Leben auf brüchigem Eis

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Ich spürte ganz deutlich, dass Großmutter die Worte nicht einfach so dahin sprach, um mich zu erweichen, sondern dass es ihr bitterernst damit war, dass sie das gegebene Versprechen einzulösen gedachte. Das Anliegen war ihr wichtig.

Und ein Zweites begriff ich nach und nach, etwas, das in den vielen Worten verborgen lag, etwas, das sich mir erst ganz allmählich, tröpfchenartig offenbarte: Onkel Friedhelm war tot.

Mama hatte mir bei unserem letzten Treffen berichtet, dass sie bei jedem Anruf ihrer Cousine Sabine mit dem Schlimmsten rechne, so sehr habe sich der Zustand des Onkels verschlechtert. Nun war er tot. Warum hatte Mama mir nichts davon gesagt? Wollte sie mich schonen? Innerlich empörte mich das: Was sollte diese Rücksichtnahme, um die ich nicht gebeten hatte?! Schließlich war ich kein Kind mehr!

Ehe ich noch ernsthaft darüber nachzudenken vermochte, warum meine Mutter mir den Tod meines lieben Onkels verheimlichte, setzte Großmutters eindringliches Bitten wieder ein.

Was sollte ich tun? Großmutter war eine alte Frau. Sie konnte nicht mehr gehen. Der eisige Wind würde ihr schaden, sie, eine dünne, auf unsicheren Beinen stehende Frau, mit seiner Macht womöglich umwerfen.

„Du wirst dich in der eisigen Luft erkälten“, versuchte ich sie umzustimmen.

„Na und! An irgendwas muss ich doch wohl sterben! Jetzt hat ohnehin nichts mehr Sinn. Bring mich hin, bitte. Ich biete dir das Kostbarste, das ich besitze. Ich biete dir mein Lebensgeheimnis. Ich werde es dir erzählen, nur dir und ohne Ausflüchte. Bitte, mein Kind, bring mich hin und du bekommst das Geheimnis. Ich schwöre es.“

Mit feierlicher Geste hob sie die knochige rechte Hand zum Schwur.

Großmutters Geheimnis, was mochte es bergen? Ich hatte den Köder bereits geschluckt. Meine Neugier machte mich der Bitte gegenüber gewogen. Ich brannte darauf, das Geheimnis dieser alten, unnahbaren Frau zu lüften und doch bremste mich etwas. Konnte ich die alte Frau diesem Wetter und solch einer Aufregung aussetzen? Was war, wenn sie mir in Zingst zusammenbrach?

Eine Entscheidung zu fällen, überforderte mich. Wen konnte ich um Rat bitten?

Noch ehe ich rational die Antwort fand, kramten meine Hände automatisch das Handy aus der Tasche. Ich klingelte Mama an und erwischte sie in Barth, mitten im Einkauf für unser Osterwochenende in der Ferienwohnung. Aus der Begrüßungsformel schwang ungetrübte Vorfreude zu mir herüber, Vorfreude, die mir seltsam deplatziert erschien.

So gut ich vermochte, schilderte ich meiner Mutter mit knappen Worten Großmutters Bitte. Nach wenigen Sätzen bereits merkte ich, dass etwas nicht stimmte, Mamas Art zu schweigen signalisierte mir das sehr eindringlich. Ich wusste sogleich, was nicht passte: meine Mutter kaufte ein, derweil Onkel Friedhelm beerdigt wurde.

Onkel Friedhelm war nach dem Tod von Opa Max für Mama eine Art Vaterersatz gewesen. Sein Tod bedeutete einen herben Verlust für sie. Dafür, dass Mama sorglos einkaufte, gab es nur eine einzige Erklärung: Meine Mutter wusste es ebenso wenig wie ich selbst.

Seit ein paar Wochen hatten Mama und Sabine sich darauf verständigt, dass Mama nicht mehr täglich, sondern nur noch einmal in der Woche anrufen solle, weil die Gespräche Sabines Kraft überstiegen. Sie arbeitete als OP-Schwester im Krankenhaus. Nach Feierabend pflegte sie zusammen mit ihrer Mutter den kranken Vater. Sie hatte ihm versprochen, ihn nicht wieder ins Krankenhaus zu bringen. Friedhelm wollte die letzten Tage und Wochen seines Lebens zu Hause, bei seiner Liese verbringen.

Wann mochte meine Mutter zuletzt mit Sabine geredet haben? Vor vier Tagen, bevor sie mit der Theatergruppe nach England flog?

