Buch lesen: «Das brennende Meer», Seite 6

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»Und ich sah etwas wie ein gläsernes Meer, gemischt mit Feuer, und die Sieger im Kampf gegen das Tier und sein Bild und gegen die Zahl seines Namens standen auf dem gläsernen Meer und trugen Harfen Gottes. Sie sangen das Lied des Moses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes mit den Worten: ›Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allherrscher; gerecht und wahrhaft sind deine Wege, König der Völker.‹ (15,2-3).«

Johanna rutschte ein Stück von ihm weg. Er saß immer noch über die Bibel gebeugt da.

»Ich finde, man soll sich um das kümmern, was Jesus uns lehrt«, sagte sie. »Wer ist dieser Johannes, vielleicht ist er nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, er ist nicht Jesus. Wilde Tiere und furchtbare Strafen, über so etwas spricht Jesus nicht.«

Lars sah Johanna an, hörte zu, saß schweigend da wie immer.

Als Johanna aufbrechen wollte, hörte sie, dass die Brüder ihrer Mutter vom Strand zurückgekommen waren. Sie hätte es gerne vermieden, Filip zu treffen, aber jetzt war es wohl besser, noch eine Weile sitzen zu bleiben, sie wollte niemanden verletzen, außerdem hatte Maria die Folgen zu tragen, wenn ihre Brüder wütend wurden. Dem wollte sie ihre Mutter nicht aussetzen.

»Feiner Besuch«, murmelte Filip.

Er ging an den Schrank, goss sich einen Schnaps ein, trank ihn im Stehen aus, goss nach.

»Ich bin gerade dabei zu gehen«, sagte Johanna.

»Ist alles in Ordnung draußen in der großen, weiten Welt?«, fragte Ruben, der jetzt ebenfalls in die Küche gekommen war.

»Ja, es ist alles wie immer«, antwortete Johanna.

»Und du hast Zeit, uns zu besuchen?«, sagte Filip.

Er setzte sich Johanna direkt gegenüber, stellte den Schnapsbecher vor sich auf den Tisch und betrachtete sie. Er lächelte, und sie wusste nicht, ob er nun Spaß machte, oder ob es höhnisch gemeint war. Sein Mundgeruch schlug ihr entgegen. Es hatte einen Augenblick gedauert, ehe der faulige Gestank sie erreicht hatte, doch jetzt wurde sie plötzlich davon getroffen, und sie konnte ihren Ekel nicht unterdrücken.

»Man kommt, wenn es gerade passt«, grinste Filip.

Johanna erhob sich, nickte den Brüdern ihrer Mutter zu, gab ihrer Mutter die Hand und strich Lars über die Wange. Dann ging sie zur Tür und fühlte einen merkwürdigen kalten Zorn in sich aufsteigen. Während einiger Augenblicke erfüllte sie ein grenzenloser Hass auf Filip. Dann ergriff sie die Klinke, und das verheerende Gefühl war verschwunden.

Durch die beschlagene Scheibe

Der September kam mit Abkühlung und Regen. Die Feuchtigkeit kam jedoch für die Wiesen und Wälder viel zu spät, die Blätter an den Bäumen hatten schon begonnen, sich gelb zu färben, die Beeren waren klein und süß von der Sonne, Saft gab es kaum in diesem Jahr.

Johanna war nach dem Besuch auf Nygården, bei dem Lars die Bibel gelesen hatte, nur noch einmal dort gewesen. Dieser Besuch war noch kürzer als der vorherige ausgefallen, und als sie ins Posthaus zurückkam, hatte sie ein schlechtes Gewissen.

Auf ihrer Mutter ruhte die gesamte Arbeitslast, dazu die muffigen Männer und ein Sohn, der ständig verschwand und nicht mithalf. Johanna wusste, dass sie zuhause gebraucht wurde, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihre Arbeit im Posthaus aufzugeben, sie war ihr Leben geworden, all die Menschen, die Verbindungen mit der Welt. Denn das Posthaus in Grisslehamn lag an einer Hauptverkehrsstraße, das hatte Johanna gemerkt. Oft wussten die Leute im Posthaus eher als die Obrigkeit in Stockholm, was sich in fremden Ländern zugetragen hatte.

