Kunst des Historismus

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Technik trifft auf Tradition: die Eisenbahn

Nachdem in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts die erste dampfbetriebene Eisenbahn noch in gemächlichem Tempo über die Gleise gerollt war, setzte sich diese neue Fortbewegungstechnik in Amerika wie auch in Europa mit atemberaubender Geschwindigkeit durch. Auf deutschem Boden entwickelte sich aus dem Pionierprojekt der 1835 gegründeten Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth sukzessive ein kleines Netz meist privat finanzierter Städteverbindungen. Als das immense Potenzial dieser neuen Art des Reisens und des Transports offenkundig wurde, war der preußische Staat schnell bei der Hand und leitete bereits 1850 einen Verstaatlichungsprozess ein, der dreißig Jahre später zu einem reinen Staatsbahnsystem führen sollte. In Frankreich wiederum entstanden während dieser Jahrzehnte mächtige Eisenbahngesellschaften, die zu den ersten wirklich großen modernen Unternehmen der Neuzeit gerechnet werden müssen. Der ökonomische Erfolg stellte sich spätestens dann ein, wenn, wie in Frankreich, der mühevolle Ausbau des Eisenbahnnetzes durch die sinnvolle Verknüpfung aller Einzelstrecken und Bahnhöfe beendet war und zeitintensive, unweigerlich über ein bestimmtes Zentrum führende Reisen effektiv verkürzt werden konnten.

Sowohl die Eisenbahn als Maschine als auch ihre Gebäude, die Bahnhöfe, waren Errungenschaften allein des 19. Jahrhunderts und damit ohne jegliche historische Vorbilder. Es gab keine überlieferte Architekturtypologie, keine tradierte Ikonographie, die man in der Gegenwart für diese Zwecke hätte adaptieren können. Am Anfang stand deshalb der konventionelle steinerne Bahnhof, der eine meist eingleisige Bahnstrecke bediente – die voranschreitende Expansion des Eisenbahnnetzes führte jedoch dazu, dass so manches frühe Bahnhofsgebäude bereits nach wenigen Jahrzehnten einem Neubau weichen musste. Solche Neubauten entwickelten sich dann bald zu mit Eisen und Glas überwölbten Hallen, die alle Gleise unter einem weit gespannten Dach bündeln konnten. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass diejenigen Bereiche, in denen sich das wartende Publikum aufhielt, sich ausruhte oder einen Imbiss zu sich nahm, stets in konventioneller Bauweise errichtet waren, also das vertraute,

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menschliche Maß zu beschwören suchten. Die alle bisherigen Höhendimensionen sprengende Gleishalle war dagegen ein angemessener ‚Stall‘ für das ‚Feuerross‘ – wie die Lokomotive anfänglich so ehrfurchtsvoll und zugleich poetisch bezeichnet wurde –, dessen Dampf sich in der schwindelnden Höhe der riesenhaften eisernen Bogenkonstruktion verlieren konnte. Auch der Kölner Hauptbahnhof aus der Mitte des 19. Jahrhunderts musste ab 1889 einem Neubau dieser Art weichen und konnte dann mit einer Besonderheit beeindrucken: Das Wartesaalgebäude in Form eines konventionellen Pavillons wurde zum Gebäude im Gebäude, indem man es direkt in die Perronhalle aus Eisen und Glas hineinpflanzte. Die Überlegenheit der neuen Technik triumphierte vordergründig sichtbar über die traditionelle Bauweise, aber eigentlich handelte es sich gewissermaßen um ein Experiment im Gewächshaus: Weil der Wartesaal von außen nicht sichtbar war, konnte an ihm materiell und stilistisch mittels einer neuartigen Bauweise aus Eisenfachwerk mit glasierten Terrakotten experimentiert werden.

