Tod und Nachtigallen (Steidl Pocket)

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Tod und Nachtigallen (Steidl Pocket)
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

EUGENE MCCABE

TOD UND

NACHTIGALLEN

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Roman

Steidl Pocket

Für J. C.,


die Person, die mir in einem Aprilgarten

das Skelett zu dieser Geschichte gab

Alles ist krumm,

es ist nichts gerades in unsrer verfluchten Natur,

als unverbesserliche Büberey.

William Shakespeare: Timon von Athen. Vierter Aufzug. Dritte Szene.

Übersetzt von Christoph Martin Wieland

1

Kaum ein Vogelruf, eine Ahnung tastenden Lichts und dann, aus der Ferne, im Morgengrauen das entsetzliche Gebrüll eines Tieres, das große Schmerzen leidet. Eine Weile verstummte alles, als lauschten die Vögel und die Geschöpfe in den Gräben, aus Ehrerbietung vor dem nahenden Tod. Dann vernahm sie das Klopfen ihres Herzens und sah sich in Billys Arbeitszimmer stehen, wo sie in Der Apotheker und Drogist 1880 über mittelalterliche Medizin las:

»Heilmittel gegen Schlaflosigkeit: Auf die Stirn aufgetragene Muttermilch führt den Schlaf herbei. Legen Sie dem Patienten ein Nachtigallenherz unters Kopfkissen. Gifte: Eisenhut, Arsen, Mutterkorn, Bittermandel. Am 18. Juli wurde Reverend J.H. Timmins, Vikar in West Malling, von der Anklage des Totschlags freigesprochen. Der Angeklagte war des Glaubens, bei dem Teelöffel Bittermandelöl, den er seiner Ehefrau verabreicht hatte, habe es sich um Süßmandelöl gehandelt.«

In der dunklen Vorratskammer hinter der Waschküche sah sie in den Hängeschrank mit veterinärmedizinischen Arzneien und Gerätschaften, und tatsächlich, da stand es, ein kleines, blassgelbes Fläschchen mit der Aufschrift »Bittermandelöl« und einem gesonderten Etikett, welches besagte: »GIFTIG!« Sie hielt es sich an die Nase und schnüffelte. Der scharfe Geruch des Todes stach ihr in die Lungen. Als sie sich dabei beobachtete, wie sie einen Teelöffel für Billys herausgestreckte Zunge abfüllte, erbebte sie am ganzen Körper. Der Teelöffel zitterte, floss über, und sie erwachte vom Gebrüll eines Tieres, das in der Stille ihres Schlafzimmers widerhallte. Dann düsteres Schweigen.

Erschrocken setzte sie sich auf und starrte hinaus in das Halbdunkel, in die Schwärze der Buchenzweige. Das gequälte Gebrüll war jetzt unverkennbar und mitleiderregend; da, schon wieder: laut und immer lauter. Von wo nur? Von der Wiese vor dem Haus? Dahinter? Ein Tier, das in einen Felsspalt gedrängt worden war und nur noch an einem Bein oder am Hals dahing? Eine kalbende Kuh in Not? Oder gewöhnliche Blähsucht, weil das hoch aufschießende Maigras zu gierig verschlungen wurde? Dreißig Sekunden lang Stille, dann ein plötzliches Gemurmel aus Billys Zimmer.

