Leben auf brüchigem Eis

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Leben auf brüchigem Eis
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Eveline Luutz

LEBEN AUF BRÜCHIGEM EIS

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto: Senior woman doing yoga meditation on beach

© Ammentorp (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Ein Dankeschön an Carola und Luutzi

für ihre wertvollen Hinweise und Korrekturen

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Dank

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Epilog

1

Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr blieb mir meine Großmutter unbekannt. Ich sah sie regelmäßig zu Geburtstagen und auf Familienfeiern, ich trug denselben Namen wie sie und doch war sie mir fremd.

Großmutter, auf diese Anredeformel bestand sie mir gegenüber hartnäckig, war für mich niemals eine Frau, die man einfach gern haben musste, von der Wärme und Herzlichkeit ausgingen. Sie verlockte mich nicht zum Ankuscheln, verleitete mich nicht, sie zu berühren und zu liebkosen. Auch sie liebkoste mich nicht. Weder strich sie mir sanftmütig über das Haar, noch drückte sie mir überschwänglich einen dicken schallenden Kuss auf die Wangen. Wenn sie mich bei der Begrüßung umarmte, blieb dies eine beinahe unwirkliche, flüchtige Geste, bei welcher ich mich nicht in den Arm genommen, nicht geborgen fühlte. Auch verkörperte meine Großmutter für mich zu keinem Zeitpunkt eine gute Freundin, der ein Kind seine großen und kleinen Geheimnisse anvertrauen konnte, bei der es Nachsicht und Hilfe erwarten durfte. Meine Großmutter wirkte auf mich allzeit ernst, kühl, nüchtern herb, ja geradezu ernüchternd. Selbst ihre Figur wies kaum weibliche Züge auf. Nichts an ihr war anheimelnd, rund und weich. Sie benutzte weder einen Lippenstift noch ein Parfüm. Für die rot lackierten Fingernägel meiner Mutter hatte sie nur Verachtung übrig. Ihre Kleider waren alle von einem fein nuancierten Grau, wie das Haar, das sie nicht färbte. Großmutters Kleidung beeindruckte durch die ausgesuchte Qualität der Stoffe und die gute Verarbeitung: Man sah ihr an, dass sie teuer war, nichtsdestotrotz blieb sie reizlos und unscheinbar, ganz das Abbild ihrer Trägerin. In meiner Großmutter begegnete mir eine kleine, hagere Person, der alles Weibliche fehlte. Sogar ihre Stimme klang hart, dunkel und herrisch.

Bis heute weiß ich nicht mit Sicherheit zu sagen, ob meine Großmutter mich, ihre einzige Enkelin, mochte. Sie begegnete mir nicht mit offener, einladender Freude, sondern distanziert nüchtern, als sei die Zuwendung, die sie mir entgegenbrachte, eine Pflichtübung für sie. Mir gegenüber zeigte sie lediglich eine kühle, unprosaische Freundlichkeit. Niemals erlebte ich bei ihr einen Überschwang an Freude, ein Lächeln, das zu Herzen ging. Ich weiß nicht einmal, ob meine Großmutter sich freute, mich hin und wieder zu sehen. In all den Jahren, in denen meine Mutter, Großmutters jüngste Tochter, und ich in Krambzow wohnten, kam sie uns kein einziges Mal besuchen, als verspüre sie kein Bedürfnis, uns zu treffen oder mit uns zu reden. Immer waren wir es, die zu ihr nach Geestade fuhren, die den Kontakt aufrechterhielten.

Hier, am Bodden, stand Mamas Elternhaus.

Wir kamen nicht allzu oft; das Verhältnis zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter blieb bis zum Schluss spannungsgeladen. Auch zu Griseldis, Mutters älterer Schwester, bestand keine innige Verbundenheit. Die beiden Schwestern hatten sich wenig zu sagen. Sie waren schon äußerlich so verschieden, dass ich zuweilen unkte, sie stammten von verschiedenen Eltern ab, seien dereinst im Krankenhaus vertauscht worden.

Großmutter und Tante Griseldis lebten unter einem Dach, in dem großen Haus am Bodden, das mein Opa Max, der leider schon gestorben war, als ich geboren wurde, einst erbaut hatte. Wenn meine Mutter und ich in dieses Haus zu Besuch kamen, vermochte ich an Großmutters Gesichtszügen niemals abzulesen, ob ihr unser Kommen überhaupt etwas bedeutete.