Aber auch die genialen Eisen-Glas-Konstruktionen entbanden die Architekten nicht von der Aufgabe, eine bauliche Lösung für die Gebäudeteile zu finden, die für die Abwicklung vor und nach der Reise notwendig waren. Gerne griff man auf Metaphern wie Triumphbogenmotive oder Torfassaden, die von Türmen flankiert wurden, zurück, um auf das historische Stadttor zu rekurrieren, das man beim Verlassen einer Stadt passieren musste. Auch die kaiserzeitliche römische Monumentalarchitektur, wie zum Beispiel der Thermenbau, der in seiner Weitläufigkeit darauf ausgerichtet war, Menschen in großen Massen aufzunehmen und zu regulieren, gibt sich unter anderem in teils riesenhaften halbrunden Fenstern zu erkennen. In der Verbindung mit Formen der Renaissance, die man beim Bau von Bahnhöfen allen anderen Stilepochen vorzog, wurde schließlich doch eine gewisse Historizität generiert, die stilistisch auch internationalen Ansprüchen genügen konnte.

Die Definition des Gebäudes war geleistet, nun stellte sich die Frage, wie man dieses ausschmücken sollte, ohne dafür, wie Hugo Blümner in seiner Publikation „Über den Gebrauch der Allegorie in den bildenden Künsten“ von 1881 ironisch anmerkte, auf die „Statuen eines Heizers, Lokomotivführers, Condukteurs u. dgl.“ zurückgreifen zu müssen – was

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dann doch des Realismus zu viel gewesen wäre (Wagner 1998, Zitat S. 171). Man entschied sich angesichts dieses Motivmangels bei Skulpturen oder Reliefs meist für die Personifikationen von Merkur, der in der römischen Antike unter anderem für den Handel zuständig gewesen war, für ‚Industria‘, die lateinische Betriebsamkeit, oder auch für Personifikationen derjenigen Städte, die durch die Eisenbahn verbunden waren. Etwas bemüht waren Interpretationen der Dampfkraft, der Telegrafie oder der Elektrizität, generell aber wurde das Ziel anvisiert, der profanen Technik eine Gestalt zu geben, der man auf einer emotionalen Ebene begegnen konnte. Die großen, konventionell gemauerten Wandflächen des Empfangsgebäudes eigneten sich selbstverständlich auch für die Monumentalmalerei. Zu Beginn der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts erhielt der Maler Hans Canon den Auftrag für die Ausmalung des Großherzoglichen Wartesaales im Karlsruher Bahnhof, der zwanzig Jahre zuvor von Friedrich Eisenlohr errichtet worden war. Ein erhaltenes Ölgemälde mit dem Titel „Allegorie des Eisenbahnbaus“ zeigt flügellose Putten in Rubens-Manier, aus Gründen der Züchtigkeit mit schmalen Lendentüchern bekleidet, die sich vor der Kulisse eines barock-wolkigen Himmels teils mit dem Verlegen von Eisenbahnschwellen und -gleisen abmühen, teils die Aufgaben eines Landvermessers oder Aufsehers übernehmen. Die unleugbare Verniedlichung und Romantisierung von harter und prosaischer Arbeit, wie sie hier demonstriert wurde, stellte den – selbstverständlich spielerisch gemeinten – Versuch dar, die Nüchternheit des Sujets mithilfe einer frei erfundenen Ikonographie zu veredeln und gleichzeitig der neuen, in einer historischen Auffassung dargestellten Technologie zu einem rückdatierten geschichtlichen Ursprung zu verhelfen. Das gleiche galt für die Verherrlichung des neuen Fortbewegungsmittels und seiner Technik in Festzügen, wie zum Beispiel 1879 anlässlich des Makart-Festzuges in Wien, als die Eisenbahn mit einem eigenen allegorischen Festwagen geehrt und damit ideell in das von bürgerlichen Kreisen favorisierte 16. Jahrhundert zurückversetzt worden war.

Der Bahnhof als solcher hatte keinen Bezug zur Muße, zur Bummelei, zum Lustwandeln. Hier war alles in Bewegung, man kam an, man fuhr fort, man war in Eile – kein Ort also, der zum langfristigen Aufenthalt oder Verweilen einlud oder auch nur annähernd dafür

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konzipiert war. Große, unübersehbare Uhren übernahmen die pädagogische Aufgabe, den Reisenden stets an die vergehende Zeit zu erinnern, die Uhr überhaupt diktierte das Tempo an diesem Ort der Anti-Kontemplation, weil die Bahn den Zwängen des Fahrplans unterlag, der Pünktlichkeit forderte und – sehr demokratisch – keine Rücksicht auf verspätete Reisende nahm. Um die reibungslose logistische Abfertigung der Menschenströme zu gewährleisten, wurden Ankunfts- und Abfahrtsbereiche getrennt.

