Kunst des Historismus

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Städtebau: Der Bürger löst die ordnende fürstliche Hand ab

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befanden sich die meist noch in mittelalterlichen Mauern gefangenen Städte angesichts von Industrialisierung und Zuwanderung in einem fundamentalen Wandlungsprozess. Nur die Schleifung von Stadtmauern und Befestigungsanlagen konnte den Raum schaffen, den die Städte notwendigerweise brauchten, um sich ausdehnen zu können. Europaweit waren auch diesbezüglich die unterschiedlichsten Ausgangsbedingungen vorzufinden: Während zahlreiche Städte auf dem Kontinent von gewaltigen, meist im 17. Jahrhundert in Massivbauweise errichteten Befestigungsringen umklammert wurden, konnten englische Städte oft problemlos expandieren. Die Hypothek dieser ‚Grenzenlosigkeit‘ zeigte sich allerdings in einer, schon von zeitgenössischen Beobachtern angeprangerten, unkontrollierten Ausuferung und Perforation des Stadtkörpers – mit der bitteren Konsequenz, dass die Zahl der Elendsquartiere sprunghaft anstieg. Je geplanter und damit

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vorhersagbarer diese Ausdehnung vonstatten ging, desto wahrscheinlicher war es demnach, dass die kommunalen Verwaltungsorgane die Kontrolle über die Morphologie ihrer eigenen Stadt behielten. Erst dann konnte man, im Gegensatz zu dem rein quantitativ zu gebrauchenden Begriff der Verstädterung tatsächlich von einem qualitativen Prozess der Urbanisierung sprechen. Es waren jedoch nicht nur hemmende Mauern, sondern ebenso strukturelle Unterschiede, die über die Expansionsmöglichkeiten einer Stadt entschieden: Neben altehrwürdigen Handelsstädten, die ihre Ausdehnung schon Jahrhunderte zuvor erreicht hatten, Residenzstädten oder Universitätsstädten, gab es die neueren Zentren der Frühindustrialisierung oder auch – bis auf einen kleinen historischen Kern – mehr oder weniger aus dem Boden gestampfte Ansiedlungen in dem sich konstituierenden Ruhrgebiet, wo dem Bergbau ab den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts vereinzelt eine geradezu städtegenerierende Rolle zukam.

Neben der Industrialisierung war das damit verbundene rasante Bevölkerungswachstum der Faktor, der das Gesicht der Stadt vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts grundsätzlich veränderte. Während zum Beispiel im Jahr 1870 noch zwei Drittel aller Bewohner des Deutschen Reichs im ländlichen Raum lebten, so hatte sich dieses Verhältnis vierzig Jahre später zugunsten der Stadt verkehrt. Der genuine Stadtbewohner sah sich einer Flut von Zuwanderern gegenüber, die neben den Belastungen für die Stadtkasse auch wachsende soziale Spannungen mit sich brachte und die Gräben zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ weiter vertiefte. Die Aufwertung des Einwohner- und damit die Relativierung des Bürgerrechts sollte zu einem gerechteren Miteinander führen, das heißt, das Wahl- und damit das kommunale Mitspracherecht war nicht mehr abhängig von Grundbesitz oder Gewerbe, sondern Einkommen und Steuerleistung entschieden über den Status des einzelnen Stadtbewohners. Weil die dafür vorgenommenen Einstufungen relationalen Gesetzmäßigkeiten gehorchten, provozierte das zu diesem Zweck eingeführte Dreiklassenwahlrecht dann allerdings auch höchst kuriose Erscheinungen wie in der Stadt Essen, in der sich der Industrielle Krupp ganz allein in der ersten Wahlgruppe wiederfand, während über 90% der Bevölkerung der dritten Gruppe zugeteilt waren. Im Lauf des Jahrhunderts musste der städtische Verwaltungsapparat kontinuierlich aufgestockt werden, und es