Byholma war nur eine halbe Wegstunde vom Posthaus entfernt, aber es war auch eine Wanderung aus einer alten in eine neue Zeit. Johanna hatte einen Blick in die Welt geworfen, und sie wollte nicht zurück in die Unwissenheit und das Schweigen. Aber dieser Entschluss kostete sie auch ihre Selbstachtung. Sie hatte ihre Mutter, die sie brauchte, im Stich gelassen.

In diesen Zeiten gab es viele Neuigkeiten, und oft waren sie beunruhigend. Anfang des Monats hatte ein Reisender berichtet, dass englische Schiffe Kopenhagen bombardiert hatten. Jetzt befand sich auch Dänemark auf der Seite Frankreichs im Krieg. Norwegen gehörte ja zu Dänemark, und das bedeutete, dass Schweden jetzt von allen Seiten bedroht war.

Ende September hielt sich wieder ein Kurier für mehrere Stunden im Posthaus auf und wartete auf Weiterbeförderung. Er erzählte, dass die Russen an der finnischen Grenze aufrüsteten.

An einem dieser Tage half Johanna den Kindern des Postmeisters beim Packen; sie sollten nach Stockholm fahren. Da hörte sie, wie die eine Tochter zu ihrer Schwester sagte, dass es sicherer sei, in der Hauptstadt zu leben. An demselben Nachmittag ging Johanna mit einem Essenskorb hinauf zur Telegrafenhütte. Es war Montag, der 28. September 1807. Viel später sollte sie sich gerade an dieses Datum erinnern.

Sie hatte sich wie immer eine Weile in der Telegrafenstation aufgehalten, hatte mit dem Signalisten geredet, hatte gefragt und gebeten, durch das Teleskop schauen zu dürfen. Sie war inzwischen mit dem Signalsystem gut vertraut. Seit dem Tag vor vielen Jahren, als sie von Edelcrantz Unterricht erhalten hatte, hatte sie sich immer wieder bemüht, das Signalsystem besser zu beherrschen. Mit der Zeit war sie eine richtig gute Signalistin geworden. Albert Rask wusste, dass er ihr die Station anvertrauen konnte, wenn er mit seiner Verlobten hin und wieder einen Spaziergang im Wald machte. Das war natürlich streng verboten, aber er verließ sich auf Johanna.

Sie hatte die Vorschriften gelesen, die innen in dem Telegrafenhäuschen angeschlagen waren. Dort stand unter anderem, dass der Telegrafist, der seinen Dienst vernachlässigte, entweder sechzehn Reichstaler Strafe zu zahlen hatte, oder eine Körperstrafe erhielt.

Es wurde als ein sehr ernstes Vergehen angesehen, sich von seinem Wachdienst zu entfernen. Trotzdem tat es Albert, und Johanna merkte, dass er sehr großes Vertrauen in sie setzte. Während seiner Abwesenheit war sie sehr aufmerksam, richtete die ganze Zeit den Blick durch das Teleskop, wagte kaum zu blinzeln. Und sobald sie eine Mitteilung auf der Tafel in Signilskär sah, übertrug und bestätigte sie diese und notierte die Mitteilung auf einem Stück Papier.

An diesem Tag hatte sie eine Botschaft empfangen. Sie besagte, dass ein Kurier mit dem Schiff unterwegs sei und ohne weitere Verzögerung Pferd und Wagen für die Weiterfahrt nach Stockholm benötige.