Es muss bitter für Mama gewesen sein, die Nachricht von Friedhelms Tod auf diese Art und Weise von mir gehört zu haben. Ich merkte es an Mamas verbissener Wortkargheit.

„Mama, bist du mir böse“, fragte ich vorsichtig an.

„Nein, meine Schöne, auf dich nicht.“

Mama wartete am Friedhofstor. Weinend umarmten wir beide uns lange und fest. Erst jetzt stieg der Schmerz in mir auf, fasste mein Kopf endlich, was geschah. Ich musste mich an meiner Mutter festhalten, so weh tat mir Onkel Friedhelms Tod plötzlich. Mamas gerötete Augen verrieten mir, dass sie schon geweint hatte. Auch ihr rollten erneut Tränen über das Gesicht. Wir standen geraume Zeit, uns aneinander festhaltend und einträchtig miteinander weinend, so, als seien wir ganz allein auf der Welt.

Die Beerdigung war längst vorüber, der Friedhof lag verlassen im Dämmerlicht. Das Licht erzeugte in mir Ruhe und Melancholie, Verlassenheit und Schwermut in einem und verstärkte die Trauer um Onkel Friedhelm auf eigentümliche Weise. Die Welt um mich herum entrückte. Mir schien, als gebe es hier nur noch uns zwei, meine Mutter und mich. Großmutter hatte ich in diesem Moment ganz und gar vergessen. Stumm und geduldig wartete sie in ihrem dicken Biberpelzmantel, einen Wollschal um den Hals geschlungen, die Mütze auf dem Kopf, auf dem Beifahrersitz, bis ich mich ihrer erinnerte.

Von dem Moment ab, da sie wusste, ich würde sie nach Zingst bringen, war sie in undurchdringliches Schweigen versunken. Ihre Tränen waren versiegt, als habe sie diese nur geweint, um mich zu erweichen. Die ganze Autofahrt über hatte sie nicht ein Wort gesprochen, nur abwesend ins Weite gestarrt. Auch jetzt drängelte sie nicht, sie agierte ohne Hast, als habe sich ihr Ansinnen bereits erledigt. Sie wirkte angeschlagen und entrückt, schickte sich jedoch bereitwillig in Mamas Anordnungen. Vom Wasser her fegte der eisige Wind noch immer über das Land. Die hohen Wipfel der alten Friedhofsbäume bogen sich geschmeidig wie Tänzerinnen im Winde hin und her, obwohl sein wütende Fauchen schaurig klang. Trotz des kalten Windes fühlte ich mich an diesem Ort, in der Nähe meiner Mutter, auf wundersame Weise geborgen. Der Ort und das Licht passten zu meiner Trauer. Wir waren ganz allein auf dem Friedhof. Wir, drei Frauen einer Familie, die drei aufeinander folgenden Generationen angehörten und die wir, jede auf ihre Weise, durch Friedhelms Tod einen herben Verlust erlitten hatten. Es mag seltsam anmuten, aber irgendwie einte uns der Verlust in diesem Moment in einem Maße, wie es das Leben zuvor nicht vermocht hatte.

Mama schob Großmutter in ihrem Rollstuhl zwischen Gräberreihen hindurch zielstrebig zu einem frischen Grabhügel, den Blumen und Kränze bedeckten. Auf einem schlichten Holzkreuz prangte der Name: Friedhelm Mertens.

Großmutter beäugte das Kreuz ungläubig, als müsse ein Irrtum vorliegen. Mama und ich verharrten reglos. Wir hielten uns bei den Händen und weinten erneut stumm in uns hinein. Niemand von uns verspürte das Bedürfnis, zu reden, dem Anderen etwas mitzuteilen. Das Schweigen, welches zwischen uns herrschte, war einträchtig, bis Großmutter es durchbrach. Sie hatte auch hier, am Grabe, nicht mehr geweint. Dennoch wirkte ihre Stimme brüchig und belegt: „Lasst mich allein! Ich möchte Abschied nehmen“, verlangte sie barsch.

Der Ton ihrer Forderung missfiel mir. Darin manifestierte sich etwas Besitzergreifendes, das Großmutter in meinen Augen nicht zustand. Mir schien es beinahe so, als spräche sie mit dieser Forderung uns beiden, Mama und mir, das Recht ab, hier zu stehen und zu trauern. Auch Mama zog, ein untrügliches Zeichen ihres Unbehagens, die linke Augenbraue hoch. Sie ließ sich jedoch heute auf keine Diskussion mit ihrer Mutter ein.

