Das Biest in Dir

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Doch dann, urplötzlich, überschlugen sich die Ereignisse. Ein langgezogener, erschrockener Schrei, dicht gefolgt von einem kurzen Aufstöhnen, hallten an den Kerkerwänden wider, ohne dass sich deren Ausgangsort feststellen ließ. Gleichzeitig schien Drug mitten in der Bewegung zu erstarren. Damit jedoch nicht genug. Therry konnte ihrem in Tränen schwimmenden Auge kaum glauben, als sie sah, dass eine unsichtbare Kraft die Klaue des Grüngeschuppten langsam, Stück für Stück, nach hinten zog.

Drug schien darüber genauso perplex, denn mit einem gegrunzten: »Was zum ...«, wandte er den Kopf und blickte verwirrt auf sein massiges Handgelenk. Erst jetzt fiel Therry auf, dass ein dicker Stahlring daran befestigt war, an dem eine straff gespannte Kette in den hinteren, dunklen Teil der Zelle führte.

Ihr verbliebenes linkes Auge war, von dem Moment an, da sie den Verband abgelegt hatte, an wenig Licht gewöhnt. Somit fiel es ihr nicht schwer, in dem düsteren Kerkergewölbe etwas zu erkennen. Dennoch hatte sich ihr Blick bisher einzig und allein auf Darius und seinen monströsen Peiniger gerichtet. So sehr, dass sowohl der restliche Teil ihrer als auch deren Zelle für sie lediglich zu einem grauen Hintergrund verschmolzen waren. Umso erstaunter war Therry, als sich plötzlich eine ihr wohlbekannte Gestalt aus dem Schatten löste und auf den Ork zusprang.

»Isolandòr? Du lebst?«, hauchte sie ungläubig, jedoch überglücklich, als sie den elfischen General erkannte, der Darius nun unerwartet zu Hilfe kam. Ihre Worte gingen allerdings in mehreren kurz aufeinanderfolgenden Klatschern unter.

Drug hatte zu lang auf die Kette an seinem Handgelenk gestarrt, bis ihm klar wurde, dass wohl jemand mit aller Kraft am anderen Ende daran ziehen musste. Als er schließlich verärgert den Blick hob, um sich nach dem Übeltäter umzusehen, traf ihn bereits der erste Faustschlag direkt auf das flache Kinn. Noch bevor das Ungeheuer auf den unerwarteten Angriff reagieren konnte, folgte ein weiterer Hieb auf die nüsternähnliche Nase, sodass dickflüssiges Orkblut nach allen Seiten spritzte.

»Wenn du ihn willst, dann musst du erst an mir vorbei!«, spie Isolandòr, während er seine Faust zum dritten Mal in weitem Bogen auf die schmerzerfüllt aufheulende Kreatur zufliegen ließ. Reflexartig riss Drug sich die muskelbepackten Arme vors Gesicht und wich zurück. Dafür musste er jedoch von Darius ablassen, dessen kraftlose Beine ihn ohne den Druck von hinten nicht länger aufrecht zu halten vermochten. Somit fiel sein geschundener Körper, ein kaum vernehmbares Stöhnen von sich gebend, regelrecht in sich selbst zusammen.

Noch immer war der Kopf des Iatas unnatürlich weit nach hinten gebogen und es ließ sich nicht sagen, ob sein Rückgrat dauerhaften Schaden genommen hatte. Der Aufschlag auf den Boden hätte jedoch mit Sicherheit sein Übriges getan, wenn Therry nicht geistesgegenwärtig und ohne Rücksicht auf ihre eigenen Verletzungen nach vorne gehechtet wäre, um ihn aufzufangen. Im allerletzten Augenblick gelang es ihr, die Arme durch die engen Gitterstäbe zu strecken und Haupt und Schultern ihres Freundes nur eine Handbreit über dem Boden festzuhalten.

