Kullmann in Kroatien

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Aus der Reihe: Kullmann-Reihe #6
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Kapitel 6

Im Hotel konnte Anke ihre beiden Begleiter nirgends finden. Auf der Dachterrasse waren sie nicht, ebenso wenig im Gartenrestaurant. Blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zusammen mit ihrer Tochter auf die Suche zu machen. Sie nahm den Buggy, setzte die vom Schwimmen müde gewordene Lisa hinein und schob den Kinderwagen über die holprigen Kopfsteinpflasterwege zwischen den dicht beieinanderstehenden Häuserfassaden hindurch. Dort war es schattig. Deshalb vermutete sie Kullmann und Martha genau dort.

Sie sollte Recht behalten, denn lange musste sie nicht suchen. Sie fand die beiden in einem kleinen Straßencafé. Sie saßen an eine antike Hauswand gelehnt, Kullmann rauchte Pfeife und las Zeitung. Martha häkelte. Vor ihnen standen Tassen mit dampfendem Kaffee.

Sie setzte sich dazu. „So lässt es sich leben.“

„Anke, Lisa, wie schön euch zu sehen“, grüßte Kullmann.

Lisa schlief tief und fest. Sie bekam nichts mit.

„Du hast schon Farbe bekommen“, stellte Martha fest. „Das steht dir gut, wo du sonst immer so blass bist.“

Anke erzählte ihnen von ihrem schönen Tag am Strand, worauf Kullmann bemerkte: „Du wirkst so fröhlich, wie ich dich schon lange nicht mehr erlebt habe. Das gibt mir das Gefühl, dass dieser Urlaub eine gute Wahl für dich war.“

„Natürlich war es das“, stellte Anke sofort klar. „Oder hattest du Zweifel daran?“

„Nach dem Zusammenstoß mit dem Berliner Ehepaar hatte ich die in der Tat.“

Schlagartig erinnerte sich Anke an ihre Beobachtung.

„Denkst du wieder an deine Verfolgungsjagd?“, fragte Kullmann schmunzelnd. Doch Ankes Reaktion auf seine Frage gab ihm zu denken. „Was ist los?“

„Ach nichts. Ist nicht wichtig.“

„So wie du dreinschaust, ist es dir aber wichtig.“

Anke schaute Kullmann nachdenklich an und kam zu der Überzeugung, ihm alles zu berichten. Nachdem sie geendet hatte, kehrte das Schmunzeln in Kullmanns Gesicht zurück, womit Anke nicht gerechnet hatte.

„Du siehst Gespenster. Hoffentlich reicht diese eine Woche, um dich von der Verbrechensbekämpfung abzulenken.“

Anke fügte nachdrücklich an: „Der Kroate hat ein Messer gezückt.“

„Das passiert schon mal in südlichen Ländern. Hier herrscht ein anderes Temperament.“ Damit war für Kullmann das Thema erledigt.

Lange beobachteten sie die Menschen, die an ihnen vorüberzogen. Möwen flogen über die Dächer. Ihr lautes Kreischen schallte zwischen den Hauswänden.

„Wollen wir uns noch ein wenig ausruhen, bevor wir essen gehen?“, fragte Kullmann, während er einen Blick auf die schlafende Lisa warf.

„Essen wir nicht im Hotel?“ Anke staunte.

„Dort gibt es heute Abend nur Pizza.“

„Wo ist das Problem?“

„Ich esse dieses Zeug nicht“, gab Kullmann zu verstehen. „Martha und ich haben uns am Hafen umgesehen. Dort gibt es schöne Lokale mit Blick auf das Meer und die Schiffe. Ich habe die Karten studiert und mir ein Restaurant herausgesucht, wo neben Fisch auch Fleischgerichte angeboten werden. Ich hoffe, du bist mit meiner Wahl einverstanden.“

„Ich verlasse mich auf deinen guten Geschmack“, stimmte Anke zu. „Bisher hast du mich nicht enttäuscht.“

Das Lob nahm Kullmann stolz zur Kenntnis.

Sie schlenderten durch die engen Gässchen zurück zum Hotel. Lisa wachte in ihrem Buggy nicht auf, obwohl der durch das Kopfsteinpflaster durchgeschüttelt wurde. So müde war sie. Kaum im Hotelzimmer angekommen, fühlte sich auch Anke wie erschlagen. Sie legte sich auf das Bett und schlief augenblicklich ein.

