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„Medea“

Ein römisches Komplott

Ellen Groß

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Ellen Groß

ISBN 978-3-8442-5584-3

„Medea. Ein römisches Komplott“ – ist das aufregende Leben des weltberühmten Designers Amedeo di Positano. Es geht um Machenschaften in der Modeszene – eine karrieresüchtige Unternehmerin mit kirchlichem Beistand.

Die Protagonistin ist die attraktive, unbeirrbare Kriminalpsychologin Marielena Floris. Eine Frau mit Biss, die für das Sonderdezernat Rom der Europolizei heikle Verbrechensfälle löst. Straftaten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich Italiens fallen.

1.

Die Ansagerin von Radio Tevere sagt mit Überschwang in der Stimme: „Der Himmel über Rom ist strahlend blau, bei 25 Grad Celsius lassen Sie die Arbeit Arbeit sein – verbringen Sie den Tag am Strand von Ostia.“ Und ich muss an so einem Tag nach Paris zu einem Seminar, denkt Marielena Floris aufgebracht. Wer hat das veranlasst, fragt sie sich. Wer zweifelt an meiner Eignung als Kriminalpsychologin. Marielena verlässt unwillig die Wohnung, geht zu Fuß bis zur Via Cavour, hält ein Taxi an und lässt sich zum Aeroporto Leonardo da Vinci bringen.

Kaum ist sie angeschnallt, startet der Flieger, schwingt hoch in den klaren blauen Himmel. Arrivederci Roma, seufzt Marielena deprimiert.

Über Paris ist der Himmel grau in grau. Auf dem Terminal Charles de Gaulle dringt ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr durch die Halle.

Die meisten Passagiere haben ihr Gepäck längst vom Band gehievt, nur Marielena schaut noch ungeduldig auf den kreisenden Streifen.

Neben ihr posaunt einer lauthals in sein Telefonino: „Cherie, ich bin soeben gelandet.“ Als ob das jemanden interessieren würde.

Endlich kommt ihr der Koffer entgegen.

Marielena fährt ins Murano im 4ème Arrondissement, hinterlegt beim Hotelportier das Gepäck.

Sie beschließt, zuerst die P.J.E. aufzusuchen, um ihre Teilnahme an dem Seminar bestätigen zu lassen.

Vor ihr überquert ein älterer Herr mit Stock und wehendem Mantel, behände die Straße, in seiner Begleitung ist ein Hund, der tapfer Schritt hält. Der Mann strahlt eine verblüffende Lebendigkeit aus, die Marielena stimuliert, ihren Frust über den Lehrgang dämpft.

Die Zentrale der Europolizei ist ein imposanter Palast, die Architektur beeindruckend. In Augenhöhe ist in die Eingangstür diskret eingeritzt: Police Judiciaire European – Eurozentrale – France – P.J.E..

Aus den Unterlagen des Seminars – entnimmt sie, dass es sich um eine Fortbildung der Neuropsychologie handelt: Das unbewusste Erleben üben, um es bewusst erfassen zu lernen. Das sind, man glaubt es nicht, Themen des ersten Semesters der Psychologie, stellt sie aufgebracht fest. Meine Stärke, das weiß jeder der mit mir arbeitet, ist mein Gedächtnis.

Marielena wäre nicht Marielena, wenn sie nicht herausfinden würde, wer ihr das Seminar hat zukommen lassen – immer wieder stellt sie sich die Frage: Wem ist das nur eingefallen? Das P.J.E. Team in Rom ist das erfolgreichste in Europa. Es besteht aus qualifizierten Spezialisten, die europaweit eingesetzt werden.

Ob diese Farce nicht ihr Kollege aus der Pariser Zentrale, Bruno Sagan, eingefädelt hat, zermartert sie sich den Kopf? Mit Bruno hatte Marielena im letzten Jahr eine leidenschaftliche Affäre. Sie verbrachte mit ihm eine Nacht auf seinem Hausboot, was sie heute noch bereut.

Marielena überquert die Straße und geht in Richtung Pont-Neuf.

Sie will in die kleine Weinbar „Au Petitou“ – dem Treffpunkt der Pariser Kollegen – hofft dort Jacques Weber zu treffen, mit dem sie schon so manch heiklen Fall gelöst hat. Jacques arbeitet immer noch freiberuflich für die Europol.

Bevor Marielena die Bar erreicht, bemerkt sie einen jungen Mann, der hinter ihr herläuft, sie überholt, umrundet und auf sie einspricht. Der Typ macht ihr Avancen. In Marielenas Gesicht spiegelt sich Unsicherheit, aber auch Vergnügen. Diese dreiste Anmache kommt bei ihr an.