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bedurfte einer wachsenden, immer mehr spezialisierten Beamtenschar, die auftretenden infrastrukturellen Problemen nicht hilflos gegenüberstand, sondern in der Lage war, potenzielle Mängel in der Stadtentwicklung rechtzeitig zu antizipieren und durch systematische Planungen steuernd einwirken zu können. Aus diesem Grund wurden Versorgungsunternehmen, die Gas, Wasser und Elektrizität bereitstellten – also Grundbedürfnisse des täglichen Lebens verlässlich abdecken mussten – etwa ab dem Jahr 1890 aus der privaten in die städtische Hand überführt, während gleichzeitig der Spielraum der Kommunen, auf Privateigentum zugreifen und damit zum Wohl der Allgemeinheit Enteignungen vornehmen zu können, erweitert wurde.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden jedoch Stadtplanungskonzepte der bürgerlichen Administration von den Bürgern selbst nicht zwangsläufig ohne Weiteres akzeptiert. Viel zu präsent war die Verbindung der fürstlich ordnenden Hand mit der ästhetischen und repräsentativen Gestalt einer Stadt und viel zu gering entwickelt war noch der Wille, den eigenen Lebensraum strukturierend und verantwortlich mitzugestalten. Zu belegen ist dies am Beispiel von Elberfeld im Tal der Wupper, einer wohlhabenden, dem preußischen Staat zugehörigen Tuchweberstadt, für die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Adolph von Vagedes, seines Zeichens Düsseldorfer Regierungsdirektor, ein Generalbebauungsplan erstellt werden sollte. Vagedes hatte die Vorstellung von einem Stadtzentrum in der Form eines Rondells, von dem konzentrisch Straßenachsen ausgehen sollten. Um die frühindustrielle Ausrichtung Elberfelds zu unterstreichen, brach der Architekt mit einem städtischen Charakteristikum und plante das Rathaus in einer Achse mit der Börse – nicht wie üblich mit der Hauptkirche. Den bodenständigen Stadtvätern von Elberfeld war ein derart repräsentatives und auch intellektuelles Konzept suspekt, und so lehnten sie Vagedes’ Plan im Jahr 1836 als nicht finanzierbar ab. Unwohl war ihnen aber auch bei dem Gedanken, durch solche Maßnahmen eine Fabrikstadt auf das ihr nicht gebührende Niveau einer Art Residenzstadt zu erheben (Klotz 2000). In den folgenden zwanzig Jahren wurden in Elberfeld dann zahlreiche Verwaltungs- und Sakralbauten in einer Mischung aus Klassizismus, Rundbogenstil und auch Gotik errichtet, die, scheinbar wahllos in der

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hügeligen Stadtlandschaft verteilt, eine gewisse Ratlosigkeit im Arrangement nicht leugnen konnten.

Um die Jahrhundertmitte begannen sich dann die Repräsentations- und Stilansprüche des Bürgertums zu konkretisieren, was zu Berührungspunkten mit den planerischen Kompetenzen des Staates – meist in Gestalt der Monarchie – führen musste. Der Führungsanspruch der Monarchie wurde definitiv nicht infrage gestellt, aber in gewisser Weise war nun eine statische Situation entstanden, die eine paritätisch aufgeteilte Einflusssphäre hinsichtlich von Parlamentsbauten, Justizpalästen, Museen und Theatern möglich und damit eine rücksichtslose und autokratische Vorgehensweise unmöglich gemacht hatte.