Im Gesicht meiner Mutter kann ich jederzeit wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen. Ob ihr nach Lachen oder Weinen zumute ist, ob Sorgen sie quälen, ob sie nachdenklich oder nur einfach müde ist, all das geben ihre Züge unverhohlen preis. Freut sie sich, dann springt diese Freude offenkundig für jedermann aus Mamas Augen, umspielt ihren Mund und zeichnet Grübchen auf die Wangen. Der ganze Körper meiner schönen Mutter lacht dann, ihre Gesten und ihre Worte drücken Frohsinn und Heiterkeit aus.

Großmutters Miene hingegen spiegelte nie irgendetwas; sie blieb immergleich starr, gerade so, als seien die Gesichtszüge irgendwann in dieser ausdruckslosen Pose erstarrt. Mama meinte, ihre Mutter trüge seit Jahrzehnten tagein und tagaus dieselbe Leidensmiene zur Schau. Tatsächlich hatten sich die herabgezogenen Mundwinkel tief in Großmutters Haut eingekerbt, wirkte das Gesicht immer verkniffen. Über der Nase ragten steil zwei Falten senkrecht in die Stirn, die mir stets als Inkarnation von Unlust und Verbitterung erschienen.

Ich möchte mit meiner Schilderung keine Missverständnisse aufkommen lassen: Großmutter blickte nicht grimmig drein. Sie schaute ihre Mitmenschen jedoch auch nicht freundlich an, sie schenkte ihnen kein aufmunterndes Lächeln. Manchmal mutmaßte ich, Großmutter nehme die Menschen in ihrem Umfeld gar nicht wahr, sondern sie schaue gleichgültig über sie hinweg. Großmutters Augen ermutigten nicht, sie taxierten nur. Ihre kühle Art hielt andere – gewollt oder ungewollt – auf Abstand. Meine Großmutter schien sich weder für ihre Mitmenschen noch für deren Geschichten und Schicksale zu interessieren.

Oder irre ich mich? Hörte sie in ihrem Beruf von so vielen Katastrophen und Sorgen anderer, dass sie außerhalb ihrer Arbeit unbehelligt von fremdem Leid und fremden Freuden leben wollte?

Viele Jahrzehnte lang wirkte Großmutter in Geestade als Ärztin. Ihre Praxis befand sich in einem neu errichteten Gebäudekomplex gegenüber der Kirche. Im Erdgeschoss residierten die Kinder, befanden sich der Kindergarten und die Krippe. Im ersten Stock gab es neben der Arztpraxis eine Zahnarztpraxis und die Gemeindeschwesternstation.

Ich selbst erlebte meine Großmutter nicht mehr als praktizierende Ärztin mit Stethoskop und weißem Kittel. Just in jenem Jahr, in welchem ich geboren wurde, ging Großmutter in Rente.

Bis zu ihrem Tode indes grüßten die Leute im Dorf sie ehrfürchtig mit der Formel: „Guten Tag, Frau Doktor“, ganz so, als genüge ein „Guten Tag, Frau Ludewig“ nicht.

Selbst in der Grußformel manifestierte sich eine unüberbrückbare Distanz.

Krambzow, der Ort, in welchem meine Mutter und ich wohnen, ist ebenfalls ein Dorf. Wie in Geestade kennt jeder jeden und alle grüßen sich bei zufälligen und eiligen Begegnungen auf der Straße. Wenn unsere Nachbarin, meine Nennoma Helga, meine Mutter mit „Frau Ludewig“ anreden würde, würde mich das zutiefst befremden. Erst recht käme niemand auf die Idee, meiner Mutter ein „Guten Tag, Frau Doktor“ zuzurufen. Dabei ist meine Mutter eine richtige Doktorin, allerdings keine Ärztin, sondern Pädagogin. Die wenigsten Krambzower jedoch wissen überhaupt, dass Mama einen Doktortitel trägt. Er ist unwichtig für sie, denn Mama gehört zu ihnen, zum Dorf und alle Welt kennt und grüßt sie nur als Arabella oder Bella.

Meine Großmutter hingegen schien mir nicht wirklich zu dem Dorf, in welchem sie seit Jahrzehnten lebte, zu gehören. Wie ein Fremdkörper nahm sie sich aus. Sie kannte niemanden wirklich und ihre Mitbewohner kannten sie nicht. Großmutter hatte sich abgekapselt. Sie ließ niemanden an sich heran und besaß im Dorf weder gute Bekannte noch eine Freundin. Meine Großmutter wurde von ihren Mitmenschen respektiert und gefürchtet, aber nicht geliebt.