„Gut, Mutter, in einer halben Stunde hole ich dich ab.“

Mama und ich zogen uns derweil in den Windschatten der Friedhofskapelle zurück, wo wir uns erneut umarmten. Mamas ganzer Körper kündete von Trauer und verhaltener Wut.

„Du bist böse, nicht wahr?“

„Ja, aber nicht auf dich.“

Sie wischte mir eine Haarsträhne aus der Stirn und streichelte behutsam meinen Rücken und ich wusste, dass ihr Unmut wirklich nicht gegen mich gerichtet war.

Nach einer halben Stunde war Großmutter trotz des dicken Mantels völlig durchgefroren. Sie sprach kein Wort mehr. Wir brachten sie vom Friedhof aus zurück in ihre Wohnung. Auch jetzt blieb sie stumm und reglos. Widerstandslos ließ sie sich aus den Sachen schälen und legte sich wie ein erschöpftes Kind sogleich ins Bett. Starr, wie eine Puppe, lag sie auf dem weißen Kissen. Erst als ich die Schlafzimmertür hinter mir schließen wollte, rief sie mir nach: „Danke vielmals. Das werde ich dir nie vergessen.“

Ob sie Mama oder mich meinte, blieb offen; vielleicht verschmolzen wir beide in diesem Moment für sie zu einer einzigen Person.

2

Tante Annelies erwartete uns bereits unruhig. Ihr phänomenales Gedächtnis hatte trotz allen Kummers und trotz aller Aufregungen sicher gespeichert, dass wir über Ostern bei Frau Krawuttke Quartier bestellt hatten. Die Begrüßung durch die Tante fiel herzlich wie immer aus. Mich umarmte sie warm und anheimelnd; ein vertrautes Gefühl von Sicherheit und Gewogenheit stellte sich augenblicklich ein.

Tante Annelies hatte aus unserem Fehlen auf Friedhelms Beerdigung eigene Schlüsse gezogen, sie wähnte uns ahnungslos, was Onkel Friedhelms Tod betraf. Mama schilderte der Tante mit knappen Worten die Geschehnisse des Nachmittags und machte aus ihrem Unmut keinen Hehl.

„Ick hev mi dacht, dat du nich Bescheid weeßt“, resümierte die Tante ihren Eindruck vom Zusammensein der Verwandten auf dem Leichenschmaus. „Ich hevt nich wusst, ob du von England weder dor bist. Dine Moder und Grisi wollten di Nachricht geben, dat het Grisi Sabine versproken. To mi het Grisi secht, dat du noch in England bist. God, hev ich dacht, denn kummt se in de Nacht. Du wärst nich wech bleben, wenn du schon weder da wärst, du hest tu sihr an Friedhelm hangen. Na und to Hanna secht se, dat se di nicht kunnt erreichen. Ick weeß nich, ob se nich me wusst het, wat se to mi hes secht or ob se im Kopp tüdelig west ist von de ganze Schwindelei.“

 

Immer, wenn die Tante sehr bewegt war, verfiel sie automatisch ins Plattdeutsche, gerade so, als schlüpfe sie in einen Schutzmantel. Im Platt schien sie sich dann sicherer zu fühlen.

An diesem Abend sprachen Mama und die Tante nur Platt miteinander. Auf diese Art und Weise schien es der Tante einfacher, all das auszusprechen, was sie im Innersten bewegte. Ich saß dabei und beschränkte mich, sprachlos vor Kummer, auf das Zuhören.

Zuerst schilderte uns die Tante Onkel Friedhelms letzte Tage, die von unsäglichen Schmerzen geprägt waren, so dass sein Tod für ihn eine Erlösung bedeutet haben muss. Diese Deutung stellte für die Tante einen Trost dar, den sie benötigte, um nicht selbst ins Bodenlose zu fallen. Tante Annelies hatte ihren Mann viele Monate lang gepflegt, ohne sich selbst zu schonen. Über die Mühsal klagte sie nicht. Bei unserem letzten Besuch, kurz nach dem Jahreswechsel, hatte sie Mama versichert, dass sie die Pflege gerne leiste, weil sie Friedhelm viel mehr als sie je geben könne, schulde. Ich hatte den Sinn dieser Worte, ehrlich gesagt, nicht begriffen, mich jedoch gescheut, Mama um eine Erklärung zu bitten.

Nach Monaten, in denen der Tante kaum eine Minute des Tages für sich selbst verblieb, in denen sie gehetzt von Pflichten, den Tag zu verlängern wünschte, musste ihr die Unmenge an Zeit, die ihr nunmehr gehörte, schwer anhängen. Trotzdem war nach der Beerdigung keine der beiden Töchter bei der Mutter geblieben. Das verwunderte mich.