Dass eine Verlagerung der Kompetenzen – selbst bei monarchischem Entgegenkommen – von bürgerlicher Seite nicht wie selbstverständlich gutgeheißen werden musste und konservative Strukturen des Bewahrens werter schienen als Neuerungen, zeigt das folgende Beispiel. Als König Maximilian II. von Bayern im Jahr 1850 über die Königliche Akademie der Bildenden Künste einen Wettbewerb für das später sogenannte Maximilianeum, eine Institution zur Ausbildung von Staatsbeamten, ausschrieb, suchte er mit diesem Bauvorhaben gezielt die Nähe zum Bürgertum, wollte es einbinden in einen national verstandenen Gestaltungsprozess, der helfen sollte, eine neuartige Architektur hervorzubringen. Im „Streben nach Freiheit“, wie es in der Programmschrift formuliert wurde, war der Bau für eine bürgerliche bayerische Elite gedacht, die ohne Ansehen von Rang und Stand allein aus der Begabung und dem geistigen Potenzial der zukünftigen Staatsdiener geformt werden sollte (Drüeke 1978, Zitat S. 107f.). Der Wettbewerb scheiterte trotz der Vergabe eines ersten Preises, das Projekt wurde schließlich inklusive einer Erweiterung auf das Areal der Maximilianstraße in einem informellen Verfahren an den Architekten Friedrich Bürklein vergeben. Das Interessanteste an diesem Experiment war jedoch die Kritik Friedrich Wilhelm von Schellings, vormalig Philosophielehrer des Kronprinzen Maximilian, der an der Programmschrift kein gutes Haar ließ. Mit dem Skeptizismus des Bürgertums in Gestalt des – geadelten – Pfarrerssohns und Philosophen, der die Reife seines eigenen Standes anzweifelte, stufte Schelling die Gegenwart als so charakterlos ein, dass eine städtebaulich eingesetzte

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Architektur, die eben dieser Gegenwart entsprechen würde, nur „ein Bild der vollkommenen geistigen und moralischen Zerfahrenheit“ bieten könne. Den Aufruf des Königs zu freiheitlichem Streben lehnte er paradoxerweise als demokratisch ab – was damals einem Schimpfwort gleichkam –, weil dies seiner Ansicht nach nur Destruktion hervorrufen würde (Drüeke 1978, Zitat S. 109f.).

Eine andere, ganz neue Dimension erreichte der Generalbebauungsplan für Paris, der in den Jahren 1853 – 69 durch Georges-Eugène Baron Haussmann im Auftrag Kaiser Napoleons III. realisiert wurde, und mit seinen öffnenden und ordnenden Straßendurchbrüchen in erster Linie noch einem disziplinierenden Motiv geschuldet war. Schließlich hatte noch jeder Aufstand in der französischen Hauptstadt in der unübersichtlichen, verwinkelten Altstadt mit ihren mittelalterlichen Gassen seinen Ausgang genommen, was ein militärisches Durchgreifen erschwert hatte. Darüber hinaus aber war die Stadt so stark angewachsen, dass die Schaffung einer funktionierenden Infrastruktur für den reibungslosen Ablauf des täglichen privaten und ökonomischen Lebens unumgänglich geworden war. Haussmann kehrte als Stadtpräfekt mithilfe eines Stabes von Ingenieuren das Innerste von Paris nach außen, opferte rücksichtslos alte Bausubstanz, schonte aber berühmte Monumente, die den neuen Prachtboulevards als optische Orientierungspunkte dienten. Mit der Anlegung einer auf weiteres Wachstum konzipierten Wasserversorgung und Kanalisation sowie einer die Sicherheit der Bewohner verbessernden Straßenbeleuchtung wurde Haussmann stellvertretend der monarchischen Fürsorgepflicht Napoleons III. für dessen Untertanen gerecht. Und auch wenn zum Wohl der Allgemeinheit Enteignungen unumgänglich waren, so musste der präparierte Baugrund dem Besitzer – mit Gewinn – zurückgegeben werden. Haussmanns Beispiel machte Schule und so wurden in den folgenden Jahren mit mehr oder weniger Sensibilität europaweit zahlreiche Stadterweiterungen und -umstrukturierungen durchgeführt – unter anderem in Brüssel, Rom, Barcelona oder Stockholm –, während Städte wie Leipzig, Lübeck oder Kopenhagen die Unversehrtheit ihrer alten, mauerumwehrten Stadtkerne bewahren konnten.