 

Wenn ich mit meiner Mutter durch Geestade, ihren Geburtsort, schlendere, in welchem Mama seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr wohnt, wird sie von den Alteingesessenen vertrauter gegrüßt als meine Großmutter, die nahezu ihr ganzes Leben in diesem Dorf verbrachte. Alte Frauen und Männer umarmen meine Mutter bei zufälligen Begegnungen auf der Straße zuweilen aus einer spontanen Regung heraus, einfach so, weil sie ihr noch immer zugetan sind. Und meine Mutter lässt sich umarmen und in Gespräche ziehen.

„Guten Tag, Arabella, auch mal wieder im Lande“, hallt es meiner Mutter in Geestade fortwährend entgegen.

„Ja, Herr Lewerenz“, lächelt meine Mutter freundlich zurück. „Das ist Eva, meine Tochter“, stellt sie mich jedermann sichtbar stolz vor.

„Eine hübsche Tochter hast du, da kannst du stolz drauf sein.“

„Bin ich auch, Herr Lewerenz. Wie geht es Ihrer Frau? …“, so verlaufen die alltäglichen Gespräche, die meiner Mutter von den Einheimischen angetragen werden.

Solche Gespräche, für welche die englische Sprache das Wort Small-Talk kennt, schmale und kurze Dialoge, in denen keine bewegenden Probleme erörtert werden, in denen es mehr um die Geste der Freundlichkeit als um Weltbewegendes geht, sind mit meiner Großmutter undenkbar. Es war nicht etwa so, dass Großmutter derartige Vertraulichkeiten unterband. Sie fanden einfach nicht statt. Die Leute trugen ihr diese nicht an. Mag sein, sie fürchteten sich insgeheim vor einer Abweisung seitens meiner Großmutter.

Auch ich fürchtete mich lange Zeit vor ihr, vor ihren strengen, unbeteiligten Blicken, der harten Stimme und dem verschlossenen, verhärmten Gesicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich mir jemals liebevoll zuwandte, dass sie mit mir spielte, mir ein Märchen vorlas oder eine Geschichte erzählte. In der Gegenwart von Großmutter fühlte ich mich stets seltsam gehemmt, befiel mich immer das Gefühl, sie zu stören. Sie interessierte sich nicht für mich, meine kleinen Kümmernisse und meine kühnen Gedanken.

Erst später, die ersten Schuljahre lagen bereits hinter mir, fragte Großmutter mich bei unseren Besuchen manchmal mit ihrer harten Stimme nach meinen Schulnoten. Allein die Frage verursachte mir Unbehagen, obgleich meine Schulnoten nie Anlass zu einer Klage boten. Ich liebte die Schule und meine erste Lehrerin, Frau Gerlach, innig. Ich brannte darauf, alles zu wissen: Warum die Flugzeuge nicht vom Himmel fallen. Welche Sprache die Fische sprechen. Wo der Rio Orinoko fließt. Wie man ein Gedicht schreibt. Wie man im Lateinischen das Gerundium bildet. Mit jeder Frage konnte ich meine Mutter behelligen. Jede nahm Mama ernst. Meine Mutter ermutigte mich, mich weiter voranzufragen, mir fragend die Welt zu erschließen. Mit mir gemeinsam suchte Mama nach Lösungen, auch wenn sie diese bereits wusste. Dabei unterwies sie mich geduldig, wo und wie ich suchen musste, um selbst auf Antworten zu stoßen, sie mir zu entdecken. Sie zeigte mir die Handhabung von Mitteln und Wegen, um selbst Antworten auf meine endlosen Fragen zu finden. Sie erklärte Worte und Zusammenhänge, die ich noch nicht verstanden hatte. Mit zwölf Jahren bereits benutzte ich nicht nur Lexika und Sachbücher, die zuhauf in den Bücherschränken unseres Hauses standen, sondern jede Suchmaschine im Internet eigenständig und souverän. Es gab keinen Grund, Großmutters Frage nach meinen Schulleistungen zu fürchten und doch fürchtete ich sie. Bis heute weiß ich nicht, worauf ihre Fragen eigentlich abzielten, weiß ich nicht, ob sie sich tatsächlich für mich interessierte oder nur einen Gesprächsfaden knüpfen wollte. Befangen, wie ich mich Großmutter gegenüber fühlte, beantwortete ich ihre Fragen knapp und möglichst präzise. Großmutter beschied sich mit der Auskunft, die ich ihr gab, sie lobte oder tadelte nicht, sie fragte nicht nach, so als sei ihr Interesse im Fragen bereits erloschen. Aus ihrer Art zu fragen, las ich Gleichgültigkeit heraus und zog mich instinktiv zurück. Vielleicht war das ein Fehler, deutete Großmutter mein Verhalten als Ablehnung. Ich empfand einfach zuviel Respekt und Furcht vor dieser gestrengen, unnahbaren Frau.

