Buch lesen: «Schärenmorde», Seite 3

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Auf dem Türschild stand Kurt Karlsson und ein weiterer Name, aber der Mann in der Wohnung am Simpbylevägen war allgemein als Wonner bekannt. Seine Haare waren genauso dunkel wie der Anzug, den er trug. Und fast noch dunkler war seine Augenfarbe. Es funktionierte ausgezeichnet, wenn er sein Lächeln aufsetzte und sich in kultivierten Kreisen aufhielt. Besonders Frauen waren von seinem Aussehen und seinem Charme beeindruckt.

Jetzt warf er einen Blick auf seine Uhr und ging hinaus.

Fatima befand sich auf dem Heimweg von ihrer morgendlichen Trainingsrunde in Richtung Långgarn. Sie begann allmählich müde zu werden, während ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinablief, hielt jedoch das Tempo bei. Aus diesem Grunde konnte sie nur knapp ausweichen, als ein Mann mit langen Schritten auf den Simpbylevägen hinaustrat. In dem Augenblick, in dem sie auswich, hörte sie ihn etwas sagen, was wie ein freundliches »asta rochno« klang.

Als Fatima gerade unter die Dusche steigen wollte, klingelte das Telefon. Es war Malin: »Wir müssen uns treffen.«

Es dauerte drei Tage, ehe das Treffen zwischen den beiden Freundinnen zustande kam. Wenn Fatima frei hatte, musste Malin arbeiten und umgekehrt. Jetzt saßen sie an einem Ecktisch in einem Café in Finsta. Aus irgendeinem Grund hatten sie es für besser befunden, sich irgendwo außerhalb von Norrtälje zu treffen. Fatima begann damit, sich zu entschuldigen.

»In der letzten Woche gab es furchtbar viel zu tun, von dem Augenblick an, als wir Lars im Hafenbecken gefunden haben. Während der letzten Tage sind alle, die vom regulären Dienst abgezogen werden konnten, für die Suche nach einem verschwundenen Rentner eingeteilt worden. Trotzdem haben wir bis jetzt nur sein Auto und eine Thermoskanne gefunden, die ihm vermutlich auch gehört.«

»Wo hat die denn gelegen?«, fragte Malin, die nach jedem Strohhalm griff. Dann erzählte sie selbst ausführlich, was ihr auf dem Dach des Silos zugestoßen war, und sie sprachen lange über den Abend im Theater.

»Was passiert denn nun?«, fragte Malin. Sie sah Fatima an und dachte: Bin ich denn die Einzige auf der Welt, die Robert immer noch für unschuldig hält? Sowohl sie als auch Fatima waren im Gerichtsgebäude gewesen, als die Verhandlung wegen der Untersuchungshaft stattfand. Fatima als begleitende Polizistin und sie selbst als Angehörige. Malin erfuhr nicht, was besprochen wurde, da der Staatsanwalt darauf bestand, dass die Verhandlung hinter verschlossenen Türen stattfand. Sie wusste nur, dass Robert auf Grund überzeugender Indizien unter Mordverdacht stand. Es war unfassbar.

Sie saß immer noch da und betrachtete Fatima. Versuchte, die Stärke ihrer freundschaftlichen Verbundenheit auszuloten und stellte die Frage: »Ich weiß, dass er unschuldig ist, was weiß die Polizei, was weißt du?«

»Das wird schwierig werden«, sagte Fatima.

Malin zischte: »Was heißt denn schwierig! Glaubst du, dass er unschuldig ist, oder nicht?«

Fatima wollte nicht antworten, sie wollte nichts erzählen. Sie versuchte zuversichtlich auszusehen, als sie Malin ansah. Aber sie merkte, dass das nicht reichte. Malin war ihre beste Freundin und ihre Stütze gewesen, immer wenn sie jemanden gebraucht hatte. Jetzt waren die Rollen vertauscht. Sollte sie sich da hinter ihrem Beruf verstecken, sollte sie Sachen sagen wie »Schweigepflicht während der Voruntersuchung«, sollte sie sagen, dass sie ihre Stelle verlieren könnte? Nein, dachte sie, es gibt etwas, das über alles andere geht, etwas, das die Menschen dazu bringen kann, allen Ängsten, Gesetzen, Verordnungen oder was auch immer zu trotzen, denn sie wissen, dass das Wichtigste schlicht und einfach die reine Menschlichkeit ist. Ohne diese und ohne mutige Menschen, die gewagt hatten, sich vorhandenen Systemen entgegenzustellen, wäre es ihrer Familie niemals gelungen, nach Schweden zu gelangen. Fatima wusste, dass jetzt die Reihe an ihr war. Die Zeit war gekommen, etwas für einen anderen zu tun.