Es gefällt ihr, wenn ein attraktiver Mann Interesse zeigt – auch wenn sie in keiner Weise daran denkt, auf ihn einzugehen. Noch bevor sie das Lokal betritt, verabschiedet sie sich von dem Fremden wortlos, lächelnd, nur die Hand hebend. Er winkt zurück, mit einer tiefen Verbeugung, seine rechte Hand ruht nun in Herznähe – verweilt, bis Marielena in dem Lokal verschwunden ist.

Die Bar ist Marielena vertraut, sie hat schon manch lange Nacht hier verbracht. Am Tresen steht ein unrasierter Typ mit halblangen Locken, die unter einem Safarihut zum Vorschein kommen. Der Mann zündet sich gerade ein Zigarillo an, als Marielena sich ihm leise nähert. Ob man hier überhaupt rauchen darf, fragt sie sich. Oder Jacques setzt sich mal wieder über alle Grenzen hinweg. Jacques Weber wittert ihr Parfüm. Ohne sich umzudrehen, raunt er mit rauchiger Stimme: „Keine Frau trägt so verführerisch Chance, wie du ma belle.“ Stürmisch wirbelt Jacques herum und nimmt Marielena in die Arme.

„Was in drei Teufelsnamen führt dich nach Paris?“, fragt er verwundert.

Marielena berichtet Weber von der Aufforderung der Zentrale wegen des Seminars. „Darüber bin ich verärgert“, gesteht sie unverblümt.

Jacques erster Gedanke: „Da steckt Bruno Sagan dahinter.“ Er schildert ironisch, wie Bruno, seit seiner Beförderung, sich verändert habe. Ohne Parka und Jeans im feinen Zwirn und Krawatte sei er nicht mehr er selbst. „Nur die Haare fielen nicht der Veränderung zum Opfer, die stylt er auch heute nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Ob du es glaubst oder nicht, Bruno trägt jetzt eine betont seriöse Miene.“ „Was Unsicherheit bedeuten kann vor der neuen Aufgabe, die auf ihn zukommt. Bruno ist ein einsamer Wolf, der nie Wert auf sein Äußeres legte“, verteidigt Marielena Bruno Sagan.

Jacques wechselt das Thema und fragt süffisant: „Wie geht es deinem Kollegen Capitano Silvio Amato?“ Marielena weiß, worauf er hinaus will. Sie gesteht ihm unverblümt: „Ja, in Rom gibt es Silvio – ich fühle mich mit ihm verbunden. Wir sind privat wie im Beruf ein gutes Team. Um keinen Preis der Welt möchte ich ihn missen.“ Flüsternd, fast atemlos spricht sie weiter: „Ich kann und darf Silvio nicht verlieren, er gibt mir Halt.“ In ihrem Gesicht spiegelt sich Euphorie, aber auch moralisches Bedenken gegenüber Silvio und ihrem doppelten Spiel. „Die Begegnung mit Bruno im Winter“, fährt Marielena fort, „war ein unvergesslicher Moment.“ Sie hält inne. „Tja – war es das?“, fragt sie, mehr zu sich selbst gerichtet mit Vorbehalt.

Jacques äußert sich nicht, beobachtet sie nur.

„Jacques – liebe ich Bruno Sagan oder vielmehr das Bild, das ich mir von ihm zurechtgelegt habe?“ Jacques stellt betrübt fest, dass Marielena diese ungewöhnliche Liebe, die leidenschaftlich im Winter in Paris begann, noch nicht überwunden hat. Jacques ist nicht nur Marielenas Kollege, sondern auch ihr bester Freund. Er kennt Bruno schon viele Jahre, weiß, wie der seine Eisen schmiedet. Jacques möchte Marielena nicht unglücklich sehen.

Unmissverständlich stellt er ihr die unvermeidliche Frage: „Auf wen von den beiden könntest du im Ernstfall verzichten?“ Marielena fröstelt bei dem Gedanken. Sie überlegt nüchtern, ob sie Silvio oder Bruno aufgeben könne. Spontan antwortet sie: „Auf keinen von beiden.“ Marielena gefällt diese unbequeme Diskussion nicht.