 

Der Stadterweiterung Wiens stand lange Zeit das strikte Veto des Militärs entgegen. Auch wenn nach dem Abzug der Napoleonischen

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Truppen Teile der Befestigungsanlage bereits zerstört waren, entschied man sich zuerst einmal für Reparaturmaßnahmen, anstatt durch eine Schleifung den Platz für dringend benötigtes Bauland zu schaffen. Stadt und Vorstädte blieben also nach wie vor durch das im 17. Jahrhundert eingerichtete, etwa fünfhundert Meter breite Glacis streng voneinander separiert. Als am 18. Februar 1853 ein Attentat auf Franz Joseph I. scheiterte, initiierte das Kaiserhaus als Dank für diesen glücklichen Ausgang den Bau der von allen Mitglieder des Vielvölkerstaates finanzierten Votivkirche, die die politische Einheit des durch den Anschlag erschütterten Habsburgerreiches beschwören sollte. Wenn man bedenkt, dass die Fertigstellung des Kölner Doms als Symbol der nationalen deutschen Einheit in vollem Gange war, konnte es schwerlich ein Zufall sein, dass für die Wettbewerbs-Entwürfe der gotische Stil vorgeschrieben wurde. Nach der Grundsteinlegung für den Sakralbau, der bereits außerhalb der alten Stadtgrenzen situiert war, gab der Kaiser schließlich im Jahr 1857 die ehemalige Stadtbefestigung zur Bebauung frei. Die Wettbewerbsstatuten forderten für den Gesamtplan ein Konzept, in dem sich nun monarchische mit bürgerlichen Interessen vereinten: Um im beengten Stadtbild den gebotenen Abstand zu wahren, verlangte der Kaiser, dass der Platz vor der Alten Hofburg, der Stadtresidenz der Habsburger, freigehalten werden müsse, geplant war außerdem der Bau der Neuen Hofburg, die im Rahmen eines Kaiserforums mit dem zu errichtenden Kunsthistorischen und dem Naturhistorischen Museum verbunden werden sollte. Auf der Basis verschiedener prämierter Projekte wurde schließlich das Gerüst des Plans erstellt: ein Boulevard in Form eines unregelmäßigen Polygons, gesäumt von öffentlichen Bauten wie der Universität, dem Parlament oder dem Theater, sollte mit den Hauptverkehrsadern aus der Altstadt vernetzt werden. Palais für Mitglieder des Kaiserhauses sollten das finanzkräftige Bürgertum in den Dunstkreis der Macht locken und dazu motivieren, dort ebenfalls in repräsentative Wohnbauten zu investieren. Diese Entwicklung wiederum macht deutlich, dass der solvente Bürger wegen seiner Unverzichtbarkeit für die Volkswirtschaft zum Umworbenen geworden war. Zu Beginn der 1870er-Jahre war die Prachtstraße fertiggestellt und präsentierte als Wiener Ringstraße eine Gesamtschau bürgerlicher Institutionen im Gewand ausgereifter und elaborierter historischer

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Baustile: das neugotische Rathaus rezipierte die als große Zeit des selbstbestimmten Stadtbürgertums empfundene Gotik, das Parlament ließ mit seinen neoattischen Formen die paradigmatische Welt der griechischen Demokratie wiederauferstehen und die Oper erstrahlte im Glanz der vornehmen, international beliebten Neurenaissance. Ausgerechnet das Paradeprojekt der Monarchie, das von Gottfried Semper entworfene Kaiserforum, blieb letztendlich unvollendet, und Pläne, die durch den Boulevard zwangsläufig durchschnittene Forumsanlage durch Brücken beziehungsweise Bögen über die Ringstraße zu vereinen, scheiterten an der Banalität des alltäglichen – bürgerlichen – Verkehrs.

Rathäuser und Bürgerstolz

Die ‚Sprache‘ der Stile in der Profanarchitektur ist das Ergebnis vielschichtiger und äußerst präzisierter Überlegungen. Bauten im öffentlichen Raum sollten für die Allgemeinheit in einer Art „Pädagogik der Umgebung“ als „stumme Lehrer“ fungieren, wie dies in der Vorstellung eines Berliner Realschuldirektors bereits um das Jahr 1850 gewissermaßen zu einem volkserzieherischen Ziel gemacht worden war (Reulecke 1997, Zitat S. 76ff.). Diese belehrende Funktion war notwendig, um die Rezeptionsgrundlagen zu schaffen, auf denen ein umfassendes Verständnis für Aussage und Bedeutung historischer Stile erst erwachsen konnte. Es galt also, öffentlichen Bauten wie Parlamenten, Rathäusern, Banken oder Justizgebäuden durch die Wahl des angemessenen Baustils eine Aura von Würde, Autonomie, Stabilität oder auch Macht zu verleihen. Bauaufgaben wie zum Beispiel Bahnhöfe, die aufgrund ihrer Verbundenheit mit zeitgenössischen technischen Innovationen keine historischen Assoziationen zuließen, waren Sonderfälle, die Kontroversen auslösten und deswegen über mehrere Jahrzehnte hinweg eine besonders differenzierte Behandlung erfuhren. Dagegen fielen Bauten wie Gefängnisse, die durchaus auf einem historischen Fundament standen, als der Gestaltung nicht würdig durch das gesellschaftliche Raster: Üblicherweise wurde nur der Verwaltungstrakt dieser Komplexe bewusst gestaltet, Ausnahmen bildeten diejenigen Gefängnisse, deren Zellentrakt eine Schauseite