Großmutters Zeit und Aufmerksamkeit für mich zu beanspruchen, sie mit einem harmlosen Scherz zum Lachen zu verleiten, wagte ich einfach nicht. Mir schien stets, Großmutter bedrücke ein Leid, so bitter, dass es ihre Gesichtszüge verhärtete, und das sie ganz und gar verschlinge wie ein gewaltiger Krake. Regelmäßig verspürte ich in Großmutters Gegenwart Anflüge eines schlechten Gewissens, nur weil ich mich fröhlich und unbeschwert fühlte, weil ich vor Heiterkeit tänzelte und sang. Meine Freude schien mir unpassend angesichts des Ernstes und der Bitterkeit, die in ihren Zügen lagen. Ich wagte nicht einmal den Versuch, sie mit meiner Heiterkeit anzustecken, sie mit Nichtigkeiten oder einem Scherz aus ihrem Schmerz herauszureißen.

Meine Cousins, allesamt älter als ich, gingen ganz anders mit Großmutter um. Sie begegneten ihr jeden Tag und kannten sie besser als ich. Sie zeigten weder Furcht noch Achtung vor ihr. Keiner von ihnen redete sie respektvoll mit „Großmutter“ an.

„Oma, mach mal“, forderten sie im Ton eines Kommandeurs. Sie baten nicht und doch kam Großmutter ihren Forderungen widerspruchslos nach.

Sogar Simon, mein jüngster Cousin, nur wenige Monate älter als ich selbst, ein miserabler Schüler und im Umgang mit Gleichaltrigen furchtbar gehemmt und angepasst, kommandierte sie auf diese Weise herum. Ich wagte es nicht, ebenso mit ihr umzuspringen. Wir blieben uns fremd bis zu jenem denkwürdigen Tag.

Der März neigte sich seinem Ende zu. Wir schrieben den Donnerstag vor Ostern.

In diesem Jahr lagen die Osterfeiertage ungewöhnlich früh. Noch kündete nichts vom Frühling. Die Vegetation zeigte sich noch winterlich. Die letzten kärglichen Schneereste waren seit ein paar Tagen geschmolzen, aber die Tagestemperaturen bewegten sich nur knapp über dem Gefrierpunkt. Von Norden her blies ein kalter, unwirtlicher Wind über das Meer. Er wühlte das Wasser der Ostsee auf und schleuderte die Wellen machtvoll gegen den Strand. Immer neue Wolken schob er zu dunklen Wolkengebirgen zusammen, zwischen denen kein Sonnenstrahl hindurch zu dringen vermochte. Es sah aus, als werde sogleich ein Unwetter niedergehen, doch noch ehe die schwarzen Wolken sich ihrer Last entledigen konnten, hatte der Wind sie weiter ins Binnenland hinein geschoben.

In diesem Jahr würde niemand die bunten Ostereier für die Kinder im ersten Grün des Grases verstecken können; alles war noch kahl.

Mama und ich hatten verabredet, die freien Tage gemeinsam an der Ostsee zu verbringen. Zwar wohnten wir nur gut fünfzig Kilometer vom Meer entfernt und gleich hinter unserem Grundstück erstreckte sich ein kleiner, klarer See, in welchem wir vom frühen Sommer bis in den späten Herbst hinein badeten. Dennoch besaß das Meer einen ganz besonderen Reiz für uns beide, der uns immer wieder dazu verlockte, ab und an ein Zimmer auf dem Darß zu mieten. Jedes Jahr vertauschten wir, in der Regel außerhalb der Saison, für ein paar Tage unser Haus mit zwei kleinen Zimmern unter dem Dach von Frau Krawuttke. Frau Krawuttkes Katen lag gleich hinter dem Deich und vom Dachfenster aus konnte man das Meer riechen und sich nachts vom Auf und Ab der Brandung in den Schlaf wiegen lassen.