Sie stand am Fenster und kleidete sich an, als das Gebrüll von Neuem einsetzte. Sie ging hinaus auf den Flur, klopfte leise an Billy Winters’ Tür und trat ein. Ein anhaltender Geruch nach Malzwhiskey und Zigarrenqualm stieg ihr in die Nase, ein vertrauter Körperdunst, vermischt mit dem süßen Duft der Klematis, der durchs offene Erkerfenster drang und sich im oberen Flur und in den Schlafzimmern schon seit Ende April ausgebreitet hatte. Billy lag in einem grauen Nachthemd ausgestreckt auf einem holzgeschnitzten Bett, die Decke zurückgeschlagen, den Mund weit geöffnet. Durch sein Fenster war das Gebrüll noch deutlicher zu hören. Sie berührte seinen Arm, stieß ihn ein zweites Mal an und sagte: »Sir.« Einen Augenblick lang öffnete er halb die Lider; dann schloss er sie wieder. Er drehte sich weg. Wenn sie ihn dazu brachte, aufzuwachen und auf das Tier zu horchen, würde er beunruhigt in Hemd und Hose fahren und die unbefestigte Auffahrt zum Pförtnerhaus hinunterwanken, um Jim Ruttledge um Hilfe zu bitten. Herzanfall? Wie einfach, wenn er tot und begraben wäre. Was dann? Will ich irgendetwas hiervon? Den mit diesem Haus verbundenen Kummer? Ich liebe und hasse es wie keinen andern Ort auf Erden, und morgen werde ich es für immer verlassen.

Sie stand da und betrachtete seinen Hinterkopf. Sie war sich bewusst, dass sie nur einen Schritt von seinen Kleidern auf dem Stuhl entfernt war, von der an einer Gürtelschlaufe befestigten Goldkette, an deren Ende die Schlüssel zum Tresorraum des Steinbruchs, zum Rollpult im Arbeitszimmer und zu dem wuchtigen Safe hinter der Täfelung im Speisezimmer hingen.

Als sie aus seinem Zimmer auf den Flur trat und zum Treppenabsatz hinabging, setzte das Gebrüll abermals ein. Von dort führte eine Tür zu einem schmalen Gang und einer kleinen Kammer über der Küche, wo Mercy Boyle mit Öldrucken des Herzens Jesu und von Charles Stewart Parnell unter einer Dachluke schlief. Lange nach Mitternacht hatte Beth sie von einem Rendezvous oder von einem Tanz am Wegkreuz hereinkommen hören. Es wäre herzlos, sie jetzt zu wecken und mit einzubeziehen. So blieben nur noch Mickey Dolphin und Mercys Bruder Gerry, die in einer Dachkammer auf der anderen Seite des Hofes schliefen. Mickey hatte bestimmt einen Kater, Gerry wäre nervös und reizbar. Ohne die beiden würde sie besser zurechtkommen.

Sie ging weiter die Treppe hinab, vorbei an dem großen Kupferstich von der Schlacht am Boyne, an der ländlichen Szene mit Kühen und der Seelandschaft, trat in den milchigen Schimmer, den das Oberlicht in die Diele unten einließ, ging vorbei an den schwarzen Möbeln und weiter hindurch zur Küche und Waschküche.

Aus einer Schublade des Hängeschranks mit der Veterinärmedizin nahm sie die Kanüle, ein hohles, spitzes Röhrchen mit einem Kolben, und steckte sie in ihre Rocktasche. Als sie den Schrank schließen wollte, fiel ihr Blick wieder auf das Fläschchen mit der Aufschrift »Bittermandelöl«. Sie schloss den Schrank, zog ihre Arbeitsstiefel an, durchquerte den kopfsteingepflasterten Hof und ging hinaus – unter dem Torbogen hindurch und den hinteren Weg entlang. Als sie unter den aufragenden Buchen, die ein paar erlöschende Sterne um fingen, vom Weg auf den Feimenhof trat, überkam sie ein Gefühl von Licht und Durchlässigkeit: eine Schleiereule, die zwischen Linden umherhuschte, die Blume eines dahinhoppelnden Kaninchens, das sich in die Sicherheit eines Grabens flüchtete. Dann lief sie zwischen den Linden hindurch und gelangte aus deren Kathedralendunkel zu einem Tor, das zum Hügel mit der Quelle führte. Am oberen Ende der Wiese befand sich ein Ringfort, ein von Kiefern gesäumter hoher Erdwall. Sie begann den Aufstieg. Die schwarzen Silhouetten der Nadelbäume zeichneten sich scharf gegen die Röte des anbrechenden Tages ab. Sie war überzeugt, dass das Gebrüll vom Fort oder doch aus seiner Nähe gekommen war.