Johanna wurde unruhig. Würde das Schiff des Kuriers ankommen, ehe Albert zurück war, und wie eilig war die Weiterbeförderung? Sie überlegte, ob sie hinunter ins Posthaus laufen und von dem Kurier berichten und dann schnell wieder in die Telegrafenstation zurückkehren solle. Aber sie begriff, dass sie sich nicht so lange von dem Telegrafen entfernen durfte, da ja neue Mitteilungen eintreffen konnten. Sie verließ das Teleskop und sah durch die Tür nach draußen, konnte jedoch Albert nirgendwo entdecken.

Er kam nach einer halben Stunde und erschrak, als Johanna berichtete, was passiert war. Sie musste versprechen, nichts zu erzählen, und dann eilte sie zurück ins Posthaus mit einer schriftlichen Mitteilung von Albert.

Eine Stunde später traf der Kurier auf einer Postjacht ein, einem Segelboot mit Deck und kleiner Kajüte, bedeutend größer als die kleinen Postboote. An Bord befand sich noch ein Offizier mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern; sie alle wollten sofort in die schwedische Hauptstadt weiterreisen.

An diesem Tag fuhren mehrere Wagen aus Grisslehamn ab, auch kamen einige mit Besuchern an, unter ihnen war ein Feldwebel aus Stockholm. Er sollte eine Zeitlang in der Hütte des Postschaffners Nyström wohnen, er hatte einen Auftrag auszuführen für die königliche Telegrafenanstalt, wie die Behörde in Stockholm hieß. Johanna hörte abends von dem Feldwebel, der im Kontor des Postmeisters zu einer Besprechung erwartet wurde.

»Johanna soll ein einfaches Abendessen vorbereiten«, hatte die Frau des Postmeisters ausrichten lassen.

Johanna nahm an, dass Wein und einige kleine Gerichte serviert werden sollten, geräucherter Lachs und Brot und ein paar andere Kleinigkeiten. Sie bereitete alles vor, brachte die Speisen und Getränke hinein; die Herren hatten sich schon im Salon vor dem Kachelofen niedergelassen. Es war kühl, man benötigte ein Feuer.

Der Feldwebel blieb in seinem Lehnstuhl sitzen, verbeugte sich jedoch leicht vor Johanna, etwas, was nie vorzukommen pflegte. Die Gäste beachteten die Mägde nicht, das wurde als unvereinbar mit der Würde des Höherstehenden angesehen, ja sogar als kriecherisch.

Johanna stellte das Essen auf einen Seitentisch, deckte den niedrigen Tisch zwischen den Sesseln, servierte, goss ein, zog sich in die Küche zurück, kam wieder in den Salon, wartete auf Anweisungen.

Sie stand im Dunkeln, der Schein vom Kachelofen erreichte sie gerade eben, die Flammen der beiden Talglichter flackerten unruhig im Zug, der von den undichten Fenstern herrührte. Vielleicht war Johanna wie ein Schatten am Rand der beleuchteten Fläche zu sehen, ein dienender Geist, und das war ja auch ihre Aufgabe. Trotzdem sah der Feldwebel mehrere Male zu ihr hinüber, blickte lange in ihre Richtung, so als ob er sie suchte. Als sie an den Tisch trat, um die Gläser nachzufüllen, sah sie sein Gesicht. Und jetzt trafen sich ihre Blicke.

Später am Abend dachte sie ein paar Mal an ihn. Sie wusste nicht, wie er hieß.

In den darauf folgenden Tagen war Johanna mit der Wäsche und mit Kochen beschäftigt. Eine junge Bootsmanntochter wurde mit dem Essen hinauf zur Telegrafenstation geschickt.

Bei einer Gelegenheit sah Johanna den Feldwebel wieder. Er ging über den Hofplatz, klopfte an die Tür des Posthauses, jemand öffnete. Sie stand drinnen im Waschhaus an der Waschbütte mit kochendem Wasser und nassen Laken, der Dampf hatte die Fensterscheibe beschlagen, aber sie konnte trotzdem eine Bewegung wahrnehmen, eine verschwommene Gestalt hinter dem beschlagenen Fenster. Sie trat an die Scheibe und machte sich mit dem Finger ein Guckloch. Mehrere Male strich sie mit dem Finger über die feuchte Kühle der Scheibe.