So erzählte sie dann, dass sowohl der Hafenmeister als auch der Lotse angehört worden waren und dass die Polizei versuchte, mit internationaler Hilfe die Besatzung der Melchior zu erreichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

»Du erzählst besser niemandem etwas, und im Hinblick darauf, was dir zugestoßen ist, wäre es eigentlich sicherer für dich, so wenig wie möglich zu wissen«, sagte Fatima. Dann erzählte sie von dem Volvo, der neben dem Transporter aufgetaucht war, als sie mit Robert in das Gerichtsgebäude fuhren. Robert war zusammengezuckt und hatte gesagt: »Der schon wieder«. Und als Fatima gefragt hatte, was er meine, hatte er gesagt, dass der Mann im Auto jemandem ähnele, der neben der Badeanstalt gestanden und hinauf zum Polizeirevier geblickt habe an diesem ersten Tag, als er und Fatima während der ersten Verhöre eine Kaffeepause eingelegt hatten. Als sich Fatima nach dem Volvo umsah, war er schon vorbei, und sie konnte nur noch einen dunklen Haarschopf über einer dunklen Jacke erkennen. Erst als Fatima dies Malin erzählte, fiel ihr der Mann wieder ein, den sie auf dem Simpbylevägen fast umgerannt hatte.

»Er war dunkel angezogen«, sagte Fatima. »Und weißt du was? Er sagte zu mir, ich solle aufpassen, aber er hat es auf Russisch gesagt.«

»Aber warum habt ihr Robert verhaftet, wenn ihr glaubt, dass es um etwas anderes geht?«

Fatima betrachtete ihre Freundin und überlegte, wie viel sie wohl vertrüge.

»Robert arbeitet in einem Lager in Görla. Wir wissen beide, dass er intelligent ist, ein bisschen faul vielleicht, aber wirklich nicht dumm. Warum arbeitet er dann in einem Lager, verstaut Reserveteile in verschiedenen Regalen? Vielleicht ist es nur so, dass er das tut, während er darüber nachdenkt, was er aus seinem Leben machen soll. Oder aber er arbeitet dort, weil es vielleicht jemand anderem nützt. Vielleicht hat ihn irgendjemand in der Hand, vielleicht ist er in irgendetwas verwickelt, was noch nicht einmal du weißt. Wir wissen, dass Lars Gustavsson ermordet wurde. Er hatte Schnittwunden an Händen und Unterarmen und Quetschungen am Hinterkopf. Und wir wissen, dass das Blut an Roberts Jacke von Lars Gustavsson stammt.«

Malin traute ihren Ohren nicht.

»Aber warum ist er dann selbst zur Polizei gegangen?«

Fatima blickte Malin tief in die Augen. »Erinnerst du dich, dass Robert und seine Kumpel im letzten Herbst die Fähre von Kapellskär nach Paldiski genommen haben, und das etwas passiert ist? Robert hatte sich von den anderen getrennt und war über Nacht verschwunden.«

»Er war doch nur blau«, sagte Malin.

»Ich will nicht sagen, dass es so war, aber dass es so gewesen sein könnte. Robert ist vielleicht zur Polizei gegangen, weil er genug hatte. Vielleicht dachte er, dass er auf diese Weise allem aus dem Weg gehen könne. Er weiß vielleicht etwas, was er nicht zu erzählen wagt, oder aber er ist, genau wie du sagst, vollkommen unschuldig.«

»Wenn er seit dem Herbst in irgendetwas verwickelt gewesen wäre, hätte ich das gemerkt. Sich betrinken, weggetreten sein und alles vergessen, das ist typisch Robert, nichts anderes.«

Fatimas Ehrlichkeit war schwer zu ertragen. Aber Malin sah auch, was es bedeutete, dass Fatima ihr Dinge erzählte, die eigentlich vertraulich waren. Ehe sie sich trennten, hatten sie sich für den nächsten Tag zum Laufen verabredet. Malin hatte einen Wunsch, wohin es gehen solle.