Kraftlos und schlaff lag sein Kopf in ihren Händen, während sie verzweifelt versuchte, selbigen sicher in ihrer Armbeuge zu betten. Da Isolandòr allerdings noch immer wie vom Taiscor gestochen auf den völlig unvorbereiteten Ork einschlug, schien es bloß noch eine Frage der Zeit, bis dieser mit seinem massigen Körper auf Darius herabfallen und ihm somit endgültig den Garaus machen würde. Nur allzu gern hätte Therry ihn aus dem Gefahrenbereich gezogen, doch mehr als ihn mit ihren Händen zu schützen, vermochte sie nicht.

»Darius, bitte sag was.« Die Tränen liefen der jungen Iatas inzwischen haltlos über das zerschundene Gesicht, während sie ihn behutsam so nah wie möglich an die im Boden verankerten Gitterstäbe zu ziehen versuchte. Da sie jedoch noch nicht einmal dazu in der Lage war, sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten, stellte das eine schier unlösbare Aufgabe dar. »Bitte, du darfst jetzt nicht sterben«, wimmerte sie und strich Darius zärtlich mit den Fingern über die Wange. Just in diesem Augenblick streckten sich zwei weitere Frauenhände kurz über dem Boden durch die Gitterstäbe und griffen nach den Beinen des reglosen Kriegers.

»Dreh seinen Kopf vorsichtig auf die Seite«, befahl Amestris, die sich ein Herz gefasst hatte und trotz der unmittelbaren Nähe zu Drug zurückgekommen war, um den beiden Menschen zu helfen.

»Verrecke, du grüne Missgeburt!«, schrie Isolandòr und ließ nach wie vor seine Fäuste gegen den Schädel der Bestie krachen. Weder seine blutenden Fingerknöchel, noch die Wunde, die er im Kampf gegen Loës davongetragen hatte, würden ihn davon abhalten, den Ork mit bloßen Händen niederzustrecken. Aber der erwies sich als standfester, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Bereits nach wenigen Herzschlägen hatte das gewaltige Ungeheuer, welches selbst ihn um mehr als eine Haupteslänge überragte, seinen ersten Schock überwunden und begann nun seinerseits auszuteilen.

Wuchtig und zum größten Teil ungezielt – was nicht zuletzt an der beträchtlichen Menge seines eigenen Blutes lag, das ihm in den Augen klebte – stieß Drug seine breiten Fäuste in Richtung des elfischen Generals. Der musste nun seinerseits zurückweichen, wollte er nicht wie eine Sandnuss zermalmt werden. Selbst das Abwehren der Angriffe gestaltete sich als ein Ding der Unmöglichkeit, da Drug mit so viel Kraft zuschlug, dass er ihm die Unterarmknochen zu zerschmettern drohte, sollte er mit ihnen kollidieren.

Schon konnte Isolandòr die beiden anderen Orks im hinteren Teil seiner Zelle hören. Indem er einen kurzen Moment ihrer Unachtsamkeit für sich ausgenutzt hatte, war es ihm gelungen, dem Griff der Bestien zu entkommen und sie kurzerhand zu überwältigen. Doch nun erhoben die zwei sich unter Stöhnen und Fluchen wieder vom Boden und setzten mit schwer trampelnden Füßen auf ihn zu.

Der Elf erkannte, dass ihm nur noch eine letzte Chance blieb, zumindest das ihm gegenüberstehende Exemplar zu töten, bevor sie ihn jeden Augenblick zu Boden ringen oder in Stücke reißen würden. In einem günstigen Moment, kurz nachdem er es erneut nur um Haaresbreite geschafft hatte der todbringenden Faust von Drug auszuweichen, sprang er mit einem Satz auf den Ork zu.

Mit ganzer Kraft packte er ihn bei den langen, spitz zulaufenden Ohren, die, so ganz im Gegensatz zu denen seines Volkes, schlaff wie die eines alten Köters gen Boden hingen. Und indem er all seine Geschwindigkeit und sein akrobatisches Geschick einsetzte, wie sie einzig von einem Elf nach jahrelanger Übung entwickelt werden konnten, sprang der General blitzartig auf die wilde Bestie zu.

Während er mit Macht den Kopf des Orks nach unten zog, bewegte er im gleichen Maße ruckartig sein Knie auf dessen Gesicht zu, um es mit einem alles entscheidenden Stoß zu zerschmettern.