Er war groß, hatte einen leicht federnden Gang, wahrscheinlich war er schlank und drahtig. Er trug eine blaue Uniformjacke und weiße Hosen, die oben gelb abgesetzt waren, seine Mütze war blau. Johanna fand, dass er jünger aussah, als sie ihn aus dem dunklen Salon in Erinnerung hatte. Aber da hatte er die ganze Zeit über in sich zusammengesunken dagesessen.

Sie spürte wieder die Gegenwart des Feldwebels.

Er war nicht jemand, der eben nur so vorbeiging, nett anzusehen, ohne besonderen Eindruck zu machen. Sie hatte das Gefühl, dass er auf ungewöhnliche Weise in ihrer Nähe blieb. Aber noch dachte sie nicht an ihn als an jemanden, der sie beunruhigte oder der etwas von ihr forderte. Er war ein unbekannter Besucher, sie sah ihn trotz der beschlagenen Scheibe, er trat deutlich hervor und hatte sich einen Platz in ihrem Bewusstsein geschaffen.

Sie würde das Bild, so wie sie es durch die beschlagene Scheibe gesehen hatte, in ihrem Gedächtnis bewahren. Unter der empfindlichen Haut ihrer Finger würde sie diese Erinnerung versteckt halten, geschützt, unzerstörbar und immer schmerzhaft erreichbar.

In diesem Augenblick aber war es nur ein Anflug von etwas Unbestimmtem. Johanna dachte immer noch an die Wäsche, an die Zubereitung der Mahlzeiten und an ungeputzte Fußböden, ohne sich allzu sehr von den federnden Schritten da draußen aus der Ruhe bringen zu lassen.

Sie hatte den Feldwebel nicht mehr aus dem Posthaus herauskommen sehen. Wahrscheinlich war sie gerade dabei gewesen, Wäsche auf der Rückseite des Waschhauses aufzuhängen.

Sie wusste, dass er sich oben in der Telegrafenstation aufhielt. Jemand in der Küche hatte erzählt, dass er dort gesehen worden war, man stellte Vermutungen darüber an, was er dort wohl zu tun hatte, obwohl es eigentlich klar war, dass es mit dem Telegrafieren zusammenhing. Er war ja deshalb hergeschickt worden, man wollte wohl einige Änderungen vornehmen, vielleicht hatte es etwas mit den unruhigen Zeiten zu tun. Aber es waren in erster Linie nicht die Aufgaben des Feldwebels, die interessierten, sondern es war seine Person. Er war ein flotter, junger Soldat, das reichte schon, dass die Frauen des Posthauses über ihn redeten.

Er verzehrte seine Abendmahlzeiten beim Postschaffner, und dort wohnte er ja auch. Deshalb konnte man ihn am besten oben auf dem Berg treffen, wenn man dort etwas zu tun hatte.

Schließlich wurde Johanna wieder mit einem Essenskorb hinaufgeschickt. Es war an einem Donnerstag. Das Wetter war schön, und man hatte gute Sicht auf das Meer hinaus. Sie überlegte, was sie sagen sollte, wenn sie auf dem Berg angekommen war. Über so etwas dachte sie sonst nicht nach, wenn Albert oder irgendeiner der anderen jungen Männer dort war.

Das Wetter, dachte sie. Mit einem Signalisten kann man immer über das Wetter sprechen. Und über die Schiffe dort draußen, es gab wohl immer irgendwelche Boote, die man beobachten konnte.

Sie hatte sich schon eine Begegnung oben an dem Signalhäuschen vorgestellt, aber plötzlich erblickte sie den Feldwebel auf dem Sandstrand unterhalb des Berges. Er kam ihr entgegen. Sie erkannte ihn schon von weitem und versuchte sich vorzubereiten. Sie ging dicht am Wasser entlang, sah, dass er ebenfalls dort ging, direkt vor dem angespülten Tang.