Im Bahnhof trafen das Bürgertum und der Adel schließlich auch wieder in einer gesellschaftlichen Konkurrenz aufeinander. Von den Königen von Preußen und Hannover, Friedrich Wilhelm III. und Ernst August wird zum Beispiel kolportiert, dass beide den gemeinen Personenverkehr für einen übertriebenen, höchst unangemessenen demokratischen Auswuchs gehalten und vergeblich dafür plädiert hätten, das zügige Reisen der höchsten Gesellschaft vorzubehalten. Im Bahnhofsgebäude selbst konnte sich der Adel mit der baulichen Anfügung abgetrennter Räumlichkeiten durchsetzen, die als luxuriöse Wartebereiche mit separaten Zugängen zu den Gleisen nicht zufällig als Kaiser- oder Fürstenpavillons bezeichnet wurden. Vom großen Bahnhofsgebäude optisch dominiert, zeichneten sie aber ein gänzlich unerwünschtes Bild von Hof und Adel, die von der großen Masse des reisenden Volkes an die Peripherie, also gewissermaßen aufs gesellschaftliche Abstellgleis geschoben zu werden drohten. In späteren Bauten blieben diese Bereiche für die Prominenz grundsätzlich erhalten, waren nun aber im Gebäude so integriert, dass sie am Außenbau nicht mehr als Räume mit spezieller Nutzung ablesbar waren.

Genauso wichtig wie der Bahnhof selbst waren die Wege, oder besser: die Gleise, die zu ihm führten. Vor allem in Städten an großen Flüssen spielte die Gestalt von Eisenbahnbrücken eine wichtige Rolle, wenn es darum ging, einen nachvollziehbaren Übergang von der offenen Strecke in die Stadt hinein herzustellen. Dies gelang meist mit einer Mischung aus Tradition und Technik, das heißt die horizontalen, befahrbaren und tragenden – und damit auch dynamischen – Elemente der Brücke wurden der Ingenieurskunst überlassen. Die vertikal ausgerichteten, statischen Bauteile jedoch, also Brückenköpfe oder Pfeiler, deren obere Hälften symbolisch die Funktion von Toren oder Pforten übernahmen, wurden

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oft aus traditionellem, grob bossiertem Bruchstein mit einer archaisch-mittelalterlichen Anmutung errichtet. Diese auffällig kontrastierenden Techniken und Materialien waren der Brücke als einem Bauwerk von hohem Symbolwert geschuldet: Die militarisierte Atmosphäre in der Kaiserzeit nach der Jahrhundertwende befrachtete das Überschreiten von Flüssen – und damit von natürlichen Grenzen – sowohl mit historischem Symbolcharakter als auch mit metaphorischer Bedeutung. Eine Brücke stand für das Übergreifen auf ein neues Terrain, im besten Fall für eine große Eroberungsleistung und war damit strategisch wichtig für die Verteidigung neuer Herrschaftsräume. Die auffällig wehrhafte Ausstattung von Brücken des späten Wilhelminismus im eigenen Land bedeutete aber nur eine Potenzierung bereits bestehender Brückenkonzepte, die dezidiert auf das Moment des Überschreitens von ehemals zu verteidigenden Stadtgrenzen anspielten. Als diese Brücken gebaut wurden, waren die meisten Stadtmauern und Befestigungsanlagen noch nicht geschleift und wurden deshalb konsequent in das bestehende Stadtbild mit einbezogen – das Bürgertum konnte damit auf seine historisch begründeten Verteidigungsmöglichkeiten verweisen, die auch in der Gegenwart ihre Gültigkeit nicht verloren hatten. Sowohl die Kölner Hohenzollernbrücke als auch die Mainzer Kaiserbrücke sind Nachfolgebauten von Brücken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und bereits diese Übergänge hatten das Motiv der torähnlichen Pfeiler aufgegriffen, nicht jedoch in der fünfzig Jahre später folgenden fortifikatorischen Konsequenz. So wurde der westliche neoromanische ‚Riegelbau‘ der Kölner Brücke (erbaut 1907 – 11), der Tordurchbrüche für die Auffahrt zu den drei nebeneinanderliegenden Brückenteilen aufwies, von einschüchternden massigen Vierkanttürmen mit achteckigen Obergeschoßen flankiert. Auch wenn dies teils angezweifelt wird, kann es doch kein Zufall sein, dass diese Eisenbahnbrücke, wie auch schon ihr Vorgängerbau, bewusst auf eine Achse mit dem Chor des Doms gebracht und dadurch eine historische Verknüpfung vorgenommen wurde. Die Mainzer Kaiserbrücke (fertiggestellt 1904; zerstört 1945) hatte neben einem vielgestaltigen vorwerkähnlichen südlichen Brückenkopf auch monumentale, torähnliche Pfeileraufbauten und damit summa summarum neun Türme vorzuweisen.