„Jacques“, fragt sie ironisch, „etwas stimmt mit dir heute nicht. Weshalb spielst du so eindringlich meinen angelo-custode?“ Jacques übergeht ihr Spötteln. „Deinen Schutzengel – spiele ich gerne. Ich weiß, du willst von allen geliebt und bewundert werden, doch das, meine Liebe, kann ins Auge gehen – zwischen den Stühlen sitzt es sich äußerst unbequem.“ „Mein guter Jacques, wie heißt es so schön: Wer die Hitze nicht erträgt, darf nicht in die Küche gehen. Was ist im Leben schon einfach?“ Jacques weicht nun von dem leidigen Thema ab: „Hast du mir sonst nichts aus bella Roma zu berichten?“ „Du spielst auf deine Versetzung an?“ Jacques nickt abwartend. „Ja, ich habe meinen Chef Questore Russo gebeten, dich als festen Mitarbeiter bei uns einzustellen. Es hat sich ergeben, dass wir in Rom noch einen fähigen Ermittler brauchten. Da lag es doch auf der Hand, dass ich dich empfohlen habe“.

Jacques umarmt sie zärtlich, berührt dankt er ihr für die Fürsprache. Denn seit seinem Rausschmiss vor einigen Jahren bei der Europol Paris, wo man ihn suspendiert hat – mit der Aberkennung des Dienstgrades Capitano, konnte er nur noch als freier Mitarbeiter bei der Europol einspringen. Was ihn natürlich sehr mitgenommen hat. Der Grund für die Degradierung war, dass er nach dem Tod seiner Frau nicht mehr er selbst war. Alkohol und Drogen waren damals seine ständigen Begleiter.

Marielena und Jacques verlassen die Bar und trennen sich. Denn Jacques Weber muss zum Airport, morgen ist sein erster Arbeitstag in Rom.

Er folgt Marielena mit den Augen. Marielena ist eine selbstbewusste, tüchtige Frau, oder wie die Italiener so schön sagen: Una donna in gamba. Jacques Weber lächelt vor sich hin, Marielena geht meist kompromisslos ihren Weg, auch wenn man nicht verhindern kann, dass sie die eigenen Weisungen schnell über Bord wirft. Ich glaube, denkt Jacques beruhigt, um Marielena muss ich mir nicht allzu viele Sorgen machen. Jacques geht zu Fuß bis zur Pont-Neuf, hält ein Taxi an und braust gestikulierend an Marielena vorbei.

Marielena freut sich auf die Zusammenarbeit mit Jacques Weber in Rom. Sie weiß, dass sie sich auf ihn verlassen kann. Er ist ein herausragender Spezialist und ein liebenswerter Freund. Obschon ihre Freundschaft etwas überschattet wird, denn Jacques ist seit Jahren in Marielena verliebt. Eine Liebe, die sie nicht erwidern kann.

2.

Der graue, wolkenverhangene Himmel öffnet sich, die Sonne dringt durch die Wolkendecke. Marielena kauft sich einen Café au lait.

Auf einer Parkbank am Seineufer genießt sie das Flair von Paris.

Still, kaum hörbar trippelt eine Schar von Sperlingen heran, bis vor ihre Füße. Ohne Scheu blicken die kleinen Wichte mit runden dunklen Augen fragend zu ihr auf, in der Hoffnung, etwas Genießbares zu erhaschen.

Sie rühren Marielena an.

Doch mit einem Mal dringt ein schriller Klingelton gnadenlos ein und stört ihre Besinnlichkeit. Am Telefonino ist Roberto – Silvios Bruder hat erfahren, dass Marielena sich in Paris aufhält. Er fragt, ob sie ihn heute Abend zu einem Modeevent, von Amedeo di Positano begleiten möchte. Marielena willigt gerne ein.

Roberto ist ein Mann, der mit eiserner Stirn, gestählt durch den ständigen Kampf mit seiner Mutter, seinen Weg geht. Signora Alba hat mit straffer Hand die Familie Amato im Griff und verlangt, dass die Brut nach ihrem Diktat lebt. Mit Bedacht geht Alba nur mit Silvio, ihrem Erstgeborenen, um. Seit einigen Monaten ist Roberto Amato der Rechtsanwalt des weltberühmten Designers Amedeo di Positano. Was einige Konflikte ausgelöst hat, denn die Präsidentin des Modeunternehmens, Margareta di Positano, lehnte Roberto wegen seiner gleichgeschlechtlichen Neigung ab, schon deshalb, weil ihr Sohn Amedeo auch homophil veranlagt ist. Doch Amedeo setzte sich durch – ernannte seinen Jugendfreund zum Anwalt des Hauses di Positano.

Marielenas Gedanken schweifen ab zu Bruno. Sein Hausboot liegt nicht weit entfernt. Die Abendsonne spiegelt sich in der Seine, durch das Berühren von Wasser und Sonne kommt es zu einem stimmungsvollen Wechselspiel, das zum Träumen einlädt. Das könnte die Stunde null sein, der Neubeginn ihrer Liebesbeziehung. Ganz und gar nicht – zügelt sie sich. Hast du schon vergessen, wie viel Chaos Bruno in dein Leben im letzten Winter gebracht hat. Schrecklich! Diese Beziehung verlieh mir Flügel – kurz darauf zog sie mich nach unten. Der erste Blick in Brunos Augen stimulierte und wärmte mich auf wie ein Glas Bordeaux – ich spürte sein Begehren.