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aufwies. In diesen Fällen wurde aufgrund der Vorstellungen, die man von einer adäquaten Unterbringung der Straftäter hatte, eine einfache, derbe Architektur angestrebt, die eine mittelalterliche Anmutung haben konnte, aber ohne jeglichen architektonischen Schmuck auskommen musste.

Die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung, wie sie beginnend in Preußen im Jahr 1808 und dann sukzessive in den übrigen deutschen Staaten vollzogen wurde, verhalf dem Bürgertum zu einem völlig neuen Selbstverständnis. Das Gehäuse für diese über lange Zeit kaum mehr ausgeübte Eigenverantwortlichkeit und Autonomie, also das Rathaus selbst, war aber beileibe keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, seine Bautypologie wurde auch nicht vom Adel übernommen, sondern hatte ihre genuin bürgerliche Herkunft im Rathaus der frühneuzeitlichen Stadt: Weil sie, historisch betrachtet, synonym für bürgerliches Selbstbestimmungsrecht und kommunale Autonomie standen, galten die – vor allem flämischen – Rathäuser des späten Mittelalters und der frühen Renaissance als die adäquatesten stilistischen Vorbilder für das Rathaus des 19. Jahrhunderts. Während aber Verwaltungsgebäude des frühen 19. Jahrhunderts noch alle Ordnungsorgane des Kommunalwesens, wie das Gericht, das Gefängnis, die Polizei und die Feuerwehr unter einem Dach vereinten, sollte das unaufhaltsame Städtewachstum eine räumliche Entzerrung und eine Verteilung auf eigens dafür eingerichtete Bauten notwendig machen. Aus dem eigentlichen, administrativen Kern des Rathauses mit seinen Sitzungssälen und Repräsentationsräumen entwickelte sich schließlich das Rathaus des 19. Jahrhunderts, dessen kontinuierlich ansteigender Raumbedarf aus dem Bevölkerungswachstum und den sich ausweitenden Zentralisierungsverfahren resultierte. Da man mit weiterem Wachstum in jeder Hinsicht kalkulieren musste, wurden die Bauplätze meist so groß konzipiert, dass mögliche Erweiterungsbauten kurzfristig realisiert werden konnten. Selbstverständlich lag es auch im Interesse der Stadtväter, dass gerade ihr Rathausneubau besonders groß und repräsentativ geriet und dadurch die Aufmerksamkeit und das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog. Wichtig ist, dass bei aller Neubau-Euphorie die funktionstüchtigen alten Rathäuser, sofern sie von bauhistorischer Bedeutung waren, aus Gründen der Pietät erhalten beziehungsweise bei Bedarf durch einen Anbau vergrößert wurden.

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Bei der Wahl des Baustils boten sich den Bauherren des 19. Jahrhunderts zwei Möglichkeiten: Herrschte kein Zwang, sich in einem Stadtzentrum mit historischem Baubestand aufgrund des Ensembleschutzes stilistisch anzupassen, konnte man zwischen Mittelalter und Renaissance frei wählen, die Alternative dazu bestand darin, einen Neubau so gut wie möglich in das charakteristische Architekturbild einer Stadt einzugliedern. Am Anfang, das heißt ab den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts, dominierte jedoch, vor allem in kleinen und mittelgroßen Städten, der neugotische Rathausbau, der nicht dem jeweiligen Regionalstil verpflichtet war, sondern als internationale Schnittmenge der typischen frühen „Zinnengotik“ zu werten ist. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist das Rathaus der Ostsee-Hafenstadt Kolberg (heute Kolobrzeg / Polen), das von keinem Geringeren als Karl Friedrich Schinkel entworfen und in den Jahren 1829 – 32, als Schinkels Gotik-Euphorie längst verblasst war, unter Leitung von Ernst Friedrich Zwirner erbaut wurde.