 

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Abb. 5: Mainz, Kaiserbrücke, 1901 – 1904 (zerstört), zeitgenössische Ansichtskarte (> Abbildungsnachweis)

Bürgerliche Wohnkultur

Einen der größten Triumphe über den Adel im 19. Jahrhundert feierte das Bürgertum letztendlich darin, dass es nun selbst die gesellschaftlichen Normen prägte, und durch seinen Wohnstil, seine Kleidung und seine Umgangsformen zum Maß der Dinge wurde. Betrachtet man den Lebensstil der zu Wohlstand gekommenen Aufsteiger des bürgerlichen Standes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann zeichnen sich zwei unterschiedliche Entwürfe ab: Während sich die Unternehmer der ersten Generation gewöhnlich in bereits recht respektablen Villen direkt neben der Produktionsstätte an der städtischen Peripherie niederließen, um die ständige Kontrolle über ihr Unternehmen und ihre Arbeitskräfte zu haben, tendierte der Teil des Bürgertums, der seinen Reichtum mit Handel oder Geldgeschäften erworben hatte, dazu, der ungesunden Stadtluft zu entfliehen und das zuvor saisonal genutzte Landgut zum ständigen Hauptwohnsitz zu erklären. Nur der fortdauernde Ausbau des Straßennetzes und die Weiterentwicklung der Fortbewegungsmöglichkeiten erlaubte

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diese frühe Form des Berufspendlertums. Die Unternehmer der zweiten Generation verspürten bereits wenig Neigung, umgeben vom Lärm und oft auch Gestank der eigenen Fabrik der doch eher puritanischen Lebensphilosophie ihrer Vorfahren nachzueifern, sondern fanden schon eher Gefallen an eleganten Stadtvillen in städtischen Außenbezirken oder auch repräsentativen Herrenhäusern nach aristokratischem Vorbild. Der erworbene Luxus und die damit verbundene Saturiertheit machte das ehemals so fortschrittliche und wagemutige Bürgertum, das seine ganze Energie in die Überwindung der erblichen Adelsherrschaft und der damit verbundenen Besitzstandswahrung investiert hatte, so konservativ wie sein früheres Feindbild. Mehr noch: Man wollte nun so sein, wie der Adel gewesen war und sich – oft in Gestalt bürgerlicher Schlossadaptionen – den Traum von einem Leben verwirklichen, das man früher als zutiefst ungerecht betrachtet hatte. Unter diesem Aspekt kann man die palastartigen Grandhotels des 19. Jahrhunderts, die nicht zufällig Bezeichnungen wie „Residenz“ oder „Imperial“ erhielten, als ‚Gemeinschaftsprojekte‘ des Bürgertums betrachten, durch die so mancher, der sich kein weitläufiges Schloss leisten konnte, an einem aristokratischen Ambiente partizipieren konnte.