»In den Sika-Wald.«

Als sie am nächsten Morgen in die Gegend kamen, in der die Thermoskanne gefunden worden war, verringerten sie das Tempo und joggten ganz langsam, während sie den Boden vor sich absuchten. Malin fand, dass es angenehm sei, etwas langsamer zu laufen. Fatima hatte eine bessere Kondition als sie.

»Super, dass du auch während der Arbeitszeit trainieren kannst«, sagte Malin, aber Fatima war schon vorgelaufen und konnte sie nicht mehr hören.

Malin rutschte an einer Stelle weg, an der der Weg völlig uneben war. Das müssen die Autos der Suchtrupps gewesen sein, dachte sie und hob ein graublaues Stück Holz mit einem Nagel darin auf.

Da hatten die Suchtrupps ja Glück, dass sie keinen Platten bekommen haben, dachte sie. Gleichzeitig merkte sie, dass sie in der linken Seite Seitenstechen bekam.

Sie hielt das Stück Holz mit der Linken fest und ließ den Nagel zwischen Zeige- und Mittelfinger rausstehen. Zurück in der Stadt verabschiedete sie sich von Fatima, ohne weiter an das Stück Holz zu denken.

»Bis demnächst!«

»Sei vorsichtig.«

Das Seitenstechen hatte nachgelassen, aber das Stück Holz hielt Malin noch in der Hand.

Während sie erschöpft auf einen Stuhl im Flur sank, legte sie es auf den kleinen Tisch unter dem Spiegel. Sie bemerkte nicht, dass ein paar Buchstaben darauf standen: htobka. Es sah aus, als ob sie an ein Wortende gehörten, der Anfang war weggebrochen.

8

Der Mann, der Wonner genannt wurde, wachte von einem Geräusch auf, das er nur zu gut kannte, das er aber durchaus nicht schätzte.

Der Wecker klingelte.

Er drückte den Wecker stumm und schaute auf die Zeitangabe. Sie zeigte Viertel vor zwei morgens. Es war Donnerstag, und es begann draußen gerade hell zu werden.

Wonner gähnte und saß eine Weile ganz still auf der Bettkante. Hauptsächlich, um sich selbst Zeit zum Aufwachen zu geben. Nach ein paar Minuten stand er auf und streckte sich.

Zeit, um in Gang zu kommen, dachte er.

Eine dreiviertel Stunde später saß er am Küchentisch im Simbylevägen, frisch geduscht und gekämmt, eine Tasse starken schwarzen Kaffee vor sich. Er trank vorsichtig von dem heißen Getränk und fingerte gleichzeitig mit der anderen Hand an dem Laptop herum, der vor ihm auf dem Tisch stand. Er trank noch einen Schluck, bevor er den Internetbrowser öffnete und eine Adresse eingab:

www.marinetraffic.com

Eine Homepage, von der er nicht genau wusste, wer dahinter stand, die sich jedoch als sehr nützlich erwiesen hatte. Sie zeigte den Schiffsverkehr in der ganzen Welt an.

Er zoomte auf einer Karte die Ostsee heran. Er wartete und trank unterdessen noch einen Schluck Kaffee. Bald tauchte eine Menge Schiffe auf der Karte vor ihm auf. Dort gab es Passagierfähren, Frachtschiffe und Tanker. Die ganze Ostsee war voll mit Schiffen.

Was für ein Gewimmel, dachte er. Wenn die Leute wüssten, wie viel über die Weltmeere hin und her transportiert wird.

Wonner zoomte noch einmal. Jetzt erschien nur das Åländische Meer. Noch mehr Schiffe tauchten auf. Er hielt die Maus über die kleinen Schiffsicons, um zu sehen, um welche Schiffe es sich handelte und wohin sie unterwegs waren.

Wonner fand das, was er suchte, auf halbem Wege zwischen Åland und Söderarm. Sertem Explorer. Mit 14,6 Knoten auf dem Weg in Richtung schwedische Küste. Bestimmung: Norrtälje.

Wonner stand auf, ging ins Wohnzimmer und blickte aus dem Fenster. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Er hatte dieses Gefühl schon seit mehreren Tagen und wurde die Ahnung nicht los, dass ihm jemand auf den Fersen war.

Wonners Augen verengten sich.