Vom Schrei der Möwen wurde sie geweckt. Es war ein Geräusch, das sie seit ihrer Ankunft in Rovinj begleitete. Ihr Kreischen, das nach einem lang gezogenen Seufzer in ein abgehacktes Lachen überging, gehörte zum Meer, wie die Fische, die darin schwammen. Anke konnte sich daran erfreuen, es bestätigte ihr das Gefühl der Fremdartigkeit. Zu Hause hörte sie nur die Geräusche von Autos und gelegentlich das unschöne Gurren von Tauben.

Sie stellte sich ans Fenster. Schon spürte sie, wie sich jemand neben sie schob. Lisa. Auch sie war aufgewacht und sah munter aus. Ihre beiden Ärmchen streckte sie nach oben, ein deutliches Zeichen, dass sie hochgehoben werden wollte.

Anke kam ihrer Aufforderung nach.

Kullmann und Martha traten hinzu.

Zu viert schauten sie hinaus, bewunderten das Meerwasser, auf dem die Sonnenstrahlen tanzten. Kleine Fischerboote fuhren hinaus, große Yachten liefen den Hafen an. Möwen flogen dicht über der Wasseroberfläche auf der Jagd nach Fischen. Einige Segelboote versuchten noch, die letzten Windböen zu erwischen. Sie versanken in dem Anblick von Regsamkeit auf dem Meer.

„Wollen wir auf der Dachterrasse noch einen Aperitif trinken?“, schlug Kullmann vor.

„Gute Idee.

Sie verließen das Zimmer und stiegen die Treppe nach oben. Agnes Gebauer und ihre Freundin Gertrud Ossom saßen bereits dort mit ihren Ehegatten und nippten an bunten Cocktails. Die anderen Tische gähnten leer. Anke ging voraus, ihr folgte Kullmann. Sie hatten beide den gleichen Tisch im Visier, nämlich den, der ihnen die schönste Aussicht bot. Plötzlich bemerkte Anke, dass Lisa verschwunden war. Gleichzeitig sah sich Kullmann nach Martha um. Erschrocken drehten sich beide um und sahen gerade noch, wie Martha mit Lisa auf dem Arm die Treppe, die sie eben erst hinaufgestiegen waren, wieder hinuntereilte. Anke wollte fragen, was das zu bedeuten hatte. Da erkannte sie den Grund für Marthas übereilte Flucht.

Aus der kleinen Sonnenecke, die für Sonnenanbeter extra auf der Terrasse eingerichtet worden war, trat der Berliner hervor.

Splitternackt.

Genüsslich streckte er seinen Bauch hervor, reckte beide Arme in die Höhe und gähnte mit weit aufgerissenem Mund. Ein Aufschrei ertönte vom Tisch der beiden älteren Ehepaare, was den Berliner keineswegs aus der Ruhe brachte.

Anke war fassungslos.

„Natürlich ist jetzt niemand vom Hotelpersonal da“, rief Agnes Gebauer empört. „Dieses Schwein sollte man aus dem Hotel rausschmeißen.“

„Recht hast du“, stimmte Gertrud Ossom ihrer Freundin bei. „Hier ist für Exhibitionisten kein Platz.“

„Ikke glaub, ik hör nicht richtig“, lachte Manfred Deubler. „Exi… wad noch mal? Du hast zu viel Krimis in der Glotze jesehen, wa?“

Kullmann richtete sich an den Berliner: „Was soll dieses hemmungslose Auftreten? Können Sie sich nicht benehmen, wie ein normaler Mensch und Ihre Scham bedecken?“

„Wad soll ded Gekeife? Wir warn schon hier, da hat nach euch Angebern noch keener wad jefraacht“, rieb er sich demonstrativ über seinen Bauch. „Hier jehört Nacktbaden zum guten Ton. Also lasse ikke mir ded von euch nischt vermiesen.“

„Richtig, mei Kleener“, trat nun die kleine Berlinerin hinzu. „Wir können hier machen, wad uns passt. Ded war schon immer so, dazu haben wir die von drüben noch nie jebrocht.“

„Hier sind kleine Kinder“, versuchte es Kullmann anders. „Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie mit dem Verhalten anrichten?“

„Lass den doch jnatzen“, mischte sich die Berlinerin ein. „Der kann mir net vollsabbern, der Fatzke. Wir ham keene Jören – also kann es uns ja egal sein.“

Das Paar verließ die Terrasse.

„Unfassbar.“, schrie Gertrud Ossom aufgebracht.

„Die sollte man ins Meer werfen und ertränken“; fügte Arthur Ossom an.