„Ick hev de heimschickt, to ihre Familien. Ick hev doch wußt, dat ju kummt“, lautete ihre einfache und pragmatische Erklärung.

Später begriff ich, dass die Tante Hanna und Sabine nicht allein deshalb nach Hause geschickt hatte, weil sie über Wochen tagtäglich gekommen waren, um die Mutter in der Pflege ihres todkranken Vaters zu unterstützen. Sie muss sich schon länger mit dem Gedanken getragen haben, irgendwem ihre und Friedhelms Geschichte zu erzählen. Ihre Wahl war auf die Nichte gefallen.

Warum sie Mama für diese Beichte auswählte, darüber kann ich nur spekulieren. Zum einen glaube ich, sah sie in ihr zeitlebens nicht nur Arabella, ihre Nichte, sondern auch das geliebte Kind ihres Bruders. Alle, die meinen Großvater kannten, beteuerten zuweilen, Arabella sei ihm sehr ähnlich. Nicht nur der hohe Wuchs war ihnen gemeinsam, sondern auch die Lebensanschauungen von Vater und Tochter waren wesensverwandt. Sowohl zu ihrem Bruder wie auch zu dessen jüngster Tochter besaß Annelies ein enges und inniges Verhältnis. Zum anderen befürchtete die Tante vielleicht, ihre Töchter könnten, wenn sie alles wüssten, was die Mutter so lange in sich verschlossen hatte, mit Verachtung auf die eigene Mutter schauen: Sie standen der Tante zu nahe. Um all die Dinge ungeniert aussprechen zu können, die der Tante auf der Seele brannten, bedurfte es eines gewissen Abstands. Außerdem wusste die Tante ihre Worte bei Mama wohl verwahrt. Arabella würde das Gehörte nicht breit treten, sie verstand, ein Geheimnis zu hüten. Wenn es dazu noch so etwas wie einen letzten Grund gab, Arabella zu wählen, dann den, dass ihr, genau wie Max, nichts Menschliches fremd war. Sie verurteilte niemanden vorschnell, sondern bezeigte Verständnis und Nachsicht gegenüber allen menschlichen Schwächen. Arabella, dessen muss sich Tante Annelies gewiss gewesen sein, würde sie auch nach ihrer Beichte gern haben, sie würde ihr, einer alten Frau, ihre Zuneigung nicht entziehen.

Zunächst aßen wir Abendbrot, ein Abendbrot, das nicht recht schmecken wollte angesichts von Friedhelms verwaisten Platz am Küchentisch. Nach dem Essen öffnete Mama eine Flasche schweren roten Weins und wir tranken den ersten Schluck im Gedenken an den Onkel. Mama nippte nur an ihrem Glas, dann begann sie unvermittelt davon zu sprechen, was Friedhelm ihr bedeutet hatte.

Bereits als kleines Kind litt meine Mutter darunter, dass ihre Mutter, meine Großmutter, sie unmissverständlich ablehnte. So sehr sie sich mühte, den Wünschen ihrer Mutter zu genügen, nichts konnte sie ihr recht machen; Großmutter blieb dem Kind Arabella gegenüber kühl reserviert, während sie Grisi – sofern sie das überhaupt vermochte – verhätschelte. Opa Max, Mamas Vater, mühte sich, die Abweisung seiner Frau zu kompensieren. Er versuchte, seinen Lebenshunger auf seine Töchter zu übertragen, er verschenkte seine überquellende Freude und Zärtlichkeit an beide. Arabella nahm diese Gabe voller Zutrauen an, während Grisi ihrem Vater stets nur halbherzig zugetan war. Mit einem Auge schielte sie immer zur Mutter hin, allzeit darauf bedacht, sich zuerst deren Billigung zu sichern. Verzog Großmutter das Gesicht angewidert, wenn Max wieder einmal übermütig mit seinen Töchtern tollte, dann entwand sich Grisi Großvaters Armen und heftete sich augenblicklich an Großmutters Rock. Arabella indes fand bei ihrem Vater die Zuwendung, nach der sie gierte und genoss sie in vollen Zügen. Das Buhlen um die Gunst ihrer Mutter, um ein paar Streicheleinheiten, hatte sie irgendwann aufgegeben. Sie entwickelte ein gesundes Selbstbewusstsein, das aus der vorbehaltlosen Liebe ihres Vaters gespeist wurde. Solange ihr Vater lebte, besaß meine Mutter in ihm einen starken und verlässlichen Rückhalt in der Familie, aus dem sie Kraft und Sicherheit bezog. Opa Max liebte Arabella so wie sie war: wild, risikofreudig, zutraulich, lebensfroh und voller Energie. Arabella, das war sein Kind. In ihr fand er das gleiche Naturell wieder, das auch ihm eigen war. Er und die Kleine besaßen verwandte Seelen. Das sichere Hinterland meiner Mutter brach weg, als Opa Max ganz plötzlich an einem Schlaganfall starb. Die Anzeichen für seine Krankheit hatte er über Jahre hinweg beharrlich ignoriert. Er konnte nicht anders denn aus dem Vollen leben. Ein halbes Leben gab es für ihn nicht.