Alle gegen einen

Therry tat, wie ihr geheißen und drehte Darius’ Kopf vorsichtig auf die Seite, sodass dieser nun auf seine eigene Schulter gebettet war. Mit vereinten Kräften zogen die beiden Frauen ihn so nah wie möglich zu sich an die Gitter, sodass Drug und Isolandòr ihn nicht versehentlich unter sich zermalmen konnten. Ein leises Stöhnen entwich den leicht geöffneten Lippen des reglosen Kriegers und deutete an, dass er zumindest im Moment noch nicht das Zeitliche gesegnet hatte.

»Halte seinen Kopf gerade und sorg dafür, dass kein Druck auf seinem Genick lastet«, meinte Amestris befehlsmäßig an Therry gewandt und tastete vorsichtig und mit geübten Handgriffen Stück für Stück Darius’ Wirbelsäule ab. Währenddessen hielt sie jedoch ununterbrochen den Blick furchtsam auf Drug gerichtet, an dem die Angriffe ihres Landsmannes ohne nennenswerte Verletzungen abzuprallen schienen. Die Iatas-Kriegerin bekam ihrerseits kaum etwas von dem Kampf mit. All ihre Aufmerksamkeit war einzig auf die flache Atmung ihres Gefährten und das konstante Geradehalten seines Nackens gerichtet.

»Bleib bei mir, Darius. Bitte verlass mich nicht«, flüsterte sie flehentlich, während sie ihm unentwegt das halb geronnene Blut unter der Nase wegzuwischen versuchte, so als könne sie damit auch gleichermaßen seine inneren Verletzungen bereinigen. Behutsam legte die junge Frau ihre Stirn an seine Wange, was sich als schwierig erwies, da sie nun ebenfalls in unnatürlich verkrümmtem Winkel zu den im Boden eingelassenen Gitterstäben liegen musste. »Ich brauche dich, Darius.« Tonlos hauchte Therry ihm die Worte entgegen, während sich ihre Lippen langsam und fast wie von selbst auf die seinen zu bewegten. »Ich ... ich liebe dich doch.«

Kurz bevor ihre Münder sich berührten, ertönte ein lauter Knall und eine deutlich spürbare Erschütterung durchfuhr den Boden des Kerkers. Selbst Therry, die die Auseinandersetzung in der Nachbarzelle nur am Rande mitbekam, schaute nun erschrocken auf.

Instinktiv verkrampfte Drug seinen Körper und hielt mit ganzer Kraft seine Muskeln unter Spannung, als der Elf ihn an den Ohren gepackt gen Boden ziehen wollte. Als er dann auch noch das Knie des verhassten Rotblüters auf sein Gesicht zurasen sah, schlug er wuchtig seinen Unterarm gegen dessen Schienbein. Schneller als man es einem Ork seiner Größe zugetraut hätte, fuhr er mit seiner Pranke um das Bein herum und schnappte mit solcher Kraft nach der Wade, dass er dem General beinahe ein Stück davon aus dem Körper gerissen hätte. Im selben Moment packte Drug ihn mit der anderen Pranke am Kragen und in einer ruckartigen Aufwärtsbewegung stieß er seinen verdutzen Gegner von sich weg.

Isolandòr flog mehre Schritte weit durch die Luft und sein Kopf verfehlte die Wand auf der gegenüberliegenden Seite der Zelle nur um wenige Handbreit. Mit einem donnerschlagähnlichen Aufprall, der ihm sämtliche Luft aus den Lungen presste, landete er auf dem Boden und rang für einen Moment mit der Ohnmacht. Das Echo war noch nicht zur Gänze verhallt, als er auch schon spürte, wie man ihn unsanft in die Höhe zog. Bevor er etwas dagegen unternehmen konnte, wurden ihm die Arme auf den Rücken gedreht und sein Schopf schmerzhaft nach hinten gerissen, sodass er gezwungen war, geradeaus zu blicken.