Sie trat durch eine Lücke im Erdwall. In dem Ringfort stand eine Herde Kühe. Unruhig muhten sie zu einer Shorthorn-Kuh hin, die auf der Seite lag. Ihr weißlicher Bauch war aufgebläht, sie rollte mit den Augen und schlug mit dem Kopf auf den Boden.

»Du armes Tier, du armes Tier«, murmelte Beth, »ich komm ja schon«, und ging zu ihr. Als die Kuh sie erkannte, muhte sie leise und hielt still. »Alles wird gut«, sagte Beth, um dem Tier die Angst zu nehmen und sich selbst Mut zu machen. Einmal war sie dabeigewesen, als Jim Ruttledge die Kanüle benutzt hatte. Er schien sie mit großer Kraft nur wenige Zentimeter vom Hüftknochen entfernt eingestochen zu haben.

Sie atmete tief durch, bis ihre Hände wieder ruhig waren, dann stieß sie mit plötzlicher Heftigkeit zu. Die Spitze durchbohrte die Kuh bis zum Magen: Das eingeschlossene Gas fuhr heraus, zischend wie ein nasser Scheit auf einem heißen Feuer, ein Schwall übelriechender Luft, vermengt mit winzigen Blutbläschen. Sie hielt den Kolben bereit, für den Fall, dass die schmale Öffnung der Kanüle blockiert wurde. Sie musste würgen; mit der Hand bedeckte sie Nase und Mund und versuchte, nicht einzuatmen. Der Gestank wurde so durchdringend und ekelerregend, dass sie sich entfernen musste. Sie merkte, wie ihre Beine weich wurden und sich ihr der Magen umdrehte. In weniger als zwei Minuten war der aufgeblähte Ballon erschlafft, das laute Zischen wich einem schwachen Luftstrom; danach Stille.

Fünf Minuten später richtete sich die Kuh wie selbstverständlich auf, blinzelte langsam und schüttelte den Kopf. Die Köpfe im Umkreis behielten sie im Auge, bis sie ein schwaches Muhen von sich gab. Die anderen erwiderten ihren Ruf, als sie aufstand, einen Augenblick breitbeinig stehen blieb und dann langsam und schwankend durch eine Lücke aus dem Fort trottete. Als Beth ihr nachsah, wurde sie sich wieder der Vögel bewusst: ein einsamer Kranich, lärmende, flatternde Krähen und Dohlen, ein Chor von Sperlingen, die hoch über ihr kreisten und wirbelten, kleine Vögel, die sich zur Feier des Tages zwitschernd im grünenden Weißdorn aufplusterten.

Durch die nördliche Lücke trat sie aus der Mulde des Forts auf das Feld, das sich bis zum Lower Lough erstreckte. Von hier aus konnte sie gerade eben Corvey Island erkennen, Teil der Mitgift ihrer Mutter, der andere war ein männliches Shorthorn-Kalb gewesen. Einmal hatte sie Billy in sich hineinmurmeln hören: »Ein minderwertiger Bulle und eine minderwertige Insel!« Dabei war der Bulle zu einem wahren Wunder herangewachsen, und Corvey Island war herrlich. Auf der Landkarte war die Insel fischförmig, und sie wusste, dass es wilde Ziegen darauf gab. Als Kind hatte sie einmal gefragt:

»Stimmt das, Mama? Kann ich allein dort wohnen?«

»Wenn du möchtest.«

»Für immer?«

»Wärst du dann glücklich?«

»Es ist der schönste Ort auf der ganzen Welt.«

»Was würdest du denn ganz allein dort tun?«

»Also … ich würde eine wilde Ziege zähmen und sie melken… Ich würde Fische fangen.«

 

»Ja?«

»Ich würde lernen, Butter zu machen.«

»Das ist gut.«

»Und ich würde Brombeeren pflücken.«

»Ja?«

»Und ich würde Apfelbäume haben… Ich wäre glücklich.«

»Würdest du Besucher zulassen?«

»Ja, aber auf meiner Insel gäb’s nachts keinen Streit, keine Tränen und kein Geschrei.«