Ich muss ihm ein wenig ausweichen, dachte sie. Als sie einen Schritt in Richtung Land machte, sah sie, dass auch er auswich, und jetzt waren sie nur noch ein kurzes Stück voneinander entfernt. Er blieb ein paar Meter vor ihr stehen, machte noch einen kleinen Schritt.

»Wir haben sicher dasselbe gedacht«, sagte er.

»Ja, das haben wir wohl«, antwortete sie.

Sie blickten einander an. Er war einen Kopf größer, blond wie sie auch, trug Koteletten, die Wangen waren glatt rasiert, um die Augen hatten sich helle Fältchen gebildet, sonst war er braungebrannt.

Sie wartete darauf, dass er etwas sagen würde, aber das Schweigen war nicht unangenehm. Sie hörte das leise Plätschern der Wellen gegen den Strand, und sie hatte das merkwürdige Gefühl, barfuß zu sein und dass es ihr nichts ausmachen würde, wenn die Wellen ihre Füße überspülten.

»Sind Sie auf dem Weg hinauf zur Telegrafenstation, mein Fräulein?«, fragte er.

»Ich bringe den jungen Männern da oben manchmal Essen.«

»Ich komme gerade daher.«

»Sind sie vielleicht Signalist, mein Herr?«

»An und für sich nicht, aber jetzt bin ich abkommandiert und zur Signalabteilung überstellt worden.«

»Das ist eine bemerkenswerte Erfindung, ich habe die Gelegenheit gehabt zu sehen, wie Mitteilungen über das Meer hinweg ausgetauscht werden.«

»Ach, können Sie etwa die optischen Zeichen lesen, mein Fräulein?«

»Einiges habe ich gelernt.«

Er nickte langsam und sah ein wenig ungläubig aus, zumindest fand Johanna das.

»Geben Sie mir ein Zeichen, dann werde ich versuchen, es zu deuten«, sagte sie.

Er sah sich um, erblickte etwas weiter oben am Strand einen angeschwemmten Baumstamm. Er ging dorthin, Johanna folgte ihm. Als er sich darauf niederließ, setzte sie sich neben ihn. Er brach einen Holzspan aus dem zersplitterten Stammende, glättete den Sand mit seinem Fuß und zeichnete schnell ein Muster aus Vierecken auf, drei gerade Reihen, vier Kästchen in der Mitte, drei in den beiden Seitenreihen. Johanna sah sofort, dass es der Signaltafel der Telegrafenstation glich.

Dann markierte er einige der Vierecke mit kurzen diagonalen Strichen, danach blickte er auf und begegnete Johannas Augen. Sie hatte den Blick in demselben Moment gehoben, in dem er den letzten Strich gezeichnet hatte, denn sie hatte genauso schnell mitgelesen, wie er geschrieben hatte.

»Das Zeichen für den Buchstaben J«, sagte sie. »Ausgezeichnet«, erwiderte er und verwischte die Markierungen im Sand, um für eine neue Kombination Platz zu machen.

»Der Buchstabe O«, sagte Johanna genauso schnell wie beim ersten Mal.

Er machte weiter. Sie entzifferte das nächste Zeichen, den Buchstaben H, und das nächste, das A. Dann machte er eine Pause.

»Sie lesen genauso schnell, wie ich schreibe, mein Fräulein«, sagte er. »Das erstaunt mich, wie konnten Sie die Signaltabelle so gut verstehen lernen?«

»Ich habe einmal Unterricht erhalten, und dann habe ich geübt, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab.«

»Können Sie, mein Fräulein, vielleicht sogar erraten, welches Wort ich schreiben will?«

»Es ist ein Name.«

»Und welcher Name könnte das sein?«

»Johan, würde ich vermuten.«

»Oder Johanna.«

»Beide Namen sind möglich.«

»Ich habe meinen eigenen Namen noch nicht genannt, ich heiße Kristoffer Lundberg, ich bin Feldwebel und gehöre der Svea Leibgarde in Stockholm an.«

Er stand auf und streckte seine Hand aus. Johanna erhob sich ebenfalls von dem Baumstamm, ergriff die Hand, knickste ein wenig, er verbeugte sich gleichzeitig.