 

»Ja, haltet ihn fest!«, brüllte Drug mit vor Zorn bebender Stimme und fletschte die Zähne, während er mit weit ausgreifenden Schritten auf den Elfen zusetzte. Die eine Hand hielt er sich flach gegen sein linkes Ohr gedrückt, die andere war zur Faust geballt und hocherhoben. »Ich reiß dir deine Gedärme aus und stopf sie dir ins Maul, du elender Wurm.« Kleine, schaumartige Bläschen schienen sich an den Mundwinkeln des Ungeheuers zu bilden und einige Tropfen seines grünen Blutes liefen ihm von den Ohren auf die breiten Schultern hinab. Doch kaum, dass er nahe genug an Isolandòr heran war, um seine Drohung wahr zu machen, löste sich die klauenartige Hand aus den Haaren des Generals und ein anderer Ork stellte sich ihm mutig entgegen.

»Lass ihn, Drug, er gehört dir nicht! Treibe du dein Spiel mit dem Menschen, aber die beiden Elfen gehören uns!«, knurrte der Grüngeschuppte, der für ein Wesen seines Volkes eine erstaunlich hohe Stimme aufwies. Der echsenartige Mann, dessen Schnauze nach vorne hin ein wenig spitz zulief, war ebenso groß wie sein Gegenüber, obwohl er diesem an Körperumfang weit unterlegen war und mehr an die Statur eines sehnigen Elfen erinnerte. Dennoch packte er Drug an dessen dreckig-brauner Keschfaserkutte und versuchte ihn wegzustoßen.

»Was fällt dir ein, Varinez?«, erwiderte dieser lautstark und bemühte sich keinen Fingerbreit zurückzuweichen. Doch obwohl sich seine ohnehin schon von Furchen durchzogene Stirn noch weiter in Falten legte und er die kleinen, gelben Augen missbilligend zu Schlitzen verengte, schien sich seine Aggression im Angesicht eines Artgenossen etwas zu legen.

»Der Elf gebührt uns«, wiederholte der schmale Ork und Isolandòr konnte von dem dritten Exemplar, welches ihm mit einem schraubstockartigen Griff die Arme auf dem Rücken festhielt, ein bestätigendes Grunzen an seinem Ohr vernehmen. Der Brechreiz erregende Gestank vom warmen Atem der Bestie raubte ihm indessen beinahe die Luft.

»Ihr habt zu tun, was ich euch sage. Und ich sage, dass ich den Elfen jetzt töte! Wenn ihr ihn noch nicht einmal ruhig halten könnt, so wie ich es euch befohlen habe, sondern zulasst, dass er mir in die Quere kommt, dann muss ich mich seiner selbst annehmen.« Drug hatte sich nun vor Varinez aufgebaut und starrte ihm grimmig in die Augen, während er in einer demonstrativen Bewegung die Hand zur Faust ballte, so als wolle er eine Fliege zerquetschen. Doch so wie es aussah, schien er nicht sonderlich daran interessiert, seinen Landsmann anzugreifen. Tatsächlich strahlte der hagere Ork eine innere Ruhe und Stärke aus, die nicht in Worte zu fassen waren und sein schmächtiges Äußeres Lügen strafte.

Der krachende Aufprall Isolandòrs auf dem Zellenboden und die beiden anderen Orks, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren, hatten selbst Therry aufblicken und das Leid von Darius für sie einen kurzen Moment lang in den Hintergrund treten lassen.

Ganz im Gegensatz zu Amestris, die – nun da Drug nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe war und keine Gefahr bestand, dass sie von ihm durch die Gitterstäbe hindurch gepackt werden könnte – ihren Blick einzig auf den schwer verletzten Iatas richtete. Die Elfin saß schon seit dem Abend in der Zelle und wusste deshalb um die zwei anderen Orks, welche sich im hinteren Bereich ihres Abteils verkrochen hatten und ohne Eile beratschlugen, was sie mit ihren Mitgefangenen tun sollten. Zwar tat es ihr leid um General Isolandòr und den anderen Elfen, den sie nicht kannte und der noch immer zusammengekauert in seiner Ecke saß, doch für die beiden gab es keine Hilfe mehr. Anders als bei Darius.