Die frühe Form der stadtnahen Villa war zunächst so ungewöhnlich, dass sie wie im Fall der 1857 errichteten neoklassizistischen Doppelvilla des Unternehmers und Bankiers Adolph Hansemann, die damals in der Berliner Tiergartenstraße noch ohne Nachbarbebauung stand, zur bestaunten Sehenswürdigkeit wurde. Das rasante Bevölkerungswachstum und die damit verbundenen hygienischen Missstände trieben immer mehr wohlhabende Städter in die noch ländlichen Randbezirke. Um dem überhandnehmenden ‚Wildwuchs‘ des Villenbaus Einhalt zu gebieten, wurde 1875 das Preußische „Fluchtliniengesetz“ erlassen, das städteplanerisch eingriff und auch für diese Gebäude eine Orientierung zur Straße hin vorschrieb. Die Villen dieser bürgerlichen Oberschicht deklinierten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das gesamte bekannte und erlaubte Stilrepertoire durch, das von burgenähnlichen Entwürfen mit Zinnen bekrönten Erkern über Residenzen anglophiler Hanseaten, die den Tudorstil, auch „castle style“ genannt, über den Kanal geholt hatten, bis hin zu Villen im Renaissancestil reichte, welcher wiederum

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aufgrund seiner Konnotationen zum unabhängigen Bürgertum der frühen Neuzeit besonders beliebt war.

Im Inneren der Gründerzeitvilla boten sich völlig verschiedene Stilwelten dar, immer aufwendiger gestaltete, für heutige Begriffe mit nutzlosen Wohnaccessoires und schweren Stoffen völlig überfrachtete Gesellschaftsräume brachten geflügelte Worte wie dasjenige von der „noblesse op plüsch“ hervor, das für die bessere Gesellschaft Kölns überliefert ist (Mettele 1996, Zitat S. 167). Nachdem man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit begonnen hatte, die privaten und gesellschaftlichen Räume in eine männliche und eine weibliche Sphäre aufzuspalten, war dieser Prozess nun vollendet: Im dunklen ‚altdeutschen‘ Herrenzimmer mit seinen Wandvertäfelungen, ornamentierten Holzdecken und schweren gedrechselten Möbeln erholte sich der Patriarch von der Bürde, die er als Unternehmer und Familienvorstand zu tragen hatte. Ein solcher Raum war zugleich Rückzugsort und Studierzimmer, aber auch eine Art Clubzimmer, in dem sich bei Gesellschaften der Gastgeber und die männlichen Gäste nach dem Essen zu Spirituosen und Zigarren einfanden, um sich über Politik und Geschäftliches auszutauschen. Der Damensalon und das Boudoir wiederum zeigten die weibliche Seite des Wohnens, für die man das Rokoko, den luxuriösen Einrichtungsstil des späten 18. Jahrhunderts vorgesehen hatte: Unberührt von den Unbilden des harten Arbeitslebens und abgeschottet von der Realität der Außenwelt, konnte die Dame des Hauses dort dem Müßiggang frönen oder in ihrer Funktion als Hausherrin die notwendigen Arbeiten delegieren. Rat und Unterstützung in Einrichtungsfragen fanden interessierte Laien in den immer zahlreicher erscheinenden Einrichtungsbüchern. Nachdem Charles Eastlake 1868 mit seinen „Hints on Household Taste“ den Anfang gemacht hatte, drängten wahre und selbsternannte Stilexperten mit einer regelrechten Flut von Einrichtungsbüchern auf den Markt. Sehr beliebt war unter anderem der Ratgeber „Die Kunst im Hause“ aus der Feder des Kunsthistorikers Jacob von Falke von 1871, der konsultiert wurde, wenn man die verschiedenen Zimmer des Hauses mit den zu ihren jeweiligen Funktionen passenden historischen Stilen ausstatten wollte.