Marielena erhebt sich und geht in Richtung Hausboot. Sie ist befangen. Bruno versteht es, sie zu verunsichern. Sie zweifelt, ist irritiert, je näher sie dem Boot kommt.

Begrüß ihn, stimuliert sie sich.

Nur Mut! Jedoch sie hält sich zurück.

Muss ich Distanz wahren? Bruno Sagen ist immerhin ein Kollege in einem höheren Rang. Nein, ganz und gar nicht, findet sie. Bruno ist schwer zu durchschauen. Erinnerungen machen ihr zu schaffen, sie legte im letzten Winter zu viel Hoffnung, Sehnsucht, die eine oder andere Illusion in diese Begegnung. Sie liebten sich leidenschaftlich. Über alles sprachen sie, nur nicht über ihre Beziehung.

Liebe, Leidenschaft und Geheimnisse, das alles kann Bruno mit Gesten und Mimik andeuten. Ohne Worte: was zum Spekulieren einlädt, doch oft in die Irre führt. Natürlich hat sie nur eine Sache im Kopf – in seinen Armen zu liegen! Sehnsucht kann tiefgreifend sein. Ein Zustand, der durch ein unerfülltes Gefühl sich entfaltet. Diese Erkenntnis, Psicologa, ist so banal, dass es nicht lohnt, sich dafür herumzuplagen. Charmanten Vagabunden muss man sich entziehen, selbst wenn es schwerfällt, sich treu zu bleiben, redet sie sich ins Gewissen. Bruno Sagan ist ein Mann, der Angst vor Vereinnahmung hat. Der sich gerne zwischen Nähe und größtmöglicher Distanz bewegt. Nach dieser bewussten Nacht, erinnert sie sich, kehrte am nächsten Tag abrupt der Alltag ein. Beim Abschied, im Pariser Winter, bemerkte sie in Brunos Augen eine herzlose Leere.

Er hat sich in all den Monaten nicht gemeldet, kein Anruf, nicht einmal ein Brief – nichts. Ohne sich Bruno zu zeigen, verlässt Marielena das Seineufer, streift ziellos durch die Straßen von Paris.

Am Place Pigalle herrscht buntes Treiben. Frauen in traditionellen afrikanischen Gewändern geben dem Straßenbild ein exotisches Flair. Der Duft von gebratenem Lamm und Couscous steigt Marielena in die Nase. Nun weiß sie, was sie in diesem Moment am liebsten möchte – Gelüste stillen.

Unter der Tür des Restaurants Kairo steht ein wohlbeleibter Mann. Er trägt einen imposanten schwarzen Schnurrbart und einen roten Turban. Der Empfangschef verneigt sich ergeben vor Marielena, diese einladende Geste animiert sie zum Eintreten. Essen und Trinken, predigt ihre Berliner Großmutter Käthe zu jeder Gelegenheit, hält Leib und Seele zusammen. Da hat Nonna Käthe ausnahmsweise recht.

Nach dem Essen geht Marielena gestärkt in ihr Hotel, um sich für den Abend mit Roberto aufzuputzen.

3.

Die Medien berichten schon seit Tagen: Am Montagabend wird Paris leuchten, die Welt auf die Mode-Metropole blicken! Was für ein Spektakel, denkt Marielena. Sicherheitschecks wie auf dem Airport. Fotografen verdichten sich zu einem meterlangen Wall, buhlen auf dem roten Teppich um die Aufmerksamkeit der Prominenz.

Die Kreativszene spielt am Brennpunkt der Eitelkeit exzessiv, erwähnt ein Paparazzo ironisch.

Die Kronleuchter und Marmorböden blinken. Mädchen mit weißen Schürzen servieren Champagner. Die Plätze sind limitiert, man weist Marielena und Roberto Stühle in der letzten Reihe an.

Ob man bei dem Spektakel sich wie ein VIP oder überflüssig vorkommt, ist eine Frage des Selbstvertauens, flüstert Marielena ironisch.