Zielsicher fanden die schlanken Finger der heilkundigen Fürstentochter die lebenswichtigen Vitalpunkte des jungen Mannes. Der tobende Ork hatte seine Wirbelsäule stark beschädigt, sodass Amestris sich nicht sicher sein konnte, ob er jemals wieder würde laufen können. Doch sie spürte die ungeheuere Willenskraft des Menschen und vermochte ihm wenigstens für einen kurzen Moment einen Teil seiner Schmerzen zu nehmen.

Noch immer hielt Therry den Kopf ihres Gefährten im Arm und hatte ihm zärtlich eine Hand auf die Wange gelegt. Ihr Blick wechselte stetig zwischen seinen halb geöffneten, leicht flatternden Augenlidern und dem elfischen General, der sich in einer ähnlich miserablen Situation befand. Auch für ihn empfand die junge Frau Mitleid, obwohl die Gefühle, welche sie Darius gegenüber hegte, weitaus stärker waren.

»Kein Grund zum Heulen, noch bin ich nicht tot«, drang es auf einmal heiser an ihr Ohr. Vollkommen perplex wandte Therry den Blick nach unten und schaute zu Darius, der sie verschmitzt anlächelte.

Es verging ein Moment, in dem sie ihm nur tief in die Augen sehen konnte, bevor ihr Verstand dazu in der Lage war, die Situation zu erfassen. Eine einzelne Träne, die der Iatas die Wange herabgeglitten war, ruhte auf der Nasenspitze ihres Gefährten und bildete dort einen klaren Tropfen. Erleichtert lachte sie auf und wollte Darius überglücklich um den Hals fallen.

Da sein Kopf bereits in ihrer Armbeuge gebettet lag und sie befürchtete, ihn verletzen zu können, drückte die verheulte Kriegern jedoch lediglich ihre Wange gegen die seine. In dem kurzen Moment, als Darius die Geste erwiderte, ihr durch die Gitterstäbe hindurch beide Arme um die Schultern legte und sie gefühlvoll an sich zog, gelang es den zwei innig miteinander verbundenen Seelen alles um sich herum zu vergessen. Ein Atemzug des friedlichen Miteinanders, ein kurzer Augenblick des vergänglichen Glücks. All die Gefahren um sie herum schienen in diesem Moment nicht mehr zu existieren, das Gegrunze der sich streitenden Orks verkam zu einem steten Rauschen, welches sie sanft umflutete.

»Seid vorsichtig«, ermahnte Amestris, drückte die Menschen behutsam auseinander und zerbrach somit die Traumwelt, in die sie sich für die Dauer einiger Herzschläge hatten flüchten können. »Du magst dich im Moment gesund fühlen, doch die kleinste Belastung kann dich dein Leben kosten«, sprach die Elfin weiter und wie zum Beweis fuhr sie mit dem Finger über einen Wirbel an Darius’ Rücken, sodass die schmerzbetäubende Wirkung, welche sie ihm hatte angedeihen lassen, kurz nachließ. Schlagartig spürte er, was sie meinte, als ein sengender Blitz seinen Rücken vom Steiß bis zum Schädel hinaufzujagen schien. An ein Aufstehen, geschweige denn an eine Revanche mit dem rasenden Ork, war nicht zu denken.

»Das Gleiche gilt übrigens für dich«, fuhr Amestris fort und deutete mahnend mit dem Finger auf Therry, deren erblindetes Auge, nun, da sie den Verband nicht mehr trug, wieder zu bluten begonnen hatte. »Ich weiß nicht, welches Unglück dir armen Kind widerfahren ist, doch ohne heilende Kräuter, sauberes Wasser und Verbände werde ich die Wunde nicht reinigen können und dein Blut wird sich rasch vergiften.« Die Worte der Elfin waren hart gewählt, doch sie verkündeten die bittere Wahrheit.