Und sie erinnerte sich daran, dass Billy und ihre Mutter über ihre Direktheit so erschrocken waren, dass sie umgehend hinzufügte: »Ich hab doch nur Spaß gemacht.«

Der Dunst über dem See hatte sich verzogen. Jetzt konnte sie die Insel genauer sehen, die heller werdende Landschaft am anderen Ufer: Tirkennedy, wo ihre Mutter herkam. All das muss ich mir einprägen, dachte sie, denn viele Jahre nicht, vielleicht nie mehr würde sie wiedersehen, was sie sich einst als mögliches Paradies ausgemalt hatte. Morgen bei Tagesanbruch würde sie im Bahnhof von Enniskillen stehen und nach dem Begleitwagen eines Güterzugs Ausschau halten, der nach Belfast fuhr. Von dort würde sie sich ein Taxi zu einem Hotel in der Royal Avenue nehmen; am Abend würde sie das Paketboot nach Glasgow besteigen. Dann mit dem Zug nach London fahren, von wo aus sie Liam schreiben würde, um ihm ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Dort würde er zu ihr stoßen, und sie würden ihr gemeinsames Leben beginnen.

Als das Haus mit den umstehenden Buchen ins Blickfeld rückte, kam es ihr wirklicher vor als alles, was sie mit Liam Ward geplant hatte. Auf einmal musste sie kräftig schlucken, um sich eines Anfalls von Übelkeit zu erwehren. Furcht? Das Leben, das jetzt in ihr heranwuchs? Plötzlich kam vom oberen Ende einer Steintreppe, die zu einem Dachboden führte, ein überschnappendes Gebell. »Sei nicht närrisch, Bran, du weißt genau, wer ich bin!« Der alte Labrador stand auf und schlich steif und schwerf ällig die Steintreppe herab: »Oder etwa nicht?«

Die Wanduhr in der Küche zeigte Viertel vor sechs. Sie öffnete die Feuerung des großen gusseisernen Denver-Herds, in der noch ein schwerer Buchenscheit vom Vorabend schwelte. Dem unteren Teil des Ofens entnahm sie Reisig, trocken wie Zunder, und schichtete ihn überkreuz in die Feuerung, legte Torf obenauf, schloss den Luftzugregler und setzte einen schweren schwarzen Wasserkessel auf. Dann wandte sie sich um und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf.

Die Sonne war halb durch Nebelschleier und Wolken gedrungen und schien in ihr Schlafzimmer, das dem von Billy Winters gegenüberlag. Eine Weile blieb sie stehen und lauschte seinen Atemzügen, dann ging sie in ihr Zimmer und legte sich angekleidet auf ihr ungemachtes Bett. Sie spürte, wie das Blut unter ihren Lidern pulsierte. Sie bedeckte die Augen mit den Handflächen und versuchte, nicht vorauszudenken. Es war zu beängstigend. Zurück?

