Männer und Frauen, edle Jünglinge und Mädchen die blutige Entehrung der Peitsche leiden müssen. Wir kennen nichts von diesem Lande, als mittelalterliche Greuel und wunderbare Heldentaten, nichts als ein paar Volkslieder von erschütternder Melancholie und bezwingender Lieblichkeit; vorragende Gestalten, unter denen die einen wie Heilige, die anderen wie reissende Bestien leben. Wir gewahren nur, wie im Verborgenen dunkle Gewalten sich mühen, das Joch der Geknechteten und Geknuteten zu sprengen, wie aus der Tiefe manchmal ein Arm emporgreift zur Höhe, den unerreichbaren Gebieter zu fahnden und zu würgen. Wir sehen Generation auf Generation in nutzlosem Heroismus sich hinopfern. Erleben es täglich, wie unerschrockene Männer ihr Blut dem Vaterlande fanatisch darbringen, . . . und was ist Mucius Scävola gegen die Jünglinge Russlands!

Und über alle waltet ein Kaiser. Unnahbar, geheimnisvoll, allmächtig, beinahe wie ein Gott. Gebietet den Prinzen und Baronen seines Reiches, wie nirgendwo ein Kaiser seinen Bauern befehlen kann. Herrscht über Hab und Gut, über Freiheit und Gefangenschaft, über Leben und Tod, und darf keiner aufstehen im ganzen Land, dem das Licht der Sonne lieb ist, und fragen: Warum? Warum, du Kaiser, hast du diesen getötet, und jenen erhöht? Warum baden deine Schergen in unserem Blut? In die fernsten Gegenden des Erdballs reicht der Wille dieses einen Mannes, und das Wort dieses einen wird gehört, wird belauscht und geachtet im chinesischen Kaiserpalast, in der Hofburg zu Wien, im Elysee und im Berliner Hohenzollernschloss, und ein Dutzend kleiner Souveräne, mitten unter ihnen den Grossherrn der Türkei, hält er mit ihrer Throne Schicksal in der hohlen Hand. Ein einzelner junger Mann, nett und bürgerlich von Ansehen, nett und bürgerlich vielleicht auch von Geist – und sein Ja oder Nein, seine Laune oder sein Impuls vermag es, das Antlitz dieser Welt zu verändern. Die übrigen Könige Europas mögen ihn beneiden um sein aufrechtes Königtum, um sein ungebrochenes Herrenrecht. Was der Zeiten Lauf ihrer angestammten Herrlichkeit abgezwungen, was sie unter den ehernen Griffen neuer Erkenntnisse verloren, das mögen sie am Zaren messen. Und wie unwiederbringlich vergangener Jahrhunderte Denkmal mag ihnen die absolute Zarenherrlichkeit erscheinen, ein Monument ihrer einstigen königlichen Unumschränktheit, die lebendige Erinnerung an jene goldenen Tage, da es noch freie Könige gegeben.

Ein schüchtern lächelnder, blasser junger Mensch, ohne Tyrannengebärde, ohne grossartige Gebietergesten. Er braucht ja den Arm nicht stolz zu erheben, wo ein Wink mit dem kleinen Finger genügt, um Millionen in Bewegung zu setzen. Dieses aber war das Leben seiner Vorfahren: dass sie Trunk und Speise ihren Lakaien und Hunden zum Vorkosten reichten, um, wenn jene in Krämpfen verröchelten, aufzuatmen, weil sie für heute Mittag dem Gift entronnen; dass sie zur festlichen Tafel schreiten wollten, und im selben Moment der Saal donnernd einstürzte, so knapp vor ihrem Eintritt, dass vor ihren Augen der Bediente, der die Türflügel aufschlug, in Stücke gerissen ward; dass die Schienen, darauf ihr Zug dahinsauste, unterminiert, explodierten, und sie in ihres Reiches Mitte auf freiem Felde verweilen mussten, umgeben von Leichen und Sterbenden, und dankbar noch, weil das Unheil jene traf, die Diener, die noch eben frisch und lebendig um des Zaren Person treu und beflissen sich mühten; dass sie, gehetzt und verängstigt, alle Bewegungen ihrer Nächsten furchtsam belauern, einmal den Adjutanten, weil er zu eilig in das Zimmer trat und mit der Hand in die Tasche nach einem Aktenstück fuhr, über den Haufen schossen, ein andermal einen jungen Offizier niederknallten, weil er auf der Treppe zu rasch nach der Mütze fuhr, den Kaiser zu grüssen, und weil der Kaiser in seinem beständigen Entsetzen meinte, der Mörder wolle zum Schlag ausholen. Das war Alexander, der Vater des Nikolaus. Der Grossvater verblutete, den Leib von Bomben zerfetzt, auf dem Strassenpflaster.