„Leben ist immer lebensgefährlich!“, so lautete einer seiner Lieblingssprüche.

Auf etwas zu verzichten, was das Leben in seinen Augen lebenswert machte, bloß um ein wenig Zeit herauszuschinden, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Das Leben war allzeit jedes Risiko wert.

Er starb mit einundsechzig Jahren. Mit seinem Tod brach für meine Mutter der Halt in der Familie weg, sie stand von einem Tag auf den anderen allein da. Nicht ein Mal kam Großmutter nach Max’ Tod nach Krambzow, gerade so, als sei mit ihrem Mann auch endlich die ungeliebte Tochter gestorben. Meine Großmutter hatte das Leben dieser Tochter nie gutgeheißen, im Beruflichen ebenso wenig wie im Privaten. Vielleicht hätte sich meine Großmutter eines Tages mit ihrer jüngeren Tochter arrangiert, hätte Arabella sich Großmutters gebietendem Wunsch gefügt, Medizin zu studieren und Gertruds Nachfolge als Ärztin in Geestade anzutreten. Jedoch was kümmerten Arabella die Wünsche ihrer Mutter. Es war ihr Leben und sie dachte nicht daran, sich dieses aus der Hand nehmen zu lassen.

Vor allem die Liebe zwischen meiner Mutter und meinem Vater, Fernando Gomez, billigte Großmutter niemals. Nur ein einziges Mal brachte Mama ihn mit nach Hause. Damals lebte ihr Vater noch. Opa Max war dem Paar wohl gesonnen, aber Großmutter artikulierte ihre kalte Abweisung offen. So blieb es bei diesem einen Besuch, obwohl meine Mutter und mein Vater elf Jahre lang miteinander lebten – allerdings ohne Trauschein. Mein Vater war bereits verheiratet und er hatte eine Tochter, als er ins Land kam. Er war vor der Pinochet-Diktaturaus Chile geflohen. Frau und Tochter musste er im Ungewissen über ihr Schicksal zurücklassen. Großmutter indes interessierte sich nicht für die außergewöhnlichen Lebensumstände von Fernando Gomez. Sie lehnte ihn ab und wünschte gar nicht erst, ihn näher kennen zu lernen. Opa Max indes mochte Fernando, obwohl er wusste, dass dieser Mann seiner Tochter irgendwann einen bitteren Schmerz zufügen würde. Fernando Gomez machte nämlich zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus, dass er, sobald als möglich, nach Chile, in seine Heimat, zurückkehren wolle. Das wusste auch Arabella. Trotzdem war es ausgerechnet dieser Mann, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Irgendwann – dieser Zeitpunkt war weit weg – würde Fernando fortgehen. Was kümmerte sie jetzt schon das Irgendwann?

Irgendwann, der hartnäckig verdrängte Zeitpunkt, trat ein, kurz nachdem Opa Max gestorben war. Fernando beschwor Arabella eindringlich, mit ihm zu gehen. Er würde die Scheidung einreichen und mit ihr, der Frau, deren Leben er seit elf Jahren teilte, alt werden wollen, ihre gemeinsame Tochter aufwachsen sehen. In den elf Jahren, die er fernab seiner Heimat gelebt hatte, war Carmen, seine Ehefrau, für ihn eine Fremde geworden und er ihr ein Fremder. Arabella lehnte den Vorschlag ab, nicht aus Mitleid mit der unbekannten Frau Gomez, nicht, weil sie Fernandos Versprechen misstraute, sondern weil sie wusste, dass das Heimweh ihre Liebe aufzehren würde. Ein gutes halbes Jahr vor Fernandos Rückreise gebar Arabella eine Tochter, Eva. Mich!

Das Haus in Krambzow war saniert, Mama besaß eine gute Arbeit und mich, ihre Tochter. Aber sie stand ganz allein da.