Abb. 3: Kolobrzeg / Polen, Altes Rathaus, 1829 – 1832 (> Abbildungsnachweis)

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Die ehemalige Hansestadt, die sich im 14. Jahrhundert durch Handel und Fischfang großen Wohlstand und ein eigenes Münzrecht erarbeitet hatte, erhielt damit einen sehr repräsentativen Ersatz für das 1807 zerstörte alte Rathaus. Schinkel entwarf eine schlossartige Zweiflügelanlage mit einem schmalen tiefen Hof, der von einem mächtigen Uhrenturm dominiert wird. Die Fassaden der zweistöckigen Flügelbauten, die ihren obersten Abschluss in einem Zinnenkranz finden, sind unter anderem von Spitzbogenfenstern ohne Maßwerk durchbrochen – ein Hinweis darauf, dass es sich um keinen Sakralbau handelt. Ein wehrhaftes Gepräge erhielt das Rathaus durch vier nur schwach aus der Mauerfläche hervortretende Ecktürme mit schießschartenähnlichen Mauerschlitzen. Mit seiner für Hansestädte typischen Backsteingotik nahm das neue Rathaus auch konkret Bezug zum trutzigen Westwerk des Doms aus dem frühen 14. Jahrhundert.

Diese frühe Neugotik erfreute sich in der Folgezeit noch einiger Beliebtheit, wurde dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sukzessive von Stilvorbildern der Spätgotik und der deutschen Renaissance abgelöst. Vor allem die deutsche Renaissance bot sich nach der Reichsgründung als ideales Assoziationsfeld an, weil sie sowohl dem Bürgertum als auch dem Kaisertum gerecht werden konnte – schließlich hatte es die mächtigsten Städte der Frühen Neuzeit ausgezeichnet, in ihrer Reichsunmittelbarkeit direkt dem Kaiser unterstanden zu haben. Patriotische Kaiserverehrung ließ sich auf diese Weise problemlos ins 19. Jahrhundert transferieren, ohne die mühsam errungene bürgerliche Selbstbestimmung verleugnen zu müssen. So ist es kaum verwunderlich, dass gerade in den Rathäusern derjenigen Städte, die zu Preußen gehörten oder aber als Freie Städte dem Deutschen Reich angegliedert waren, häufig ein Kaisersaal zu finden war, wie zum Beispiel in Hamburg. Wie seine Vorgänger in Residenzen und Klöstern des 17. und 18. Jahrhunderts wurde ein Kaisersaal des 19. Jahrhunderts in Erwartung eines kaiserlichen Besuches angelegt, auch wenn es häufig vorkam, dass ein solch illustrer Gast dort niemals begrüßt werden sollte.

Überaus spannend ist die Entstehungsgeschichte des Münchner Neuen Rathauses, das von einem 25-jährigen Studenten aus Graz entworfen wurde und nach einer Bauzeit von über vierzig Jahren als dessen Lebenswerk