„Der Beginn der Show verzögert sich“, sagt eine nervöse Frauenstimme durch den Lautsprecher an: „Eine internationale Modejournalistin wird sich leider verspäten.“ Amedeo di Positano, in schwarzem Cape und Hut, eilt fast unbemerkt die hinteren Reihen entlang in die Kulissen. Nun werden sofort die Lichter gedimmt. Die Sfilata kann beginnen. Marielena ist neugierig auf die Show. Als der Vorhang sich öffnet, tritt unter tosendem Applaus Amedeo di Positano ins Rampenlicht. Verneigt sich scheu – sein murmelndes „merci“ ist kaum zu hören. Fahrig greift er immer wieder in die langen Haare. Die illustre Gesellschaft der ersten Reihe erhebt sich aus Respekt vor dem Maestro von den Stühlen. Konzentriert, aber viel zu schnell, in fließendem Französisch, heißt er die Gäste willkommen. Der Applaus berührt ihn. „Merci“, bringt er nur mühsam hervor.

„Du musst doch zugeben“, flüstert Roberto, „allein der Name Amedeo di Positano beeindruckt alle.“ Amedeos Wangen sind weich und ausgezehrt. Ein Schimmer von Bart profiliert sein Gesicht. Nicht zu übersehen ist die Melancholie, die ihn umgibt. Er geht seltsam betreten über den Laufsteg, so, als wäre er hier fehl am Platze.

„Wie gefällt dir Amedeo di Positano?“, fragt Roberto Marielena.

„Man kann diesen Mann schwer einordnen. Attraktiv…? Nein, ist er nicht! Die Augen sind zu dunkel in dem blassen Gesicht. Er wirkt sehr unerotisch, wenn er die Brauen angestrengt nach oben zieht.“ „Die Aufregung vor jeder Premiere ist immer groß, ach was, groß“, wiederholt Roberto, „hysterisch! Mit dieser Kollektion beabsichtigt er, aus der Reihe zu tanzen.“ „Glaubst du, dass er Erfolg haben wird? Auf mich wirkt er unsicher.“ Für einen Augenblick schaut Roberto sie an…, zuckt schließlich nur mit der Schulter.

Die Lichtfülle, die auf Amedeo gerichtet ist, zieht immer größere Kreise, wird nun verstärkt, sodass er geblendet zur Seite sieht.

„Da ist sie!“, deutet Roberto mit einer Kopfbewegung zu der Dame hin, die jetzt im Rampenlicht erscheint. Die Präsidentin, Geschäftsführerin des Unternehmens, Margareta di Positano, hält die Arme hinter dem Rücken verschränkt, blickt ohne Anstrengung, herausfordernd, in das grelle Licht der Scheinwerfer, ohne Scheu.

„Santa cielo“, ruft Marielena leise aus und wiederholt sich, „heiliger Himmel, was für eine Frau!“ „Tja“, äußert sich Roberto einsilbig, in seinem Gesicht liegt Wehmut.

„Roberto, weshalb ist Amedeos Mutter, Margareta di Positano im Management des Unternehmens tätig?“ Roberto versucht die familiären wie die beruflichen Zusammenhänge der Positanos, Marielena nahe zu bringen.

„Margareta aus der Firmenleitung heraus halten? – Nein! Das wäre undenkbar. Die Präsidentin hält die Zügel fest in der Hand, nimmt sich die Freiheit, nach ihren Regeln das Unternehmen und den Sohn zu leiten, um nicht zu sagen, zu beherrschen. Margareta ist das unabwendbare Problem in Amedeos Werdegang. Sie hat ihn daran gehindert, jemand zu werden, der auf eigenen Füßen stehen kann“, fasst Roberto das komplizierte Leben des Amedeo di Positano in einfache Worte.

„Ja, manchmal pressen Familienbande einen in Schubladen, in die man nicht passt“, geht Marielena auf Roberto ein.

„Den Grundstein des Erfolgs“, fährt Roberto fort, „legte die Präsidentin, indem sie praktischerweise in eine Satoria einheiratete.“ „Wieso in eine Schneiderei“ fragt Marielena überrascht.

„Ja, Amedeos Vater besaß eine Satoria. Margareta bestand darauf, dass aus dem künstlerisch ambitionierten ragazzo Amedeo ein Schneider und Mann von Welt wurde.“ „Dieser Frau sieht man an, dass sie eine Kämpferin ist – ihr ausgeprägter Siegeswille ist bestechend“, nimmt Marielena Margareta di Positano ins Visier. „Was ist es, das einen Menschen zu einem Giganten seiner Zunft werden lässt?“ Ohne Robertos Antwort abzuwarten: „Talent natürlich, Fleiß ganz gewiss, aber auch immens viel Glück. Doch es muss mehr sein“, grübelt sie weiter. „Ich glaube, Leidenschaft ist das Zünglein an der Waage.“ „Leidenschaft“, erwidert Roberto, „hat Amedeo hinreichend.“ „Ist Amedeo dein bester Freund?“ „Ja, das ist er! Abgesehen davon, dass wir uns von Kindheit an kennen, haben mich sein überaus künstlerisches Talent, seine liebenswerte Art und Bescheidenheit immer tief beeindruckt.“ Roberto holt tief Luft. „Margareta hat an Amedeos Erfolg immer geglaubt und sich dafür eingesetzt, irgendwann mit dem Sohn an der Spitze zu stehen. Was Entbehrung und harte Arbeit bedeutete.“ „Das hört sich an, als wären Selbstzweifel Margareta fremd.“ „Marielen...“, weshalb nur verschluckt man in Italien gerne bei vertrauten Personen, Vokale und Konsonanten, denkt Marielena abgelenkt. Roberto spricht weiter, „sie weiß, dass sie gut ist! Diese Gewissheit strahlt sie nicht nur aus, die nutzt sie auch für sich aus.“ „Die Präsidentin“, nickt Marielena, „hat sich durch den Sohn selbst verwirklicht! Und dadurch einen Platz in der Gesellschaft errungen.“ Margareta di Positano tritt nun vor das Mikrofon.