Behutsam tastete Therry nach dem, was einmal ihr rechtes Auge gewesen war. Allerdings wagte sie nicht, es direkt zu berühren, da der Schmerz – welcher einem Feuerball gleich in ihren ganzen Kopf abstrahlte und zusehends schlimmer wurde – bereits furchtbar an ihr zehrte. Langsam fuhr sie über die geschwollene Haut um die entsetzliche Verletzung und zuckte sogar unter der Berührung ihrer eigenen Finger zusammen.

»Ich ... ich weiß auch nicht, wie das passiert ist«, sagte sie und verkniff sich ein Keuchen. »Als ich in den Armen der Alben wieder zu mir gekommen bin, hat die Stelle bereits wehgetan, aber jetzt wird es immer schlimmer. Außerdem kann ich, seitdem ich den Verband abgelegt habe, nur noch auf einer Seite etwas erkennen. Werde ich jemals wieder mit beiden Augen sehen können?« Ihre letzten Worte waren flehentlich und klangen beinahe so, als wollte sie die Antwort gar nicht wissen. Erst jetzt wurde ihr klar, was es bedeutete, die Hälfte ihres Augenlichtes verloren zu haben und in den nächsten Tagen oder Stunden womöglich an einer schmerzhaften Entzündung der ohnehin schon unerträglichen Wunde qualvoll zu verenden.

Mitleidig blickte Amestris in das inzwischen vollständig blutunterlaufene Auge, das von einem haarfeinen Schnitt halb durchtrennt war, sodass von dem unteren Teil ein kleiner Lappen etwas nach vorne überhing. Sie brachte es nicht übers Herz, ihrer Mitgefangenen weiter ins Gesicht zu sehen, sodass sie den Blick senkte, während sie langsam mit dem Kopf schüttelte.

Darius lag noch immer auf dem Boden und durch die Gitterstäbe hindurch hielt er die Hand seiner Freundin mit aller Kraft umklammert. Gerade wollte er ihr berichten, wie es zu der unverzeihlichen Verletzung gekommen war, an der er sich selbst einen nicht unerheblichen Teil der Schuld gab. Denn immerhin war er es gewesen, der Nemesta bis aufs Blut gereizt und sie somit zu der Schreckenstat getrieben hatte.

Doch in ebendiesem Augenblick hallte wieder wildes Gegrunze von den Kerkerwänden. Darius erkannte, indem er vorsichtig seinen gesamten Oberkörper wendete, dass Drug sich nur wenige Armlängen hinter ihm lautstark mit zwei weiteren Orks auseinandersetzte, die ihm selbst bisher noch gar nicht aufgefallen waren.

»Wir lassen uns von dir nichts befehlen, Drug. Baaludor und ich sind keine dahergelaufenen Steppenkriecher, sondern ebenfalls Vorugnaï-Gosh unserer eigenen Stämme. Überleg dir also lieber, wie du mit uns sprichst!«, zischte ein großer, schmaler Ork mit einer seltsam hohen Fistelstimme und einer langen Narbe im Gesicht. Unmissverständlich und mit einem Selbstbewusstsein, das ihm bei seinem wenig beeindruckenden Körperbau kaum zustand, baute er sich vor Drug auf, welcher nach wie vor mit dem Rücken zu Darius stand. Als er weitersprach, deutete er provokativ mit einem krallenartigen Fingernagel auf die Brust seines Gegenübers.

»Baaludor und ich haben dir den Menschen überlassen, als er in die Zelle geworfen wurde, weil du dich an ihm rächen wolltest. Jetzt steh auch du zu deinem Wort und verzichte auf die beiden Blumenfresser, denn wir wollen schließlich auch unseren Spaß.« Dabei zeigte der hagere Echsenmann in die hinterste Ecke der Zelle, wo sich in der Dunkelheit mit Mühe eine zusammengekauerte Gestalt erkennen ließ.