Ein weiterer Grund für unsere immer wiederkehrenden Besuche in Zingst war, dass hier Onkel Friedhelm und Tante Annelies wohnten.

Tante Annelies war eine Schwester von Opa Max, Mamas Vater. Seit Opas Tod verkörperten Annelies und Friedhelm unsere nächsten Verwandten. Jede Reise nach Zingst bedeutete, gemeinsame Zeit mit diesen lieben Menschen zu verbringen. Onkel und Tante waren inzwischen alt geworden. Es war absehbar, dass ihr Leben sich dem Ende zuneigte. Onkel Friedhelm lebte zudem seit ein paar Jahren mit einer schweren Krankheit. Er hatte Krebs. Irgendwie hatten beide sich mit der Krankheit ausgesöhnt. Sie lebten damit unaufgeregt, um das Ende wissend, jede gemeinsame Stunde wie ein Geschenk empfangend. Seit dem Jahreswechsel hatte sich der Gesundheitszustand des Onkels gravierend verschlechtert, ein weiterer Grund, mit einem Besuch nicht lange zu warten.

Wenn Mama und ich in Zingst weilten, dann fuhren wir stets einmal hinüber, auf die andere Seite des Boddens, um Großmutter zu besuchen.

Großmutter wohnte in dem großen Haus, das mein Großvater einst erbaut hatte, ebenerdig in einer separaten Wohnung, bestehend aus einem Wohnzimmer mit integrierter Kochnische, einem schmalen Schlafraum und einem kleinen Bad. Es gab in Großmutters Reich keinen Platz zum Übernachten für uns und bei Griseldis, Mutters Schwester, nahmen wir nie Quartier. Dabei war das Haus groß und geräumig. Meine Cousins, Stefan und Sebastian, beide viel älter als ich, lebten seit Jahren in Stuttgart. Ihre Zimmer standen leer. Dennoch zogen wir Zingst vor und das nicht zuletzt, weil nur zehn Gehminuten von unserer Ferienwohnung entfernt in einem mit Reet gedecktem Katen Tante und Onkel lebten.

Das Haus dieser beiden lieben Menschen stellte für mein kindliches Schönheitsempfinden lange Zeit den Inbegriff eines schönen Hauses dar. Onkel Friedhelm hatte das Haus von seiner Großmutter geerbt und es mit viel Liebe zum Detail restauriert. Die Tür, meerblau, mit leuchtend gelben Sonnen bemalt, liebte ich ebenso innig wie die blaue Gartenbank neben der Haustür und die blauen Fensterrahmen. Stundenlang konnte ich als Kind auf der Bank sitzen und mit den Beinen schlenkern. Meine Augen wanderten derweil den Garten ab, in welchem im Sommer Rosen, Reseda und Dahlien blühten, in dem Himbeeren und Stachelbeeren reiften, aus denen die Tante köstliche Marmeladen kochte. Ich liebte das Haus. Ich liebte den Garten. Und ich liebte Onkel und Tante.

Tante Annelies war eine korpulente Frau mit einem großen Herzen und einem ebenso großen Busen. Wenn sie mich zur Begrüßung umarmte, fühlte ich mich sogleich warm und aufgehoben. Ihr weicher und runder Körper hieß mich ebenso willkommen wie das Haus, der träge Kater, Willi, und mein lieber Onkel Friedhelm.

Onkel Friedhelm und ich pflegten, als ich klein war, ein richtiges Ritual zur Begrüßung. Sobald er mich erblickte, breitete der Onkel beide Arme aus und überglücklich, willkommen zu sein, rannte ich hinein. Der Onkel schloss seine Arme um mich und drehte sich mit mir im Kreis, bis uns beiden ganz taumelig war vor lauter Wiedersehensfreude. Dann stellte er mich behutsam auf meine Füße und musterte mich von allen Seiten. Ich musste mich drehen, damit er sehen konnte, ob meine Mutter mich seit dem letzten Besuch gut gefüttert hatte und ob ich gewachsen war. War er mit der Begutachtung fertig, zog er mich an sich und ich bekam einen dicken, schallenden Schmatz auf die Stirn und den von Herzen kommenden Begrüßungsspruch „Evchen, du gefällst mir!“ zu hören.