Nach Max’ Tod hatten sich Annelies und Friedhelm verpflichtet gefühlt, seiner jüngsten Tochter beizustehen, ihr die Unterstützung zu gewähren, welche die eigene Mutter Arabella beharrlich versagte. Onkel Friedhelm war ohne große Worte als eine Art Ersatzvater für Mama eingesprungen. Für mich verkörperte er, solange ich denken kann, eine Mischung aus einem guten Onkel und einem liebevollen Opa.

„Ohne meinen lieben Friedi“, so resümierte Mama traurig, „ich weiß nicht, ob ich das ausgehalten hätte. Er war für mich wie ein zweiter Vater. Das weiß Grisi genau. Ich habe es ihr oft genug gesagt. Es ist einfach eine Unverschämtheit von ihr, mir nicht mal Friedhelms Tod mitzuteilen, zumal sie es Sabine versprochen hatte.“

Tante Annelies zog Mamas Kopf zu sich heran und knuddelte sie liebevoll.

„Lass gut sein, du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hast Friedi, solange er lebte, Gutes getan und Gutes gewollt. Du bist so anders als deine Schwester. Immer erinnerst du mich an meinen Bruder, so voller Kraft und so fröhlich. Bei dir merkt man, dass du mit deinem Leben zufrieden bist. Du kannst von deinem Glück abgeben, bist nicht ewig wehleidig und neidisch auf alles und jeden. Aus Neid kann nichts Gutes wachsen; so macht man sich keine Freunde. Manchmal beklagt sich Grisi bei mir, sie könne nicht verstehen, wieso alle Welt dich mag. Sie tut mir leid … Gott, wer möchte schon mit endlosen Klagen überschüttet werden? So richtig aus vollem Herzen einem anderen ein gutes Wort schenken, das habe ich bei deiner Schwester nicht erlebt. Sie hat gar nichts von meinem Bruder geerbt, manchmal ulke ich: Sie ist ein Kuckuckskind.“

„Aber sie kann doch ihr verkorkstes Leben nicht mir anlasten“, warf Mama verzweifelt ein.

„Das ist wohl wahr. Man muss das Glück würdigen, das einem zuteilwird und nicht argwöhnisch auf das der anderen blicken, immer messen und wägen. Ich habe in meinem Leben ein unbeschreibliches Glück erfahren …“

Mit diesen Worten, beinahe flüsternd, als sei ihr das selbst heute noch peinlich, vertraute die Tante meiner Mutter an diesem Abend etwas an, das mich in erstauntes Schweigen versetzte. Sie erzählte, wie sie Friedhelm kurz nach dem Krieg kennengelernt hatte.

Solange ich denken kann, bezeichnete die Tante Friedhelm als den größten Glücksfall ihres Lebens. Jeder Mensch brauche wenigstens ein Mal im Leben Glück und ihres trage einen Namen: Friedhelm. Diese Sätze, sie prägten sich mir tief ein. Ich entsinne mich, dass ich, noch klein, ich ging in die zweite oder dritte Klasse, meine Mutter einmal fragte, was dieser Satz bedeute. Mama erklärte mir, dass die Tante in Onkel Friedhelm den Mann getroffen habe, den sie mehr als alles andere auf der ganzen Welt liebe.

„Mehr als Hanna und Sabine“, vergewisserte ich mich, um Verstehen bemüht.

„Ja, mehr als ihre Kinder“, beteuerte mir meine Mutter.

Später kamen wir in unseren Gesprächen so manches Mal darauf zurück, prüften und wendeten die Worte hin und her. Ich hatte die Aussage der Tante immer besser verstanden, nicht weil die Erklärungen präziser geworden waren, sondern, weil ich in den langen Jahren, die wir einander kannten, mit allen Sinne erlebt hatte, wie liebevoll Onkel und Tante miteinander umgingen. Aus meinen Beobachtungen schloss ich, dass ihre Augen, ihre Gesten und ihre Körper immerfort von ihrem glücklichen Miteinander kündeten. Ich weiß nicht, ob ein solches Glück einer Erklärung bedarf. Irgendwann hatte ich aufgehört, rationale Gründe dafür zu suchen. Wenn es überhaupt so etwas wie eine schlüssige rationale Erklärung für Tante Annelies’ Behauptung gab, dann bekam ich sie an jenem Abend, da uns die Trauer um Onkel Friedhelm einte, geliefert.

 

Als der Krieg aus war, war Annelies neunzehn Jahre alt und eine überaus hübsche junge Frau. Sie lebte mit ihren Eltern, nahe Kogenhagen, in einem Haus am Waldrand. Ihr Vater, Hans Ludewig, war Förster und das Forsthaus sein Zuhause. Das Haus stand abseits der Siedlung, regelrecht abgelegen. Jeden Morgen und jeden Abend bedurfte es eines langen Fußmarsches, ehe Annelies das Gut erreichte, auf dessen Feldern sie arbeitete. Geld bekam sie keines, aber satt zu essen und eben Naturalien, Mehl, ein paar Eier, Getreide, Dinge, die damals nicht mit Gold aufzuwiegen waren.