»Ich heiße Johanna Nygren.«

»Sollen wir Du zueinander sagen?«, wollte er wissen.

»Ich habe nichts dagegen.«

»Danke, liebe Johanna, aber ich kannte deinen Namen schon, ich habe neulich Abend gehört, wie man dich gerufen hat.«

Er setzte sich wieder, glättete den Sand und begann erneut zu zeichnen. Sie erkannte die Kombination für das Wort ist, und sie nickte. Er radierte es aus und schrieb das Wort froh. Als er nicht weiterzeichnete, beugte sie sich vor, glättete die Oberfläche mit der Hand, zeichnete mit dem Zeigefinger und wartete auf seine Antwort.

»Große Schiffe werden gesichtet«, sagte er leicht verwundert.

Sie lachte und malte weitere Zeichen.

»Reise«, sagte er.

Sie zeichnete weiter, und er antwortete: »Hand«.

Sie zeichnete noch eine Kombination auf, doch jetzt wurde er unsicher.

»Ich glaube, du hast etwas geschrieben, was in der Signaltabelle nicht vorhanden ist«, sagte er.

»Genau, aber was könnte diese Kombination denn bedeuten?«

»Alles Mögliche, nehme ich an, da es sie nicht gibt.«

»Es gibt sie noch nicht, aber wir könnten ihr eine Bedeutung verleihen.«

»Was denn?«

»Das weißt du besser als ich, denn du kennst das System.«

Er überlegte, stocherte mit dem Holzstück neben dem Baumstamm im Sand herum, so als ob er nach Worten suchte.

»Komme zurück«, sagte er langsam.

»Hier ist noch eine Kombination, die auch nicht besetzt ist«, sagte sie und markierte einige der Vierecke in dem quadratischen System.

»Ich glaube, dass du jetzt etwas doppeldeutig bist«, sagte er. »Diese Kombination könnte spiegelverkehrt für den Ausdruck du weißt stehen.«

Sie nickte, wischte aus und schrieb erneut. Er las, überlegte und stellte fest, dass sie wieder ein Signalbild spiegelverkehrt geschrieben hatte. Mit etwas gutem Willen konnte man die Nachricht als wie du deuten.

»Du denkst dir neue Ausdrücke aus, aber sie lassen an Deutlichkeit zu wünschen übrig«, sagte er.

»Wenn der Feind heimlich mitliest, kann es von Vorteil sein, eine Geheimsprache zu haben«, antwortete sie.

Er lachte, beugte sich vor und strich mit der Hand über die Sandfläche vor ihnen. Das Rautenmuster wurde verwischt, alles, was sie geschrieben hatten, war verschwunden. Er ließ das kleine Holzstück liegen.

»Um uns herum droht der Feind«, sagte er. »Ich hoffe, wir kommen um einen Krieg herum, aber es sieht durchaus nicht gut aus. Die nächste Zeit wird zeigen, was auf uns zukommt.«

»Kannst du erzählen, was für einen Auftrag du hast?«

»Ich soll gewisse Verbesserungen in dem Signalsystem vorbereiten, nächste Woche fahre ich hinüber nach Åland.«

»Und danach?«

»Ich komme nach Grisslehamn zurück, aber ich muss bald wieder nach Stockholm.«

»Ich selbst muss jetzt sofort das Essen nach oben bringen.«

»Ich glaube, ich habe dort oben etwas vergessen, ich begleite dich dorthin, wenn du nichts dagegen hast.«

Sie wanderten langsam am Strand entlang, das kurze Stück, das noch bis zur Abzweigung nach oben zu gehen war. Kristoffer nahm Johanna den Korb ab. Sie gingen nebeneinanderher. Als sie den Pfad erreichten, wartete er ein wenig und ließ sie vorgehen, hinein zwischen die Kiefern und die windzerzausten Wacholderbüsche.