„An dieser Frau scheiden sich die Geister“, flüstert jemand von hinten.

Margareta macht in ihrer Ansprache die Gäste neugierig auf Amedeos jüngste Kreationen. Selbst ihr wäre es nicht erlaubt gewesen, die Haute Couture Modelle des Sohnes vorher zu sehen – ihm gehe es nur, wie Amedeo betonte, bei dieser Kollektion um frivole Eleganz, beteuert die Präsidentin siegessicher.

Nach der Show ist die Welt der Mode in Bewegung, die Branche steht Kopf, ist fassungslos. Denn Amedeo hat alle Stilregeln gebrochen.

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Beifall zu spenden, flüstert Marielena Roberto zu, das hier war verhalten. Aber auch höhnisch hält Roberto besorgt fest. An stehende Ovationen ist gar nicht zu denken.

„Zu viele Rüschen, zu hohe Frisuren und zu schwere Roben. Um es mit einfachen Worten auszudrücken“, äußert sich eine Journalistin hinter vorgehaltener Hand. „Koketterie verbrämt mit Kitsch.“ „So, als wenn Marie Antoinette ihre üppigen Röcke rafft, um sich in einen Transvestiten zu verwandeln“, meint ein anderer Zyniker der schreibenden Zunft.

Der Skandal der Saison hat einen Namen – Amedeo di Positano.

Eine in rosa Organza gehüllte Amerikanerin findet, dass Amedeo mit seinen Rüschen und Reifröcken die Frau von heute beleidigen wolle. „Das sollen die Trends für den kommenden Sommer sein“, ruft sie fassungslos aus.

„Mode will getragen und verkauft werden“, mischt sich eine Italienerin in den Disput ein, „an den Export hat er wohl nicht gedacht.“ Es sind desillusionierte Kunden, die ihrem Herzen Luft machen.

Mit dieser Kollektion wird er großes Aufsehen erregen in der Branche – und das nicht nur im positiven Sinne. Darüber ist sich die Fachwelt einig.

„Amedeo“, findet Roberto mit gedämpfter Stimme, „ist eben immer für eine Überraschung gut.“ „Mir scheint, er hat in die Archivkiste des 18.Jahrhunderts gegriffen“, sagt Marielena herablassend.

Tout le mond drängt sich nach der Show hinter die Kulissen, um den Exzentriker zu begrüßen. Obwohl es kein Erfolg war, tänzeln alle ergeben um Amedeo herum. Heucheln ist für den Jetset – oder wie man auch ironisch sagt, „gauche-caviar“, ein Evangelium.

Models, Fotografen und Modejournalisten stehen mit einem Aperitif in der Hand wie Skulpturen da. Virtuos säuseln sich die Kosmopoliten den neuesten Klatsch ins Ohr. Der Kauderwelsch verschiedener Sprachen, hört sich an, wie eine künstliche Weltsprache.

Es ist obskur, nimmt Marielena das Modevolk unter die Lupe, wie sie ohne Ausnahme ihr extrovertiertes Gehabe zelebrieren. Marielena und Roberto verfolgen mit Distanz das Spektakel.

Die Präsidentin steht neben ihrem Sohn. Mit eingefrorenem Lächeln macht la Signora gute Miene zum bösen Spiel.

„Wie war es möglich, dass vor den Augen von Margareta sich so ein Debakel anbahnen konnte?“ „Ich weiß es nicht!“, Roberto schüttelt betrübt den Kopf. „Ich bin schon seit geraumer Zeit um Amedeo besorgt! Er ist in letzter Zeit rebellierend und versessen auf Eigenständigkeit. Diese Kollektion sollte nach dem aktuellen Trend der Saison eine Renaissance des Purismus werden.