Woran sie sich vor allem zu erinnern schien, war das Geschrei hinter geschlossenen Türen, leidenschaftliches Gebrüll vom Fenster zum Hof hinaus, fortgeschleuderte, zerbrochene, zerschlagene und zerfetzte Gegenstände, die Angst, in der Nähe zu sein, wenn der Zank losbrach, wie er es so oft und ohne jeden Anlass zu tun schien… Ihre Mutter, die im Speisezimmer über Tirkennedy redete, wo sie zur Welt gekommen war: eine achtzig Morgen umfassende Pacht auf der anderen Seite des Sees, die zum Gut der Corrys gehörte – »echter, alter irischer Adel«, beharrte sie – und wo ihr Vater, der »rote« Jack Maguire, Pferdehändler und -trainer war, der beste in Ulster, womöglich in ganz Irland. Er hatte Beths Großmutter Rosina Quinn geheiratet, ein Dienstmädchen im Haus der Corrys, und sie hatten drei Kinder – von denen sie, Catherine, die Jüngste war. Dann schilderte sie, wie sie 1860 Billy Winters bei der Royal Dublin Society kennengelernt hatte, wo ihr Pferd, der Passgänger »Pride of Erne«, sämtliche Konkurrenten nicht nur in den Schatten gestellt, sondern deklassiert hatte (und sie hatte das Wort »deklassiert« betont); wie er sie gedrängt hatte, ihn zu heiraten, »ich war eine alte Frau von neunundzwanzig Jahren, er ein Kind von dreiundzwanzig«; die Hochzeitsfeierlichkeiten in der Privatkapelle der Corrys; ein Sonderdispens des Bischofs von Armagh; und wie eine Belfaster oder Dubliner Zeitschrift Billy als »einen der herausragendsten jungen Geschäftsleute Ulsters« bezeichnet und ihr selbst »die weiße Haut und das flammende Haar eines älteren, romantischeren Irland« nachgesagt hatte. Während sie so er zählte, hatte Billy Winters geschwiegen. Als sie ausgeredet hatte, sagte er:

»Das Beste hast du ausgelassen, Cathy!«

Ihre Mutter warf ihm einen unsicheren Blick zu, und Billy fuhr fort:

»Weißt du noch? Als dein Vater mit um die Knöchel schlackernden Hosen aus dem Kabinett kam und die Treppe in die Diele heruntertaumelte: betrunken, inmitten der Gäste, die alle lachten, weil Jimmy Donnelly, der uns getraut hatte, sich in seiner endlos langen Hochzeitsrede über Alter und Würde des irischen Namens Maguire verbreitet hatte … denn Winters ist natürlich ein völlig nichtssagender Name, und hier stand er nun, der Vater der Braut, der große Pferdehändler, der Häuptling der Maguires, ein Clown mit heruntergelassenen Hosen, wie man hier in der Gegend sagt: ›eine komische Art des Abstiegs‹ … oder, wenn du willst, ein Abstieg für Komiker! Dein Bruder Jimmy war zu unsicher auf den Beinen, um zu helfen, und deine Tante Annie erlitt einen Schwächeanfall, und so waren es denn die Braut und die Mutter der Braut, die herbeistürzten, um ihn wieder herzurichten… Am nächsten Tag wusste es das ganze Land: was für eine Blamage für den alten Namen!«

Ihre Mutter hatte eine Minute lang aus dem Fenster gestarrt, in ihrem Hals pochte eine Ader, ihr gereiztes Blut stieg ihr ins Gesicht wie die Säule eines Barometers. Als sie endlich sprach, zitterte ihre Stimme.

»Als es hier noch keine Felder gab, bevor die Greenes und die Brownes, die Winters und die Somers, rattenarme Räuber mit nichtssagenden Namen, hierherkamen, um uns wegzunehmen, was uns gehörte, war Maguire ein stolzer Name, und das ist er noch immer.«

»O ja, den Stolz gibt’s noch immer«, sagte Billy, »und keinen roten Heller, um ihn zu rechtfertigen!«

Und als Billy aus dem Zimmer nach oben gegangen war, hatte ihre Mutter einen Krug oder eine Schale gegen die zufallende Tür geschleudert und vor Zorn geweint, bevor sie ihm in die Diele hinausfolgte. Sie hatte sich ans Treppengeländer geklammert und ihm hinterhergeschrien: »Warum musst du immer wieder auf mir herumhacken wie ein gottverdammtes Fischweib?«

»Wer bist du schon, dass du auf Fischweiber herabsehen kannst?«

»Ich sehe auf niemanden herab.«

»Einmal hat irgendein feuriger Kerl auf dich herabgesehen, so viel steht ja wohl fest.«

Ihre Mutter hatte sich die Ohren zugehalten und gekreischt: »Hör auf!« – so laut, dass Beth von der Speisezimmertür zurückwich und sich selbst die Ohren zuhielt. Als sie die Hände herunternahm, hörte sie:

»Ich habe dich wegen dieses einen Fehlers um Verzeihung gebeten.«

»›Fehler‹ ist ein niedliches Wort!«

»Welches Wort hättest du denn lieber?«

Dann Billys Stimme, die eine bittere Antwort hervorstieß:

»Rassenmischung, unehelich; Roms Giftkelch in deinem Bauch, als wir geheiratet haben! Dieses Kind ist nicht mein eigen Fleisch und Blut und wird mich nicht beerben, hast du verstanden, es wird mich nicht beerben; niemals wird es oder seinesgleichen meine Bäume beschneiden, meinen Torf verbrennen, meine Äpfel pflücken, meine Kühe melken, meine Steine brechen und niemals meine Äcker pflügen – niemals!«

»Himmel! Du bist ja wie ein kropfkranker Papagei! … Du meine Güte! Ihr habt uns bestohlen, und du weißt sehr wohl, dass ihr uns bestohlen habt.«

Später am Abend kam die Mutter zu ihr ins Bett gekrochen. Sie hörten, wie Billy auf dem Klavier unten irgendwelche Melodien klimperte. Zu betrunken, um Akkorde zu greifen, versuchte er, die Melodien mit einem Finger zu spielen; danach klang es so, als schlüge er schreiend mit beiden Fäusten auf das Klavier ein. Sie hörten ihn auf der Treppe und wie er im Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs rumorte. Dann Schweigen. Beth merkte, dass ihre Mutter zitterte.

»Warum schreit Papa immer was von ›Bauch‹ und so?«

»Er ist betrunken.«

»Hat er dich geschlagen?«

»Ich wünschte, er hätte es getan.«

»Wir sollten fortgehen, Mama.«

»Das können wir nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil wir es nicht können.«

»Er ist ein brutaler Kerl… Als er dich das letzte Mal geschlagen hat, hast du gesagt, du würdest ihn umbringen.«

»Das war unrecht von mir.«

»Ich jedenfalls hasse ihn.«

»Das tust du nicht, Liebling.«

»Doch.«

»So darfst du nicht reden, das ist schlimmes Gerede, und meistens liebe ich ihn ja doch.«

»Du liebst ihn nicht, Mama: du kannst ihn nicht lieben!«

»Ich kann es, und ich tu’s… Schlaf jetzt.«

Und noch Jahre später hatte das Wort »beerben« in ihrem Kopf nachgeklungen – »mich nicht beerben, mich nicht beerben, mich nicht beerben«. Zuerst hatte sie geglaubt, es bedeute »beerdigen«: dass sie ihn nicht beerdigen würde, wie andere Kinder es tun. Als sie herausfand, was es bedeutete, kam es ihr noch schlimmer vor: »verstoßen, vertrieben, verjagt, verworfen, verleugnet, vom Vater verstoßen werden; alles verlieren.« Am Grab ihrer Mutter hatte sie alles verloren. Regen, gelber Lehm und der Sarg, der in das ansteigende Wasser gesenkt wurde. Billys enterbender Arm um ihre Schulter und Geschluchze, das Ende von allem. Wochen der Trauer und der Gebete, dass der Tod allem ein Ende bereiten möge. Dann ab in eine Klosterschule in Monaghan. Weihnachten und Ostern mit Billy in Clonoula, wo er eine Menge getrunken und geredet haben musste, wo er gesungen, auf ihrer Bettkante gesessen und geweint hatte; und sie mit ihm. Als er einmal versucht hatte zu beschreiben, wie ihre Mutter ums Leben gekommen war, konnte er nicht weiterreden. Jahre später erfuhr sie von Winnie Ruttledge in der Küche des Pförtnerhaus Einzelheiten: die Ankunft des Bullenkalbs aus Tirkennedy als Teil der Mitgift ihrer Mutter – und wie stolz sie darauf war und jedem erzählte, es heiße Cooley, und wie jeder es zu einem Wunderkalb erklärte, seinen ungewöhnlichen Körperbau pries, seine Knochen und Muskeln, die Kraft seines Nackens und seiner Schultern, und seine Augen, denen kein Bauer je den Rücken zukehren würde.