Obgleich ich ein Kind war, begriff ich, dass dieser Spruch keine leere Floskel war, sondern dass er voll und ganz der Wahrheit entsprach, dass der Onkel mich wirklich gern mochte.

Onkel Friedhelm wusste genau, was mir fehlte, ein Opa, der einem kleinen Mädchen das Gefühl von Geborgenheit und Liebe vermittelte. Er besaß bereits vier Enkelinnen, allesamt älter als ich, aber seine Liebe reichte auch für mich noch aus und so „adoptierte“ er mich als seine fünfte Enkelin. Er beschenkte mich nicht nur ebenso wie Linda, Katja, Manja und Vera, sondern beschäftigte sich auch mit mir. Auf einem knatternden Moped fuhr er mit mir zu den Salzwiesen, um im Frühjahr die Kraniche aus der Nähe zu beobachten. Er nahm mich bei der Hand und führte mich zu den Nachbarn, deren Hündin drei niedliche Hundekinder bekommen hatte. Manchmal schaute er mit mir nachts vom Dachfenster aus durch ein geheimnisvolles Rohr zu den Sternen; Onkel Friedhelm war nämlich ein Hobby-Sterngucker. Und – er schummelte bei jedem Würfel- oder Kartenspiel wie ein Schuljunge, obwohl er früher der Direktor der Berufsschule gewesen war. Vor solch einem Lehrer, davon war ich zutiefst überzeugt, musste niemand Angst haben.

Den Kinderschuhen inzwischen entwachsen, freute ich mich dennoch nach wie vor jedes Mal auf Zingst. Zingst, das bedeutete stets ein Wiedersehen mit diesen herzensguten Menschen, die mir allzeit viel näher standen als meine leibliche Großmutter.

In jenem Jahr, da sich die Begebenheit, über die ich berichten will, zutrug, zählte ich zwanzig Jahre. Ich studierte in Greifswald im zweiten Semester Medizin und bewohnte ein Zimmer im Studentenwohnheim, Tür an Tür mit Enno, einem Geografiestudenten aus Esslingen. Manchmal, wenn das Heimweh mich packte, setzte ich mich kurzerhand ins Auto und fuhr abends die paar Kilometer von Greifswald bis nach Krambzow, nur um Mama zu sehen, ein bisschen Liebe und heimatliche Luft zu tanken, um dann am Folgetag gestärkt zu meinen Studien zurückzukehren.

 

Solange ich mich erinnern kann, wohnten nur Mama und ich unter dem Dach unseres Hauses, das einst die Dorfschule beherbergt hatte. Als ich noch ein Säugling war, hatte mein Vater bei uns gelebt, aber noch vor meinem ersten Geburtstag war er nach Chile, in seine Heimat, zurückgekehrt. Mama hatte es in all den Jahren, die seither verflossen waren, nicht geschafft, sich ganz und gar auf einen neuen Mann einzulassen. Hin und wieder saß morgens, beim Frühstück, ein Mann mit uns am Tisch, mancher auch öfter, aber keiner war dauerhaft eingezogen. Das bedauerte ich um Mamas willen aufrichtig. Sie war trotzdem keine Glucke, die ihr Kind ängstlich bewachte oder es zum einzigen Lebensinhalt erhob. Mama sprühte vor Leben, sie war kein Kind von Traurigkeit. Sie lachte gern, sie knüpfte schnell Kontakte und sie betrieb immerfort irgendwelche Projekte. Dem richtigen Mann war sie dabei noch nicht begegnet. Manchmal, wenn ich sie darauf ansprach, antwortete sie: „Bleib ruhig, irgendwann werde ich meinen Prinzen treffen. Du weißt doch, Dornröschen musste hundert Jahre warten.“

Ich wünschte ihr von Herzen jemanden, mit dem sie das Leben teilen konnte und doch machte ich mir um meine Mutter weder ernsthafte Sorgen noch verspürte ich Gewissensbisse, weil ich sie allein in Krambzow zurückließ. Ich wusste: Mama benötigt weder Aufsicht noch Beschäftigung. Mama versteht zu leben.