Doch das hier Gezeigte ist das Gegenteil und kann ihn in den Ruin führen. Bisher hat sich Amedeo um die Verantwortung im Unternehmen nie bemüht. Das Kaufmännische erledigt bisher seine Mutter für ihn. Diese Entmündigung kam ihm einerseits gelegen, weil es bequem ist.“ „Anderseits“, beendet Marielena Robertos Satz, „hat das sein kreatives Schaffen beeinträchtigt.“ „Du bringst den Irrwitz auf den Punkt. Weshalb, frage ich dich, buhlt er ausgerechnet jetzt auf so bizarre Weise um Selbstbestimmung? Was oder wem will er damit etwas beweisen?“ Darauf hat Marielena auch keine Antwort, nicht einmal eine Vermutung parat. Seit geraumer Zeit fällt ihr auf, dass Amedeo sie nicht aus den Augen lässt. Der Maestro verlässt nun seine Mutter und kommt auf Roberto und Marielena zu.

„Madame“, das Haupt neigend, begrüßt er Marielena. „Mein Lieber, wer ist diese bezaubernde junge Dame?“ „Marielena ist die Freundin meines Bruders Silvio, Dottoressa Marielena Floris, Kriminalpsychologin bei der Europol Rom“, stellt Roberto sie vor. „Oh, das sind Sie, dann habe ich schon viel von Ihnen gehört. Denn Sie sind der Gesprächsstoff zwischen meiner Mutter“, dabei zeigt er auf die Präsidentin, „und Signora Alba, seiner Mutter“ – und weist auf seinen Freund Roberto hin.

„Marielena, wie gefiel Ihnen die Show?“ Er blickt ihr dabei ironisch lächelnd in die Augen. „Ich fand sie gewagt“, antwortet Marielena.

„Nein, meine Liebe – sie ist visionär! Mode ist eine Geisteshaltung! Sonst wäre die Welt farblos. Jeder hat seine Glückstage, gestaltet so gut er kann“, flüstert Amedeo ihr ins Ohr. Es klingt, als würde er ihr ein Geheimnis anvertrauen. Er kokettiert! Marielena nimmt dem Designer nicht ab, dass er sich diesen Unsegen des heutigen Abends nicht eingestehen will. Oder, fragt sie sich, war es Absicht? War das Fiasko von Amedeo mit Bedacht geplant? Ich könnte es mir vorstellen.

Dieser Künstler ist eine undurchschaubare, leidenschaftliche Gestalt.

Amedeo trägt sichtbar an einer langen Kette einen Talisman in Gold – ein vierblättriges Kleeblatt. Er bemerkt Marielenas Neugierde, greift danach, sieht für Sekunden auf den Anhänger, flüstert: „Das ist mein portafortuna, mein Glücksbringer, ohne den ich nicht mehr leben kann.“ Roberto grübelt, was soll das Hervorheben dieses Schmuckstücks, das er bisher an dem Freund noch nie gesehen hat.

Marielena fällt, an der Seite von Margareta di Positano, eine junge Frau auf – in einem barocken Gewand. Ihre Augen sind fiebrig glänzend, weit aufgerissen, fast bedrohlich. Sie verfolgt jede Geste von Amedeo, lässt ihn nicht aus den Augen. Nun öffnet sie die Spange im Haar, schüttelt die schwarze Lockenpracht und wankt auf halsbrecherischen Absätzen auf sie zu. Die junge Frau begrüßt Roberto, ohne Marielena eines Blickes zu würdigen. Ihre Begeisterung für die Sfilata kennt keine Grenzen, sie spricht hastig, verliert hin und wieder den Faden.

„Alessia ist seit Jahren die rechte Hand von Amedeo“, raunt Roberto Marielena zu, „obendrein unheilbar in ihn verliebt.“ Die Präsidentin bewegt sich nun langsam durch die Menge, zu ihnen hin, nicht einmal ein geringfügiges Lächeln will ihr gelingen.

Ohne Reverenzen zu erweisen, wendet sie sich an Roberto: „Wie hat dir dieses Spektakel gefallen?“ „Zia Margareta – die Show ist dem Spirit der Zeit angepasst“, lächelt Roberto süffisant.

„Das hätte ich mir denken können, dass du Amedeo beistehst“, erwidert sie, ohne zu erfassen, dass Robertos Worte nicht ernst gemeint waren.

Erst jetzt nimmt Margareta Notiz von Marielena. „Wollt ihr mir nicht die junge Dame vorstellen?“ Sieht herausfordernd erst ihren Sohn Amedeo, dann Roberto an.

„Das, Mamma, ist Silvios Partnerin“, stellt Amedeo Marielena ironisch lächelnd vor.