Dann erreichten sie die Schlucht und den engen Durchgang zwischen den steilen Klippen. Johanna glitt aus, ein kleiner falscher Schritt nur, sie rutschte ein wenig, ein Augenblick nur, in dem sie die Balance verlor. Aber Kristoffer ging direkt hinter ihr und konnte nicht umhin, sie mit seiner freien Hand abzustützen, schnell und aufmerksam, mit der Handfläche und den gespreizten Fingern gegen ihren Rücken, ein kurzer stützender Druck und sie war wieder auf dem Weg. Aber er empfand diese Berührung doch als warm und leicht, und er atmete genau in dem Augenblick ein, als er ihr am nächsten war, und konnte ihren Duft noch spüren, als sie weitergingen.

Sie lieferte den Korb ab, sprach ein wenig mit Harald, der im Augenblick Wachdienst hatte. Kristoffer suchte in der Zwischenzeit einige Unterlagen zusammen, die er in dem Wandregal, in dem die Signaltafel und die Vorschriften aufbewahrt wurden, liegen hatte. Als Johanna Harald auf Wiedersehen sagte, war Kristoffer ebenfalls fertig. Sie gingen zusammen weg, Kristoffer erklärte, er müsse ins Posthaus, um mit dem Postmeister zu sprechen.

Während sie den Berg hinunterstiegen, wurde nichts gesprochen. Jetzt gingen sie nicht mehr so dicht beieinander. Als sie den Strand erreichten und an dem Stamm vorbeikamen, auf dem sie gesessen hatten, blieb Johanna stehen, sah Kristoffer an und lächelte, ohne etwas zu sagen, und ging dann an die Stelle, an der sie im Sand geschrieben hatten. Er folgte ihr und sah, dass sie sich niederkniete und eine Zeichenkombination schrieb. Ihr blauer Rock spannte sich, und er konnte die Form ihrer schmalen Knie erkennen.

Dann richtete sie sich auf, und sie sagte immer noch nichts. Er begriff, dass sie ihm ein Rätsel aufgegeben hatte, es war wieder eine spiegelverkehrte Zeichenkombination, die sie geschrieben hatte.

»Du brauchst jetzt nichts zu sagen«, sagte sie. »Nimm dieses Zeichen mit und überlege.«

Er hatte schon eine mögliche Lösung gefunden, zog es jedoch vor, ihrem Rat zu folgen.

»Ich würde das nicht Zeichen nennen, sondern eher ein Zeichenbild.«

»Du bist Soldat und hast gelernt, wie alles heißen soll, aber ich brauche mich darum nicht zu kümmern, ich kann die ungenutzten Bilder ausfüllen, womit ich möchte, ich kann die Wörter und Zeichen drehen und wenden, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen. Das einzig Wichtige ist, dass der, der es lesen soll, es versteht.«

»Natürlich kannst du deiner Phantasie freien Lauf lassen, liebe Johanna, aber es besteht die Gefahr, dass andere deinem Gedankengang nicht folgen können.«

»Kannst du ihm folgen, Kristoffer?«

»Du hast mich gerade auf die Probe gestellt und gebeten, nichts zu sagen.«

»Genau, wir hoffen also, dass wir einander verstehen.«

»Oder wir wissen es schon.«

Sie setzten ihren Weg zum Posthaus fort, und jetzt schwiegen sie wieder. Aber es war nicht unangenehm, und Johanna dachte, dass merkwürdigerweise zwischen Schweigen und Gespräch kein Unterschied bestand, es war so, als ob zwischen ihr und Kristoffer die ganze Zeit über ein Wort- und Gedankenaustausch vor sich ging. So etwas hatte sie bis jetzt noch nie erlebt.

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