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bezeichnet werden kann. Die Einwohnerzahl in der Hauptstadt des bayerischen Königreiches war seit der Jahrhundertmitte kontinuierlich angestiegen und sollte sich bis zum Jahr 1895 auf über 400.000 Einwohner vervierfacht haben. Die Verwaltungsinstitutionen verteilten sich damals auf drei verschiedene historische Gebäude in der Altstadt, weshalb die Kommune 1864 angesichts dieser unzumutbaren Verhältnisse die Gelegenheit wahrnahm, durch einen Umzug zum Marienplatz räumlich Abhilfe zu schaffen. Es bestand dort die Option, ein großes bestehendes Gebäude zu nutzen, man wählte aber schließlich die Alternative eines kompletten Neubaus. Am ausgeschriebenen Wettbewerb beteiligten sich zahlreiche renommierte Architekten – und mit ihnen ein Aspirant dieser Zunft, Georg Hauberrisser, damals noch Student an der Wiener Kunstakademie. Hauberrissers Entwurf konnte sich im Wettbewerb behaupten, und letztendlich waren nur noch er und der Münchner Baurat Arnold Zenetti im Rennen. Zenetti hatte in seiner Position und mit seinen Beziehungen scheinbar alle Vorteile auf seiner Seite, noch dazu war sein Renaissance-Entwurf im Gegensatz zu Hauberrissers flämischer Gotik die kostengünstigere Variante. Als aber der Neuling ohne baupraktische Referenzen die Gremien von sich überzeugen konnte und den Zuschlag erhielt, war die Sensation perfekt: Die Gotik hatte die Renaissance auf ganzer Länge geschlagen. Ob sich die Ratsherren von Hauberrissers Charisma überzeugen ließen oder ob es daran lag, dass Reichsgründung und Kaiserproklamation, die der internationalen Neorenaissance einen veritablen Aufschwung bescheren sollten, noch drei Jahre auf sich würden warten lassen, ist schwer zu sagen. Bis die ersten Dienststellen dann in den Siebzigerjahren einziehen konnten, vergingen einige Jahre, in denen sich Hauberrisser gegen Widersacher und Kritiker behaupten musste, die seine Kompetenz wiederholt infrage stellten. Aber auch der Schock darüber, dass der ambitionierte Bau das veranschlagte Budget um das Zehnfache übertroffen hatte, hielt die Verantwortlichen nicht davon ab, den Architekten wenig später mit einem Erweiterungsbau zu betrauen, der 1892 fertiggestellt wurde. Ein dritter Bauabschnitt mit einem achtzig Meter hohen Rathausturm als Krönung bildete schließlich den Abschluss des Ensembles, dem einundzwanzig Bürgerhäuser hatten weichen müssen und das Hauberrisser zum hämisch gemeinten Ehrentitel eines „Reichsgotikers“ verhalf (Huber 2006, S. 74).

 

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In Stuttgart hingegen laborierte man bereits seit den Siebzigerjahren an einem Neubau und vor allem an dessen Standort, da das alte, im Kern mittelalterliche Rathaus der aktuellen Stadtverwaltung nicht mehr ausreichend Raum bot. Lange wurde um einen Abriss der historischen Bausubstanz gerungen und schließlich trotz einiger Bedenken durchgesetzt, weil ein Neubau nur am zentralsten und damit hierarchisch obersten Standort vollstellbar war – nur an diesem repräsentativen Platz war eine überzeugende Demonstration bürgerlichen Machtanspruchs möglich. Für den von 1898 bis 1905 von Heinrich Jassoy und Johannes Vollmer errichteten Rathausneubau wurden schließlich spätgotische Formen gewählt, interessanterweise unter spolienartiger Integrierung einzelner Teile des alten Rathauses, wie zum Beispiel der historischen Kapelle. Auch wenn der Schwerpunkt der Ausstattung auf Themen der bürgerlichen Ikonographie lag, wurde der württembergischen Monarchie durch die Aufstellung von Denkmälern für König Wilhelm I. und König Wilhelm II. ausreichend Respekt gezollt.