„Ach, endlich begegne ich Marielena Floris“, betont sie abschätzend.

„Dottoressa Marielena Floris, Signora“, hebt Marielena herablassend hervor.

Die Präsidentin wendet sich von Marielena ab, ihrem Sohn zu und unterrichtet ihn, dass sie die anwesenden Journalisten zum Abschluss der Show zu einer Lichterfahrt auf der Seine eingeladen habe.

„Bewusst“, betont sie aggressiv, um das Pressevolk nachsichtig zu stimmen angesichts der zu erwartenden Kritiken.

Amedeo lehnt ohne Scheu ab. Ordnet patriarchisch an, dass Alessia ihn für den Rest des Abends vertreten müsse.

Die Präsidentin gerät in Rage. Amedeo erlaubt sich, ihr frei heraus die Stirn zu bieten. Das war die Präsidentin bisher von ihrem Sohn nicht gewohnt. Fassungslos rauscht sie ab. Margareta di Positano verlässt furios das Palais, gefolgt von der verunsicherten Alessia.

Marielena und Roberto gehen mit Amedeo in die Bar um die Ecke.

Einige Nachtschwärmer diskutieren unüberhörbar die Sfilata. Modelle mit sündig weit geöffneten Beinen sitzen da und schlürfen Champagner.

Mit einem fröhlichen „Hallo“ begrüßen alle Amedeo. Marielena überrascht Amedeos verändertes Gebaren. Ohne Verpflichtung hier zu erscheinen, stimmt ihn sichtlich heiter. Roberto verweilt an der Bar.

Amedeo und Marielena nehmen an einem Tisch in der Ecke Platz.

Plötzlich kehrt seine Traurigkeit zurück, die demonstrierte Heiterkeit entpuppt sich als Resignation.

„Marielena, ich bin ein Seelenloser, meine Seele ist schon seit geraumer Zeit gestorben“, flüstert er verzweifelt. „Man stirbt sehr langsam. Zuerst geht die Seele, dann schleppt sich der Körper allein durch die Welt.“ In Amedeos Gesicht liegen halb kindliche, halb feminine Züge.

„Man darf nie aufhören, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Früchte im Garten Eden waren zu süß, leider habe ich den Apfel vom Baum der Erkenntnis nicht verschmäht. Was ein Fehler war.“ Marielena blickt irritiert vor sich hin, sie kommt nicht dahinter, was das soll.

„Deine Anwesenheit tut mir gut, beruhigt mich.“ Mit leiser Stimme fährt er nachdenklich fort: „Ich weiß nicht einmal genau, wann ich erwachsen wurde. Es muss in den letzten Monaten geschehen sein.“ Amedeo wirft plötzlich sein leeres Glas über die Schulter an die Wand – soll dieses lächerliche Gehabe eine Geste der Rebellion sein?, fragt sich Marielena verblüfft.

Amedeo erhebt sich, verlässt, ohne Marielena eines Blickes zu würdigen, den Tisch, an der Tür kehrt er noch einmal um und kommt zurück.

„Wichtige Dinge, meine Liebe, passieren oft sehr unspektakulär. Ich danke dir, dass ich mich eine Weile in deinen schönen Augen ausruhen durfte“, sagt er theatralisch und verlässt mit hastigen Schritten die Bar, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ein Künstler darf auch einmal hochtönig sein, vielleicht braucht er das, wenn die Show vorbei ist, rechtfertigt Marielena Amedeos eigenartiges Benehmen.

Roberto setzt sich zu ihr, sieht ihr prüfend in die Augen. „Marielen..., mir scheint, Amedeo hat dich verwirrt.“ „Ja, da könntest du recht haben“, erwidert sie. „Die Güte, das wilde Durcheinander seiner Gedanken und die unpassende Mischung seines Modestils haben mich in Erstaunen versetzt. Was für eine bizarre, den Rahmen sprengende Persönlichkeit!“ Roberto bringt Marielena in ihr Hotel, zum Abschied legt sie ihre Hand auf seinen Arm: „Roberto, ich weiß, man kann natürlich alles Mögliche in Amedeo hinein interpretieren. Er selbst provoziert Vermutungen. Es gibt einen gewissen Punkt im Leben eines jeden Menschen, wo man verzweifelt ist und nicht mehr weiter weiß. Ich glaube, da ist Amedeo angelangt. Du solltest herausfinden, was ihn belastet.“ „ Cara mia, ich bin ganz deiner Meinung, nur lässt es Amedeo nicht zu, dass man in seine Intimsphäre eindringt. Da kann er sehr eigensinnig sein.“ Roberto empfiehlt sich und lässt Marielena allein mit ihren Bedenken.

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