Mit der deutschen Renaissance als dominierendem Einrichtungsstil postulierte das Bürgertum sowohl in ästhetischer als auch in sozialer

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Hinsicht den klaren Willen zur Abgrenzung gegenüber dem Adel wie auch der Arbeiterschaft. Die friedliche und gemütvolle Atmosphäre, in der man ein wohlgeordnetes Familienleben pflegte, hatte den verschwenderischen und zügellosen Lebensstil der Aristokratie überwunden und verbindliche neue gesellschaftliche Maßstäbe gesetzt. Um sich von der Etikette und dem strengen Zeremoniell des adeligen Miteinanders zu differenzieren und zu distanzieren, wurde vom Bürgertum ein bewusst lockerer, informeller Umgang im privaten Rahmen gepflegt, nicht jedoch, ohne auf nun anders definierte Konventionen und Rollenverteilungen zu verzichten. Dem Stildiktat der Renaissance unterwarf man sich aber auch nicht in letzter Konsequenz: Da der größte Teil des Adels dem Rokoko als letztem royalem Interieurstil treu geblieben war, und die aristokratische Lebenswelt nach wie vor nachahmenswert erschien, war dies vor allem für das Großbürgertum Grund genug, große repräsentative Gesellschaftsräume oder Ballsäle im Stil des 18. Jahrhunderts auszustatten.

Auch bei städtischen Mehrfamilienhäusern wollte man auf historisierenden Fassadenschmuck nicht verzichten, was sich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu regelrechten „Ornamentparaden“ auswuchs (Brix / Steinhauser Geschichte im Dienst 1978, S. 222). Zumindest den gut situierten Bewohnern kam es entgegen, dass man an der Reichhaltigkeit der Ausstattung auf ihre wirtschaftliche Situation schließen konnte: Je üppiger und strukturierter die Ornament-Reliefs waren, je stärker die Fassade durch Erker oder Balkone gegliedert war, desto begüterter musste die dort lebende Familie sein. Weniger privilegierte Familien konnten sich in dieser Zeit zumindest mit Wohnutensilien ausstatten, die über das Notwendige und Nützliche hinauswiesen. Erstmals konnte man nun rein dekorative Gegenstände, auch Teppiche oder Tapeten erwerben – billige Kopien von Luxusgegenständen, die man mit dem nachahmenswerten Leben von Adel und Großbürgertum verband, ließen den Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg wenigstens im kleinsten Rahmen wahr werden. Deswegen mussten solche Gegenstände natürlich eine historische Anmutung vorweisen, was dem Betrachter suggerieren sollte, dass sie sich schon lange Zeit im Familienbesitz befänden. Die Überfrachtung der Privatsphäre durch eine vorgegaukelte Historizität ist neben dem Wunsch, bestehende gesellschaftliche Hierarchien zu

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relativieren, auch als Abwehrreaktion zu interpretieren. Diese richtete sich gegen die zunehmende Industrialisierung der Lebenswelt und den teilweise als bedrohlich empfundenen Modernisierungsprozess, der sich mit einer ungewohnten und deshalb Furcht einflößenden Geschwindigkeit vollzogen hatte.

Die Art und Weise, wie sich die Familie durch Gastfreundschaft und Geselligkeit der Außenwelt präsentierte, wurde als das zentrale Moment im sozialen Gefüge betrachtet. Die Familie als Kleinstverbund war bereits das höchste, was an individueller Intimsphäre zu erreichen war – darüber hinaus standen kaum persönliche Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung. Wenn Gäste kamen, wurde die gute Stube geöffnet, die ansonsten ungeheizt und unbetreten wie eine Theaterkulisse an aufführungsfreien Tagen vor jeglicher Abnutzung geschont wurde. Man kasteite sich selbst, indem man aus Repräsentationsgründen auf den meist besten, gut beleuchteten, zur Straße hin ausgerichteten Wohnraum verzichtete, um im muffigen Hinterzimmer oder in der Küche den gewöhnlichen Alltag zu leben. Es war eine verkehrte Welt oder besser ein Rollentausch, der sich auf diese Weise offenbarte: Während der ermüdete Adel weniger Zwänge und dafür bürgerliche Gemütlichkeit und Privatheit wünschte, adaptierte das niedere Bürgertum adlige Etikette mit einer selbstquälerischen Härte, die einem strengen Hofzeremoniell nicht unähnlich war.

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