Reglos saß der einzelne Mann, den Rücken gegen die Wand gelehnt, auf dem Boden neben einer strohgedeckten Pritsche. Sein Gesicht war unter der Kapuze seines grünen Mantels verborgen und es ließ sich nicht sagen, ob er noch am Leben war oder nicht. Anschließend deutete das Ungeheuer mit seiner langen Kralle hinter sich, wo ein kleinerer und besonders fetter Ork stand, dessen Gestalt das schiere Gegenteil zu ihm bildete. Gewaltsam hielt die Bestie einen schweratmigen und ebenfalls in sich zusammengesunkenen Elfen gepackt und Darius erkannte, dass es sich um Isolandòr handelte. Der General befand sich vollkommen hilflos in einem ähnlichen Klammergriff, wie auch er noch wenige Augenblicke zuvor.

Drug ließ sich von dem unnatürlich ruhigen Gehabe seines Artgenossen nicht beeindrucken und wich seinerseits kein Stück zurück. Allerdings bewahrte er dennoch einen respektvollen Abstand und behielt ihn scharf im Auge. Ihm schien klar zu sein, dass mehr in dem schmächtigen Ork steckte, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

Anstatt auf ihn loszugehen und die Meinungsverschiedenheit gewaltsam aus der Welt zu schaffen, so wie die Grüngeschuppten es normalerweise zu tun pflegten, zeigte Drug ebenfalls auf Baaludor und grunzte abfällig: »Was seid ihr für Vorugnaï-Gosh, wenn ihr noch nicht einmal fähig seid, zwei halb tote Elfen unter Kontrolle zu halten? Ich spucke auf euch und eure Stämme! Dieser Hurensohn hat es gewagt, mich zu schlagen und ihr seid schuld. Deshalb werde ich ihn jetzt in Stücke reißen und ihr habt Glück, wenn ich nicht das Gleiche mit euch mache.«

Plötzlich ertönte ein markerschütterndes Brüllen, von einer Lautstärke, wie sie noch keiner von ihnen jemals zuvor vernommen hatte und das die Wände des Kerkers zum Erbeben brachte. Bis auf Drug und den in sich zusammengekauerten Elfen in der Ecke zuckte ein jeder in dem weiträumigen Gewölbe merklich zusammen. Einige Insassen aus den anderen Zellen stießen verängstige Schreie aus und die zutiefst erschrockenen Mitglieder von Amestris’ Familie umklammerten einander noch fester. Manche pressten sich verstört die Hände gegen die Ohren oder beteten leise zur Göttin Sylfone.

 

Die rothaarige Elfin hatte die Augen reflexartig zusammengekniffen und war noch im Sitzen einige Schritte weit ins Innere ihrer Zelle gekrabbelt. Panisch zitternd blickte sie zum Ursprung des Geräusches hinüber.

Baaludor hatte sein breites Maul bis zum Anschlag aufgerissen und ein tiefes, angriffslustiges Brüllen erklingen lassen, für das er in seiner Heimat berüchtigt war. Schließlich bedeutete es fast immer, dass es einen Augenblick später mindestens einen Toten gab. Selbst nachdem das durchdringende Geräusch verklungen war, ließ er seine Schnauze noch immer weit geöffnet und entblößte neben der schwarzen Zunge auch seine abnormal langen Eckzähne.

Selbst Drug, der schon seit vielen Monden der stärkste Ork in seiner Stamm war, erkannte, dass er es mit ihm nicht zu weit treiben durfte. Auch wenn die beiden so aussahen, als würden sie stets entweder nur die Knochen oder nur das Fett von einer erlegten Beute bekommen, trugen Sie dennoch jeweils den Titel eines Vorugnaï-Gosh. Und um den zu bekommen, musste man ein fähiger Anführer sein.

Um nicht mit abgebrochenen Hauern das Weite zu suchen, sondern vor seinen Artgenossen zumindest noch demonstrativ seinen Ork zu stehen, zog Drug geräuschvoll die Nase hoch und spie Baaludor vor die unbekleideten Füße.