Im Lauf der Jahre wurde Cooley eigensinnig, riss sich den Kupferring aus der Nase, durchbrach Tore und drängte sich durch Lücken zu den Nachbargehöften, durchschwamm den See, um zu den Kühen und Färsen zu gelangen, die den Sommer über auf den größeren Inseln weideten. Sie mussten das Tier in das Steinhaus hinter dem Pferch im oberen Hof sperren. Eines Tages wurde Cooley wütend und ging auf Jim Ruttledge los.

»Wär Mickey Dolphin nicht in der Nähe gewesen, wär ich jetzt Witwe, und als der Boss davon erfuhr, beschloss er, ihn loszuwerden. Als sie ihn am nächsten Tag auf einen Anhänger luden, öffnete der Himmel seine Schleusen. In dem Augenblick kam deine Mutter auf ihrem Einspänner in den Hof gefahren. Durch den dichten Regen konnte sie nichts sehen. Die beiden Männer hatten gerade die Laderampe hochgeklappt, als der Bulle sich im Anhänger umdrehte, mit dem Kopf gegen die Rampe schlug und die beiden Jungs über den Hof wirbelte wie zwei Äste. Dann kam er brüllend herausgestürmt, spießte das Pferd auf, stürzte den Wagen um, schleuderte deine Mutter in die Luft und zerfetzte sie kläglich, bevor Mickey ihn mit einem Peitschenhieb im Auge erwischte und mein Mann ihm mit der Axt den Schädel spaltete. Und ich schwöre zu Gott, sein Gebrüll und Geschmetter hab ich noch hier unten gehört, eine halbe Meile entfernt, bis sie ihm endlich die Kehle durchschnitten. Allmächtiger Gott, was für ein Bild der Verwüstung, die ganze Straße voll Wasser und Blut und alle Welt hysterisch; aber sie war tot, deine Mutter, der Boss hielt ihren Kopf: tot tot tot, und bis zu ihrem schönen weißen Gesicht mit einer Pferdedecke bedeckt. Und als ich den Mut fand, die Decke zu lüften, sah ich … gnädiger Gott … ein winziges blindes Blag in ihrem zerfetzten Schoß, nicht größer als ein Ferkel.«

Bruder? Schwester? Sie legte die Hände auf ihren Bauch. Da war nichts zu spüren. Das »Blag«, das sie von Liam Ward empfangen hatte, würde kleiner sein als ein Kätzchen. Sie würde ihm nichts davon erzählen, bis ihr Plan ausgeführt wäre, bis sie Clonoula, Fermanagh, Irland weit hinter sich gelassen hätten. An Bord eines Schiffes, den Blick zurückgewandt, würde sie ihm erzählen, dass sie nicht nur ein neues Leben, sondern auch eine neue Familie begonnen hätten.

»Miss Lisbeth, Beth, Miss Beth!«

 

Dicht vor ihr stand Mercy Boyles Gesicht. Draußen vor dem Fenster das hellste weiße Maienlicht auf den blassesten grünen Buchenblättern. Und weit darüber ein hoher, klarer Himmel.

»Petey Reilly ist an der Hintertür, Miss.«

»Wer?«

»Der Mann vom Kanonikus … er ist hier mit ’ner Nachricht für den Boss. Haben Sie die ganze Nacht in Ihren Kleidern geschlafen?«

»Nein, nein, ich erklär’s dir, wenn ich runterkomme, sag du dem Boss Bescheid, Mercy.«

»Mach ich… Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Miss.«

Mercy legte ein kleines Päckchen auf die Tagesdecke, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür. Beth löste das grüne Band und faltete das Seidenpapier auseinander. Darin fand sich ein reich verziertes Messingmedaillon. Als sie es aufschnappen ließ, sah sie die gemeißelten Gesichtszüge und hypnotischen Augen Charles Stewart Parnells.