Wir dürfen keine Risiken eingehen, dachte er. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen. In den letzten Wochen ist allzu viel passiert, Dinge, die meinen Auftraggeber misstrauisch werden lassen könnten. Was soll ich zu meiner Verteidigung vorbringen? Dass ich Idioten beschäftige? Idioten, die zuerst töten und dann denken?

Wonner seufzte. Er schloss die Webseite, ehe er den Laptop zuklappte. Dann griff er nach seinem Handy und wählte eine Nummer. Nach zwei Signalen wurde abgenommen. Die Stimme am Telefon sprach Russisch.

»Ja?«

»Ich bin es«, sagte Wonner. »Ist alles klar für die Lieferung?«

»Keine Probleme«, antwortete die Stimme.

Der Empfang wurde für einen Augenblick unterbrochen. Wonner hörte, wie es knisterte. Dann war die Stimme wieder da.

»Ist alles vorbereitet?«

Wonner sah auf seine Armbanduhr.

»Ja, sie kommen«, sagte er.

Entlang der Südseite der Furusundrinne, zwischen Kapellskär und Söderarm, liegt eine Inselkette. Sie beginnt mit Plomman in der Nähe von Kapellskär. Eine sagenhaft schöne Insel mit Sandstränden, an der die Bootsbesatzungen und besonders auch die lokale Bevölkerung anzulegen pflegen, um den allzu heißen Sommertagen auf dem Festland zu entkommen. Die Fahrrinne geht dann weiter an der westlichen und der östlichen Lerschäre vorbei, ehe auf der rechten Seite eine Inselgruppe auftaucht, die Viggskären genannt wird. Eigentlich handelt es sich um eine Riesenansammlung von Inseln, bei denen sich niemand die Mühe gemacht hat, ihnen einen Namen zu geben.

Ziemlich anspruchslose Inseln. Auf einer der Inseln gibt es einen öffentlichen Abtritt, den aber selten jemand benutzt.

Dafür gibt es zwei Gründe.

Der erste Grund ist das Meer. Es ist wichtig festzustellen, aus welcher Richtung der Wind kommt, falls man die Absicht hat, bei den Viggskären anzulegen. Bei nordöstlichem Wind schlagen dort hohe Wellen vom Meer aus auf, und dann kann es gefährlich sein, mit kleinen Schiffen zu diesen Inseln hinauszufahren. Es gibt viele Untiefen. Und das Meer ist tückisch.

Das Zweite, an das man denken muss, ist der Schiffsverkehr. Die großen Fähren oder Schiffe, die zwischen Stockholm, Norrtälje oder Kapellskär hin und her fahren, werfen große Wellen auf, was dazu führen kann, dass kleinere Boote – oder auch etwas größere – zerschlagen werden können, wenn sie an den Stränden der Viggskären auf der Nordseite vertäut liegen. Das Ganze pflegt damit zu beginnen, dass sich das Wasser immer stärker bewegt, aus den kleinen Buchten herausgezogen wird, um dann anzusteigen. Die Bewegung schaukelt sich dann immer höher. Die Ankerleinen spannen sich, die Boote beginnen zu schwanken. Dann kommen die Wellen.

Es passiert leicht, dass man davon überrascht wird.

Und wenn man überrascht wird, dann ist es in der Regel zu spät.

All das wusste Erik Jansson aus Östernäs auf Rådmansö sehr genau, als er früh bei Sonnenaufgang sein geschütztes Nachtlager auf der Leeseite einer Schäre verließ und um die nördliche, etwas exponierter liegende Seite der Insel segelte. Die Netze sollten geleert werden.

Und Barsch ist gut, dachte Erik Jansson, als er den Außenbordmotor abstellte. Über seinen schmalen Augenschlitzen befanden sich ein paar buschige Augenbrauen, die vermutlich schon während der Pubertät zusammengewachsen waren.

Erik Jansson hatte gerade etwas aus dem Augenwinkel heraus bemerkt. Etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Etwas, das ihn dazu veranlasste, nach oben zu sehen, statt hinunter auf den Meeresboden.

Direkt im Norden sah er Köttkobben, eine Insel, auf der er als kleiner Junge Brassen mit Pfeil und Bogen geschossen hatte. Im Osten sah er, wie schon viele Male zuvor, den Leuchtturm von Söderarm. Er bedeutete Sicherheit auf den Fahrrinnen. Ein immer zuverlässiger Wächter über den Schärengarten und seine Bevölkerung.