An jenem Donnerstag vor Ostern fiel die Anatomievorlesung aus und ich beschloss, gleich nach dem Abschied von Enno mit meinem Auto, einem recht alten Suzuki, nach Zingst aufzubrechen. Ich malte mir aus, dass ich unsere Ferienwohnung bei Frau Krawuttke schon ein wenig anwärmen könnte, bevor Mama eintraf. Fröhlich summend fuhr ich um die Mittagszeit los. Auf den Landstraßen herrschte wider Erwarten noch wenig Verkehr und ich kam zügig voran. Viel früher als geplant passierte ich Geestade und einem spontanen Impuls folgend, hielt ich vor Großmutters Haus an.

Ich hatte diesen Besuch nicht geplant. Der Entschluss, anzuhalten, war mir einfach so gekommen, ohne dass ich ein Warum hätte benennen können. Nie zuvor war ich ohne meine Mutter nach Geestade gereist. Mein Verhältnis zu Großmutter und zu Tante Griseldis war zu wenig herzlich, als dass es mich zu ihnen zog. Vielleicht zeugte mein spontaner Entschluss an diesem Tage davon, dass ich endlich die unterschwellige Furcht vor meiner Großmutter überwunden hatte.

Ich parkte direkt neben der Gartenpforte, die ich immer unverschlossen wusste. Durch die Autoscheiben blickte ich sehnsüchtig zum Haus hinüber. Vielleicht hoffte ich, einer der Bewohner habe vom Küchenfenster aus mein Auto wahrgenommen, werde die Haustür öffnen, um mich willkommen zu heißen.

Nichts dergleichen geschah. Das große Haus lag unwirtlich und verlassen, beinahe bedrohlich vor mir. Unsicher, angesichts des ungastlichen Empfangs, stieg ich aus. Sogleich erfasste mich der Wind mit aller Macht. Er pfiff über den Bodden, gerade so, als wolle er mich rasch vertreiben. Ich fror und eilte mit schnellen Schritten zur Eingangstür von Tante Griseldis Wohnung. Zwar befand sich der Eingang zu Großmutters Wohnung an der Rückseite des Hauses, doch dort zu klingeln, wäre mir abwegig erschienen. Ich wusste, dass Großmutter sich tagtäglich erst nach dem Abendbrot in ihre separaten Räume zurückzog. Bis zu diesem Zeitpunkt wirtschaftete sie in Griseldis’ Wohnung, führte sie den Haushalt ihrer Tochter.

Ich klingelte energisch. Einmal und noch ein Mal. Die kalte Luft machte mich ungeduldig. Meine dicke Jacke hatte ich leichtfertig im Auto liegenlassen. Nichts regte sich. Ich fror. Es zog mich mit aller Kraft ins Warme. Wo blieb Großmutter? Warum ließ sie mich nicht ein? Die Arme um mich schlingend, um den Körper gegen die Eisluft zu schützen, rannte ich zur Rückseite des Hauses und klopfte an Großmutters Tür. Mir schien, als vernähme ich von drinnen Laute, die ich allerdings nicht zu deuten verstand. Ich klopfte noch energischer als beim ersten Versuch; indes auch jetzt öffnete niemand. Verzweifelt und frierend drückte ich die Klinke herunter, die Tür sprang auf. Rasch schlüpfte ich in den kleinen fensterlosen Flur und lauschte angespannt. Wieder hörte ich etwas, diesmal lauter. Es klang wie ein Wimmern und in mir keimte Furcht auf.

Vor einem Jahr war Großmutter mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. Nach der Operation erlernte sie in einer Rehabilitationskur das Laufen neu. Seither benutzte sie im Haus eine Gehhilfe. Musste sie längere Strecken bewältigen, bediente sie sich dazu eines leichten Rollstuhls, den sie mit ihrer eigenen Armkraft und ihrem eisernen Willen fortbewegte.

Das Wimmern hinter der Tür schürte in mir die Sorge, Großmutter könne erneut gestürzt sein und sich etwas gebrochen haben. Einen Augenblick erwog ich, unbemerkt davon zu schleichen, zu tun, als wisse ich von nichts. Ich verbot mir diese Regung. Zaghaft klopfte ich an die Wohnzimmertür und trat schließlich, ohne die Aufforderung, einzutreten, abzuwarten, ein.