War das Rathaus des 19. Jahrhunderts fertiggestellt, bot die Ausstattung der Räumlichkeiten durch Mobiliar und wertvolle zeremonielle Gebrauchsgegenstände weitere Möglichkeiten, es dem Bürgertum der Vergangenheit gleichzutun, wie zum Beispiel mit der Anschaffung eines neuen oder in der Aufstockung eines bestehenden Ratssilbers. Ratssilber, das waren und sind vielteilige, kostbare Tafelgeschirre, die seit dem späten Mittelalter zur Ausstattung von Rathäusern wohlhabender Städte gehörten. Durch ihren Einsatz bei festlichen Anlässen hatten sie in erster Linie repräsentativen Charakter, sie gehörten aber auch zu den städtischen Notreserven und mussten deshalb im Lauf der Jahrhunderte nicht selten verkauft oder eingeschmolzen werden. Vor allem der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerjahre machte es prosperierenden Städten möglich, oft auch in Verbindung mit einem Neubau des Rathauses, in Ratssilber zu investieren – allein Köln zum Beispiel gab ein 900-teiliges Tafelsilber in Auftrag. Finanziert durch Spenden und Stiftungen betuchter Bürger sollte das Ratssilber des 19. Jahrhunderts ein Beleg für Generosität und Gemeinsinn und damit das Aushängeschild für das Erfolgsmodell der autonomen neuzeitlichen Stadt sein.

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Ein Aufgabenbereich der Kommunalverwaltung prägte das soziale Miteinander des städtischen Bürgertums in besonders hohem Maße und war angesichts der Zuwanderung und des Bevölkerungswachstums von existenzieller Bedeutung: das Fürsorgewesen. Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Wohlfahrtswesen in München, der Hauptstadt des bayerischen Königreiches, einen vergleichsweise hohen Standard erreicht, der vor allem dem regen Engagement der verantwortlichen kommunalen Stellen geschuldet war. Der letzte König aus dem Haus Wittelsbach, Ludwig II., war 1886 gestorben, Luitpold, der Onkel des Königs, hatte die Amtsgeschäfte als Prinzregent übernommen. Das so entstandene Vakuum in der Monarchie füllten die Stadtväter, die darin eine Chance sahen, sich als bürgerliche Auftraggeber in einer direkten Nachfolge frühneuzeitlicher fürstlicher Fürsorgepflicht durch Bauten karitativer Ausrichtung zu profilieren. Den Anfang hatte das städtische Kinderasyl gemacht, ein schlossähnlicher, rechteckiger Bau mit einem übergiebelten Mittelrisalit und von Wandpilastern gerahmten Seitenrisaliten, der bereits 1888/89 im Stil des späten 18. Jahrhunderts erbaut worden war. Als in den Jahren 1892 – 94 der Bau des Armenversorgungshauses St. Martin in Giesing durch Karl Hocheder erfolgte und schnell deutlich wurde, dass diese Institution angesichts der unzumutbaren Zustände in den bestehenden Armenhäusern eine wegweisende Bedeutung für die künftige Armenfürsorge haben sollte, war dies ein klares Bekenntnis der Stadt München zu ihrer sozialen Verantwortung. Äußerlich einem wohlhabenden Kloster des 18. Jahrhunderts verblüffend ähnlich, scheint der architekturikonologische Bezug zum Armenhaus teilweise überzeugend, hatten doch Klöster – nicht nur in der Frühen Neuzeit – immer auch karitative Funktionen übernommen.

Ein zeitbezogen weitaus angemessenerer, schlichterer Bau wäre auch kaum den Intentionen der Bauherren entgegengekommen, die ihren Gemeinsinn und ihre tätige ‚Caritas‘ lieber in einem repräsentativen Rahmen inszeniert sehen wollten. Die so entstandene, paradox erscheinende Diskrepanz zwischen der prächtigen Außenhaut und dem doch sehr eingeschränkten Komfort der Bewohner schien die zeitgenössische Kritik nicht weiter zu irritieren: Ganz im Gegenteil wurden die Parallelen von aktueller Armenfürsorge und entbehrungsreicher, klösterlicher Existenz als augenfälliges historisches Bindeglied zur Gegenwart betrachtet.

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Abb. 4: München-Giesing, Armenversorgungshaus St. Martin, 1892 – 1894 (zerstört) (> Abbildungsnachweis)

Das Städtische Waisenhaus in Neuhausen, 1896 – 99 von Hans Grässel wiederum im Barockstil erbaut, galt mit seinem eindeutigen architektonischen Bezug zu Schloss Nymphenburg als Prestigeobjekt der Stadtoberen, das sich nun nicht mehr mit einem fürstlichen Wappen, sondern mit dem Münchner Kindl über dem Portal als bürgerlich-städtische Stiftung auswies.

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