Bei Nygrund, auf der rechten Seite des Köttkobben, glitt in der Morgendämmerung ein rostiges Schiff ruhig vorbei.

Erik Jansson schielte zum Schiff hin. Plötzlich bemerkte er ein kleineres Boot, das langsam hinter dem Köttkobben hervorkam, einige hundert Meter entfernt von dem Schiff. Das Boot kannte er nicht.

Alles weitere geschah im Verlauf weniger Minuten.

Jansson sah, wie das Frachtschiff seine Fahrt verlangsamte. Er fragte sich warum. Kurz darauf beobachtete er, wie das kleine Ruderboot am Heck des Schiffes anlegte. Wieder fragte er sich nach dem Grund. Noch ein wenig später fuhr das kleine Boot auf demselben Weg zurück, auf dem es gekommen war und verschwand hinter dem Köttkobben.

Jansson kratzte sich am Hinterkopf.

Das war ja seltsam, dachte er.

Und dann begann er, die Netze heraufzuziehen.

Vier Stunden später glitt die Sertem Explorer in den Hafen von Norrtälje hinein. Im Societetspark führten Frühaufsteher ihre Hunde aus. Einige von ihnen gingen die Hafenpromenade entlang. Ein Mann joggte auf dem Rasen in Richtung Landungsbrücke.

Wonner kümmerte sich nicht um sie.

Er stand in dem Wäldchen oberhalb vom Societetspark versteckt und suchte den Hafen ab, beobachtete jedoch nicht das Schiff, das begann, im Hafen anzulegen. Wonner interessierte sich für etwas anderes. Er suchte nach etwas, das nicht so war, wie es sein sollte.

Zuerst blickte er in Richtung S/S Norrtelje. Dann ließ er den Blick langsam über den Kai an den Liegeplätzen vorbeischweifen. Er hielt plötzlich inne, als er einen Mann sah, der am Fuße des größten Silos stand und sich vorbeugte. Wonner senkte den Blick und überlegte eine Weile, dann hob er den Blick wieder und suchte den Hafenbereich weiter ab.

Plötzlich erblickte er das, wonach er suchte. Eine Abweichung. Er sah etwas, was sich normalerweise nicht dort befand.

Es war eine Frau.

Wonner spürte ein warmes Gefühl der Zufriedenheit. Er hatte Recht gehabt. Sein Bauchgefühl war richtig gewesen. Die Frau stand dort, um die Sertem Explorer zu beobachten, das war offensichtlich. Sie stand dort und wartete auf das Schiff, da sie offenbar irgendetwas wusste oder erwartete.

Wonner sah plötzlich außerordentlich ernst aus. Das zufriedene Gefühl war verschwunden. Sein Gesicht sah aus wie versteinert.

»Dieses Mal«, sagte er leise zu sich selbst, »dieses Mal kannst du schnüffeln, so viel du willst, Fatima Barsawi.«

9

IT Works

Unternehmensberater Ronald GW Schneider

Problemlösungen – Sicherheit – technische Übersetzungen

Elias Mellberg hatte das Schild öfters gesehen, wenn er auf dem Weg zum Spielzeugladen war, um Computerspiele anzusehen und zusammen mit seinem Klassenkameraden William Olsson in der Secondhand-Kiste zu wühlen.

Er war sein Star-Wars-Legospiel leid geworden, auch wenn ihm der Jedi Shuttle, der im Bücherregal stand, immer noch gefiel. Aber Computerspiele waren cooler. Ganz klar. Am liebsten würde er das letzte Call-of-Duty-Spiel haben, aber seine Eltern hatten abgelehnt. Keine Kriegsspiele. Punkt, aus.

Jetzt war er unterwegs zum Spielzeugladen, um trotzdem einen Blick darauf zu werfen und sich zudem das neue Shogun-Spiel anzuschauen. Im Rucksack hatte er das komische kleine Gerät, das er im Hafen gefunden hatte.

Er blieb vor dem Schild von »IT Works« stehen. Es befand sich an der Tür eines Ladens mit einem Fenster zur Straße hin. Manchmal saß jemand dort drinnen und arbeitete, manchmal war es dunkel und leer in dem Geschäft.