Großmutter hockte in ihrem geliebten Ohrensessel. Sie krümmte sich zusammen und stöhnte laut auf, als plagten sie starke Schmerzen. Ihr Gesicht war vom Weinen aufgedunsen, ihre Augen gerötet. Meine Großmutter, die ich nur nüchtern-kühl und beinahe fühllos kannte, heulte herzzerreißend. Aus der Nase leuchteten gelbe Rotzblasen, aus ihrem Mund rannen Speichelfäden. Großmutter, die für mich bis dahin die Beherrschung in Person verkörperte, hatte sich völlig ihrem Schmerz ergeben, als wünsche sie, in diesem Schmerz aufzugehen. Sie schimpfte unflätig und ohnmächtig in einem, mit ungewohnt ordinären Kraftausdrücken in sich hinein. Meine Anwesenheit hatte sie, trotz mehrerer Versuche, ihre Aufmerksamkeit zu erheischen, noch immer nicht wahrgenommen.

Noch konnte ich das Zimmer auf leisen Sohlen rückwärts verlassen, so tun, als sei ich nicht hier gewesen. Es war eine immense Versuchung, die ich verspürte, denn diese ganz und gar elende Großmutter ängstigte mich weitaus mehr als die gefühllose und beherrschte, die ich bislang kannte. Mit pochendem Herzen näherte ich mich zaghaft und unsicher der alten Frau. Mit weit ausgestrecktem Arm berührte ich sachte ihre Schulter.

„Großmutter, was ist mit dir?“, erkundigte ich mich mitfühlend. Sie reagierte erst, als ich, ihre Schulter schüttelnd, die Berührung verstärkte und meine Frage laut schreiend wiederholte. Ungläubig starrte sie mich aus ihren roten Augen an. Sie hielt in ihrem Klagen inne, als habe ich einen Film angehalten und begann im nächsten Moment wie gehetzt auf mich einzureden. Ihre Worte spiegelten Aufregung, Empörung und Wut. Ich merkte es daran, dass sie in das ihr verhasste Plattdeutsch verfiel. Indes es lag nicht am Platt, dass ich kein Wort verstand. Um mich herum, in Krambzow, wurde von den Alten allenthalben Platt gesprochen. Meine Mutter pflegte und bewahrte das Platt als ein Kulturgut der Region. Sie leitete seit Jahren eine Arbeitsgemeinschaft an der Schule, in welcher sie Kindern die Alltagssprache ihrer Großeltern nahe brachte, um deren Aussterben zu verhindern. Ich verstand nicht nur Platt, ich sprach es auch recht gewandt. Dennoch konnte ich mir keinen Reim darauf machen, was Großmutter von mir wollte. Die Worte vermischten sich in meinen Ohren zu einem ununterscheidbaren Wortbrei. Mein Unverständnis erwuchs aus Großmutters hart prasselndem Redefluss. Beruhigend redete ich auf Großmutter ein, versuchte ich, ihren Redefluss zu bremsen, derweil sie gebetsmühlenartig ihren Redeschwall erneut über mich ergoss. Schließlich gab ich hilflos auf und verstummte. Jetzt erst hielt auch Großmutter inne, als habe sie endlich mein Unvermögen, ihr zu folgen, registriert. Sie schnappte hektisch nach Luft wie ein Fisch, der die Wasseroberfläche durchstoßen hat.

„Kind“, fuhr sie mich herrisch an, „ick möt nach Zingst, ick möt! Bring mi sofort dor hin!“

„Aber Großmutter“, versuchte abzuwiegeln, „was willst du denn da? Du kannst doch gar nicht so weit laufen.“

„Ick möt! Begribst du denn gar nichts, du dummes Gör, ick möt!“

Sie zerrte ungeduldig an meinem Pullover, sie brüllte mich an, so dass ich erschrocken zurückwich. Der Schreck muss sich förmlich auf meinem Gesicht abgezeichnet haben. Sie ließ den Pullover los. Urplötzlich verlegte sie sich vom aggressiven Fordern aufs eindringliche Betteln und Beschwören.

„Kind, ich bitte dich, bring mich hin. Ich habe mein ganzes Leben ohne Klage alles getragen, was mir zugedacht war. Ich habe nichts verlangt, nur gewartet. Wenn es für mich noch irgendetwas von Belang gibt, dann ist das Friedhelms Beerdigung. Ich muss Abschied von ihm nehmen. Alles, alles was du verlangst, ich gebe es dir. Mein Sparbuch, das deiner Mutter nach meinem Tode zugedacht ist, du sollst es haben. Ich bitte dich, bitte dich voller Demut, bitte …“