»Sorgt bloß dafür, dass das nie wieder passiert. Wenn mir noch mal einer von den Elfen zu nahe kommt, dann nehme ich sie euch beide weg und fresse sie – egal wie lange ihr sie euch noch aufheben wolltet«, grunzte er und drohte vielsagend mit seinen mächtigen Fäusten in Richtung Isolandòr. Der hob nun seinerseits den Kopf, starrte Drug aus feindseligen Augen heraus an und zischte: »Komm doch her! Mit dir werde ich allemal noch fertig, du zu groß geratene ...«

»Halts Maul, Blumenfresser!«, unterbrach ihn Baaludor barsch, der selbst beim Sprechen ein ähnlich kehliges Geräusch von sich gab wie beim Brüllen. »Wenn Orks reden, dann haben die Rotblüter zu schweigen. Ist das klar?« Zur Verdeutlichung seiner Worte schüttelte er seinen massigen Körper hin und her, sodass die fette Wampe nur so schwabbelte. Schmerzgepeinigt schrie Isolandòr auf, da das Ungeheuer, welches ihm nach wie vor die Arme gewaltsam auf dem Rücken festhielt, durch die Bewegungen beinahe seine Schultergelenke auskugelte.

Die qualvollen Laute des Elfen riefen bei allen drei Orks heiteres Gelächter hervor, welches den Streit unter ihnen zu beenden drohte. Als Drug schließlich erneut das Wort erhob, schien es, als würde der Zwist der Grüngeschuppten nun endgültig ohne Blutvergießen enden.

»Wir sollten vorerst besser aufhören, uns untereinander zu bekämpfen. An einem Ort, wo Alb und Elf sich Gute Nacht sagen, müssen wir zusammenhalten, wenn wir hier raus wollen, denn gemeinsam sind wir stark.« Bestätigendes Gegrunze über diesen schlauen Vorschlag erfüllte die Zelle.

»Sagt mal, wer ist eigentlich der Stärkste von euch?«, ertönte wieder Isolandòrs Stimme, der sich diesmal bemühte, möglichst beiläufig zu klingen. Er wusste, dass sowohl seine als auch Darius’ einzige Chance zu Überleben darin bestand, die drei gegeneinander aufzuhetzen. Mit zusammengekniffenen Augen sahen Drug und Varinez ihn einen Moment lang fragend an, dann ertönte wieder die kehlige Stimme Baaludors von hinten an seinem Ohr.

»Für wie blöd hältst du uns eigentlich, Blumenfresser?« Schneller als Isolandòr reagieren konnte, löste sich der Griff um seine Arme und er bekam einen klatschenden Schlag mit der flachen Pranke zwischen die Schulterblätter, der ihn vornüberfallen ließ.

Sterne tanzten vor den Augen des Generals, nachdem er hart auf die Knie gefallen war und erneut grunzendes Gelächter um ihn herum laut wurde. Hastig versuchte er mit Hilfe seiner frei gewordenen Hände wieder auf die Beine zu kommen. Allerdings hinderte ihn die Nachwirkung des überraschend schnellen Angriffs, welcher den enormen Körperumfang seines Peinigers Lügen strafte, das Gleichgewicht zu halten.

»Warte, ich helf dir auf«, grölte Varinez. Lachend verpasste er Isolandòr, der es inzwischen geschafft hatte, sich zur Hälfte zu erheben, einen Aufwärtshaken gegen die Brust, sodass er in die Luft gehoben wurde, eine halbe Drehung vollführte und zu Baaludors Füßen wieder auf dem Rücken landete. Obwohl der Angriff absichtlich nicht mit voller Kraft ausgeführt worden war, gelang dem Elfen nun nicht einmal mehr, der Versuch, sich aus eigener Kraft wieder zu erheben. Hilflos lag er auf dem Boden und spürte, wie er von vier mächtigen Pranken emporgehievt wurde.

»Ich glaub inzwischen nicht mehr, dass die Alben uns noch was Vernünftiges zu Essen bringen. Es lohnt sich nicht, die Elfen weiter aufzusparen«, bellte Varinez, während er sich bereits daran machte, Isolandòr an den Haaren in den hinteren Teil ihrer Zelle zu ziehen.

»Ja, erst recht nicht, wenn sie anfangen so widerspenstig zu werden«, bestätigte Baaludor, schaute ein letztes Mal in Drugs Richtung und deutete vielsagend auf Darius. »Du hast ja auch noch dein Spielzeug ...«