Jetzt saß ein Mann am Schreibtisch. Ein Krawattenmann, dachte Elias, als er das helle Hemd und die rote, gemusterte Krawatte sah. Er kannte bisher keine Krawattenmänner. Weder sein Vater noch die Freunde seines Vaters oder Palle im Freizeitheim trugen Krawatten. Aber dieser da sah recht freundlich aus. Ganz okay eigentlich.

Er stand draußen und fühlte, wie ihm das Herz bis in den Hals schlug.

Konzentriere dich, Elias, ein richtiger Detektiv darf nicht feige sein, dachte er. Dann ergriff er die Türklinke. Der Mann am Schreibtisch sah etwas erstaunt auf, als er Elias erblickte.

»Hallo«, sagte er und lächelte. »Ich heiße Ronald, wie heißt du denn?«

»Elias.«

Er holte Luft und fuhr fort: »Du kennst dich mit Computern aus, nicht?«

Ronald lächelte wieder und zwinkerte Elias zu.

»Ja, ziemlich gut. Weißt du, ich habe gleich ein Kundengespräch, aber ich kann vorher noch kurz mit dir sprechen. Ist dein Computer kaputt gegangen?«

»Nein, ich habe überhaupt keinen eigenen Computer. Ich meine Dinge, die man für einen Computer braucht. Verschiedene Teile. Kennst du dich da aus?«

»Meinst du Tastaturen oder Lesegeräte?«, fragte Ronald.

Er war vom Stuhl aufgestanden, war um den Schreibtisch herumgegangen und hatte sich mit gekreuzten Armen auf die Schreibtischkante gesetzt.

Er scheint in Ordnung zu sein, dachte Elias und überlegte, ob er Ronald seinen Fund zeigen sollte, als sich die Tür öffnete und eine Frau hereinkam. Ronald trat auf sie zu, reichte ihr die Hand, während er Elias zunickte.

»Hallo, guten Tag. Ronald Schneider. Und Sie sind Kerstin Söderström, nehme ich an.«

Elias blieb noch einen Augenblick stehen, während die Frau Ronald gegenüber Platz nahm.

Als Ronald begann, über Server und Computersysteme zu sprechen, verschwand Elias vorsichtig rückwärts durch die Tür.

Er war schon auf dem Weg in Richtung Spielzeugladen, als er Ronald rufen hörte: »Wiedersehen, Elias. Komm doch ein anderes Mal wieder, dann können wir weiterreden.«

Donnerstagnachmittag. Bald Ende der Arbeitswoche.

Harry Lindgren nahm einen Schluck Kaffee und schüttelte sich. Rattengift, dachte er und ließ seine Gedanken schweifen.

Das letzte Wochenende war schön gewesen. Am Sonntag hatte er zusammen mit seinen Enkeln Malte und Ruben auf einer Felsplatte unter der Svartnöbrücke gestanden und Heringe geangelt. Zwei Wildfänge, die es geschafft hatten, einen ganzen Eimer mit silberglitzernden Fischen zu füllen, ohne sich mehr als nötig in den Leinen zu verfangen. Glück gehabt, dachte er.

Morgens hatte er den Weg über Södra Bergen zur Polizeiwache genommen. An der Balustrade hinter der Bergstugan war er stehen geblieben und hatte über das Wasser der Norrtäljebucht geblickt bis hin zum Turm des Silos, der immer noch stand. Er hatte die Lachmöwen kreischen gehört, den Duft von Flieder eingeatmet und gedacht, dass es nicht viel besser sein könne, als es war.

Glück.

Jetzt saß er am Schreibtisch und dachte über das nach, was in den letzten Wochen passiert war.

Es gab einen Rentner, der ebenso spurlos wie unerklärlich verschwunden war. Jetzt rief die Familie jeden Tag an und forderte Aufklärung. Zu Recht.

Vor allem jedoch gab es den Mord an Lars Gustavsson, der in Harry Lindgrens Augen nicht geklärt war. Er war weit entfernt von der Überzeugung, dass Robert Skogh schuldig war, trotz des Blutes auf seiner Jacke. Das Frachtschiff, das Hals über Kopf abgefahren war, ließ darauf schließen, dass es bei dieser Geschichte noch mehr Verwicklungen gab.

Er wusste auch nicht, was er von dem Überfall halten sollte, den Robert Skoghs Schwester angezeigt hatte. Und was hatte sie eigentlich auf dem Turm des Silos zu suchen?