Eines Nachts drangen die Russen in das abgelegene Haus ein. Sie suchten nach desertierten Wehrmachtssoldaten, die es freilich im Haus nicht gab, dafür aber zwei Frauen, welche sogleich ihre Aufmerksamkeit erregten. Der noch junge Offizier griff sogleich nach Annelies. Ihre Mutter schrie gellend, man solle ihre Tochter in Ruhe lassen und sie stattdessen nehmen. Man nahm sie beide. Annelies wurde in dieser Nacht von drei Männern vergewaltigt. Danach wünschte sie sich, voller Scham und Verzweiflung, nur noch zu sterben. Jedoch sie überlebte, fortan von panischer Angst vor jedem männlichen Wesen beherrscht. Sobald ein Mann dichter als einen Meter an sie heran trat, fing ihr Herz zu rasen an, traten ihr dicke Schweißperlen auf die Stirn und vermochte sie an nichts anderes als an Flucht zu denken. Selbst eine zufällige Berührung bei der Arbeit konnte sie nicht mehr verkraften. Ihr Leben schien nach jener Nacht für alle Zeit zerstört. Alles, was Annelies bislang als in höchstem Maße begehrenswert erschienen war: heiraten, Kinder bekommen, all das wirkte nunmehr abstoßend, schmutzig und roh. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals wieder freiwillig von einem Mann berühren lassen würde. Sie wollte nur eines: in Ruhe gelassen werden.

Endlich herrschte Frieden, ein Zustand, der ihr noch vor ein paar Monaten als höchster aller Wünsche galt. Ihr Bruder würde hoffentlich gesund aus dem Krieg heimkehren, die Furcht, er könnte, kurz bevor alles vorüber war, noch sterben, würde abfallen. Endlich war Frieden, aber für sie besaß er keinen Wert mehr. Sie mied ihre Freundinnen und das Dorf. Am liebsten hätte sie sich in ein Erdloch verkrochen, um zu sterben.

Das Forsthaus, in welchem Annelies groß geworden war, das sie so sehr liebte, auf einmal war es ihr unerträglich. Ebenso die Blicke der Leute, in denen sie – trotz ihres Schweigens – Wissen und Vorwurf zu lesen meinte. Sie wollte weg aus Kogenhagen, weg von den Erinnerungen an jene Schreckensnacht.

Arbeit fand sie in der Stadt, in der Fischfabrik und einen Platz im Wohnheim, in einem spartanischen Zimmer, das sie sich mit drei anderen Frauen ihres Alters teilte. Während ihre Mitbewohnerinnen die Enge und die fehlende Intimität des Zimmers immerfort beklagten, fühlte sich Annelies darin allzeit sicher und wohl. Die Arbeit gefiel ihr. Die girrende Lebenslust ihrer Mitbewohnerinnen schwappte ein wenig auch auf sie über.

Ganz allmählich schwächte sich die Angst vor Männern ab und irgendwann fand sie sich bereit, mit den Gefährtinnen aus dem Zimmer zum Schwof zu gehen. Sobald sich jedoch ein Mann näherte, um Annelies zum Tanz aufzufordern, begann ihr Herz ängstlich zu klopfen. Es kostete sie Überwindung, mit einem Mann zu tanzen, sich von einem Fremden anfassen zu lassen. Doch im selben Maße, wie neuer Lebensmut in Annelies reifte, versiegte die Angst mehr und mehr. Schließlich hatte sie – genau wie die Freundinnen – so etwas wie einen Verehrer, der sie regelmäßig zum Tanz aufforderte und der sie nach dem Tanz zum Wohnheim geleitete. Nach zaghaften Annäherungen tauschte Annelies schließlich irgendwann auf dem Heimweg ein paar Küsse mit ihm. Bis hierhin fand sie alles in Ordnung. Dem Freund freilich war das nach geraumer Zeit nicht mehr genug. In einer lauen Sommernacht begehrte er mehr. Er hielt Annelies’ flehentliche Bitte, von ihr abzulassen, zunächst für einen Jux, der seine Lust zusätzlich anstachelte. Es spornte seinen Ehrgeiz an, den Widerstand zu brechen, der ihm, in dieser Heftigkeit unerwartet, entgegenschlug. Ungeachtet ihrer Panik und der nackten Furcht in ihren Augen, ungeachtet der flehentlichen Blicke, schob er seine Hand unter Annelies’ Kleidung. Mit der anderen Hand öffnete er seine Hose. In ihrer nackten Angst kam Annelies gar nicht auf den Gedanken, lauthals um Hilfe zu schreien. Sie erstarrte förmlich und wurde in dieser schönen Sommernacht erneut vergewaltigt. Erst als alles vorüber war, als der Mann seine Hose zuknöpfte und zu sprechen anhob, löste sich der Krampf und Annelies begann laut gellend und verzweifelt zu schreien. Der Mann bat sie, ruhig zu sein. „Es ist doch gut“, versuchte er Annelies zu beschwichtigen.