Harry Lindgren seufzte und rief Fatima Barsawi an.

»Wir müssen Skogh noch einmal vernehmen. Ich bin sicher, dass er mehr weiß, als er gesagt hat. Er kann wohl nicht so dumm sein, wie er wirkt. Und wir müssen auch noch einmal mit der Schwester sprechen.«

Malin Skogh sank nach einem anstrengenden Arbeitstag in den Korbstuhl im Flur. Der Frühsommer war immer eine hektische Zeit im Salon »Hårklipparna«. Plötzlich wollten alle einen Termin haben, um sich für eine Konfirmation, eine Hochzeit, Abiturfeiern oder andere Festlichkeiten schön machen zu lassen. Schneiden, Waschen, Föhnen, Färben, Steckfrisuren, Dauerwellen und und und, es nahm kein Ende.

Ich darf nicht aufgeben, dachte sie. Ich muss weiterkommen.

Sie hatte mit Roberts Rechtsanwalt Tomas Fredriksson gesprochen, der sie darauf vorbereitet hatte, dass Robert wahrscheinlich verlegt würde. Es sieht nicht besonders gut aus, hatte er gesagt.

Als sie ihren Kopf in die Hände stützte, bemerkte sie das Holzstück, das seit der Joggingrunde mit Fatima auf dem Tisch gelegen hatte. Ich kann nicht einmal mehr aufräumen, dachte sie und hob es auf.

Sie drehte und wendete es und betrachtete die russischen Buchstaben. Merkwürdig, dachte sie. Die Besatzung des Frachters, der Mann, mit dem Fatima zusammengestoßen war, und jetzt diese Buchstaben.

Sie dachte daran, wie ihre Mutter sich mit Leonard Cohen zu trösten pflegte, wenn alles düster aussah.

Ann-Marie Skogh hatte eine schwere Zeit durchgemacht, nachdem ihr Mann Tommy sie verlassen hatte und zu einer anderen Frau nach Halmstad gezogen war. »Aber das Licht kommt immer zurück, Malin«, hatte Ann-Marie gesagt und immer wieder die beiden Zeilen von Cohens »Anthem« wiederholt: »There is a crack in everything, that`s how the light gets in«.

Sie hat Recht gehabt, dachte Malin. Als die Kinder erwachsen waren, hatte sich Ann-Marie von ihrer Stelle als Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus beurlauben lassen und sich bei den Ärzten ohne Grenzen beworben. Jetzt befand sie sich auf Haiti und erzählte, wenn sie über Skype miteinander sprachen, dass sie glücklich sei, etwas Sinnvolles zu tun.

»That’s how the light gets in«, flüsterte Malin leise für sich selbst, zog die Joggingschuhe an und trat hinaus in den milden Frühsommerabend.

Sie ging die Hantverkaregatan hinunter zum Hafen, wich zwei Teenagern aus, die auf ihren Skateboards angerauscht kamen und merkte, wie ihr Puls anstieg, als sie sah, dass ein Frachtschiff am Kai ankerte. Aber es war nicht die Melchior, sondern nur eines der üblichen Lastschiffe. Sie lief eine Weile im Hafen herum, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte, sah, wie sich ein Segelschiff in der Abendsonne näherte und eine Gruppe von Leuten, die im Park gegenüber Ball spielten.

Sie hatte das Stück Holz in die Tasche gesteckt und berührte es vorsichtig. Russische Buchstaben. Ich muss es Fatima zeigen, dachte sie.

Als sie zurück in die Stadt ging, hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie drehte sich um, aber es war nur eine dicke, außer Atem geratene Frau mit einem hechelnden Labrador. Hör auf, dir etwas einzubilden, dachte sie, als sie den Parkplatz am Hotel überquerte und weiter in Richtung Lilla Torget ging.

Sie wollte am Theater vorbeigehen, ohne richtig zu wissen warum, und sie wählte die Fußgängerbrücke. Als sie an der graugrünen Tür der Freimaurer vorbeikam, blieb sie stehen und betrachtete deren Symbol. Es gibt so viele Geheimnisse auf der Welt, dachte sie. So viel, was man nicht weiß und nicht versteht.

Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer linken Schulter und einen warmen Atem, der ihr ins Ohr flüsterte: »Ganz ruhig. Du kommst jetzt mit mir.«

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