Aber Annelies befand sich in einem schweren Schockzustand, sie schrie durchdringend. Als sie trotz seines Bittens die Stimme noch lauter erhob, schlug er sie mit der flachen Hand k. o. und verschwand eilig in der Dunkelheit des Parks.

Sie muss ohnmächtig gewesen sein, denn als sie zu sich kam, beugte sich ein unbekannter Mann über sie, der ihrer Angst sogleich neue Nahrung bot. Sie brüllte wie ein Tier, bis der Krankenwagen kam und sie noch immer schreiend ins Spital brachte.

Am nächsten Tag besuchte sie zuerst ein Polizist, um sie nach dem Vorfall in der Nacht zu befragen, dann ein schüchterner junger Mann, der ihr ein paar Feldblumen brachte und sich dafür entschuldigte, ihr Angst eingeflößt zu haben. Er und ein Freund hatten auf dem Heimweg ihre Schreie gehört. Sie wollten helfen. Eilig hasteten sie durch den Park, in die Richtung, aus welcher der Hilferuf erschallte. Sie sahen einen Mann in die Dunkelheit entliehen. Annelies fanden sie Minuten später in einem Gebüsch, leblos. Zunächst glaubten sie die Frau tot, dann aber regte sie sich und der Freund eilte, einen Krankenwagen zu rufen, während der junge Mann bei ihr blieb und versuchte, beruhigend auf sie einzusprechen.

„Es tut mir leid, dass wir zu spät kamen, um das zu verhindern. Das sind jetzt schlimme Zeiten, beinahe wie im Krieg. Es tut mir so leid, Annelies“, versicherte der fremde Helfer.

Er kannte ihren Namen. Er kannte sie. Er wusste von ihrer neuerlichen Schande. Wer war der Unbekannte? Sie vermochte ihn nirgends zuzuordnen. Ängstlich erfragte sie seinen Namen.

Der Fremde hieß Friedhelm Mertens. Sein Vater war Waldarbeiter im Kogenhagener Forst gewesen. Annelies hatte Friedhelm niemals zuvor gesehen, auch an seinen Vater besaß sie nur vage Erinnerungen. Aber sie kannte die tragische Familiengeschichte der Mertens’. Drei ihrer vier Söhne waren im Krieg gefallen. Als auch der jüngste, Friedhelm, kurz vor Kriegsende die Einberufung zum Militär bekam, packte die Mutter der Wahnsinn. Der Vater ertränkte fortan seine Sorge um den einzigen verbliebenen Sohn im Schnaps. Annelies’ Vater, der Revierförster, verstand seinen Waldarbeiter nur zu gut. Er ermahnte ihn wieder und wieder, nicht betrunken zur Arbeit zu kommen, aber er „roch“ jeden Tag erneut über Karl Mertens’ Fahne hinweg.

Eines Nachts, kurz vor Ende des Krieges, als unzählige Militärautos auf dem Rückzug über die Landstraßen rasten, wurde Karl Mertens überfahren. Er hatte sich irgendwo betrunken und, die volle Straßenbreite ausschreitend, den Heimweg gesucht, als das Auto ihn frontal rammte. Er war sofort tot.

Als der jüngste Sohn wohlbehalten aus der Gefangenschaft heimkehrte, fand er von seiner Familie niemanden mehr. Dieses Schicksal hatte Mitgefühl erregt, es hatte in und um Kogenhagen lange für Gesprächsstoff gesorgt und war auch Annelies bekannt. Was sie nunmehr am meisten erstaunte und zugleich beunruhigte war die Tatsache, dass der junge Mann Schuld an ihrer Misere empfand, er, der wahrlich schuldlos an ihrem Leid war. Er besuchte sie in den Folgetagen öfter. Mitfühlend erkundigte er sich, ob er ihren Eltern Bescheid geben solle.