Erschrocken schaute Anke ihn an. Er war kein alter Mann, wie sie es zunächst als selbstverständlich angenommen hatte. Er war wesentlich jünger als seine Frau, seine Statur groß und kräftig – also ein Mann, der es mit dem Berliner durchaus aufnehmen könnte. Wenn das so weiterging, könnte es durchaus passieren, dass sie einen der Hotelgäste aus dem Meer fischen mussten.

„Ich werde das Verhalten an der Rezeption melden“, beschloss Kullmann.

„Tun Sie das.“, pflichtete ihm Arthur Ossom bei. „Sonst vergesse ich mich.“

Nachdem Kullmann dieser Pflicht nachgekommen war, stieg er mit schweren Schritten die Treppenstufen wieder hinauf. Das war sein erster Urlaub am Mittelmeer. Außerdem war es ein Geschenk an seine Frau, an Anke und an die kleine Lisa. Er hatte sich davon versprochen, seiner kleinen Familie eine Freude zu machen. Und diesen Urlaub verbrachte er damit, sich an der Rezeption über andere Hotelgäste zu beschweren.

Er rieb sich über seine Augen.

Am oberen Treppenabsatz hielt Anke ihn am Arm fest, schaute in sein betrübtes Gesicht und erklärte im Brustton der Überzeugung: „Wir werden diesen Urlaub genießen – glaub mir. Es ist unser erster gemeinsamer Urlaub, soll nicht unser letzter sein und vor allen Dingen ein schöner und unvergesslicher.“

„Unvergesslich wird er bestimmt“, grunzte Kullmann. „Dafür haben wir schon genügend Unannehmlichkeiten erlebt.“

„Du bist und bleibst ein Pessimist“, schimpfte Anke. „Die schönen Dinge übersiehst du dabei einfach. Lass die beiden doch. Keiner will sie in ihrer Nähe haben, sie sind ganz allein. Sogar die Einheimischen prügeln auf sie ein. Irgendwann geben sie auf.“

„Wie gut, dass du nie den Mut verlierst.“ Kullmann lachte. „Damit schaffst du es jedes Mal, meine trübsinnigen Gedanken zu vertreiben.“

Kapitel 7

„Jetzt haben wir uns alle ein gutes Abendessen verdient“, stellte Kullmann fest und rieb sich tatenfreudig die Hände.

Anke trat durch die Verbindungstür in ihr eigenes Zimmer, öffnete den Schrank und suchte sich für den Abend einen kurzen Jeansrock und ein eng anliegendes Top aus. Als sie zurückkehrte, erntete sie bewundernde Blicke von Kullmann.

 

„So hübsch habe ich dich noch nie gesehen“, stellte Kullmann anerkennend fest. „Du hast eine Figur wie ein junges Mädchen.“

„Norbert“, schimpfte Martha. „Anke ist ein junges Mädchen.“

„Ich weiß nicht“, wehrte Anke lachend ab. „Mit sechsunddreißig Jahren und Mutter einer dreijährigen Tochter bin ich wohl kein junges Mädchen mehr.“

„Stimmt. Dann einigen wir uns eben auf eine junge Frau“, gab Martha zu.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Sonne spiegelte sich rot im Wasser zwischen großen und kleinen Booten. Zahlreiche Touristen tummelten sich auf dem großen Hafengelände. Mofafahrer fuhren mit laut knatternden Maschinen die Promenade entlang, Hunde bellten. An den Wohnhäusern standen Bänke angelehnt. Darauf saßen alte Männer nebeneinander, rauchten Pfeife und diskutierten in einer Heftigkeit, dass es nach Streit aussah. Aber ihr Lachen und ihr Schulterklopfen bewiesen, dass sie einfach nur viel Temperament in ihre Argumentation legten. Kinder spielten direkt vor ihnen auf dem Kopfsteinpflaster, fuhren mit ihren Fahrrädern in die Touristenmenge hinein, bolzten einen Fußball einem Passanten an den Kopf, fingen eine kleine Katze ein, die sie dann ausgiebig an ihren Ohren zogen, bis das arme Tier zu schreien begann. All das beobachteten die alten Männer mit Wohlwollen, strichen ihren Enkeln über die Köpfe, als seien sie die reinsten Engel, was die Kinder dazu antrieb, ihren Unfug zu forcieren.

Die Restaurants waren überfüllt. Ein Gitarrenspieler unterhielt die Menschen mit seiner Musik, andere junge Männer versuchten den Touristen ihr Geld abzuluchsen, indem sie ihnen Scherenschnitte von deren Profil aufschwatzten oder Tattoos, die sich nach der ersten Berührung mit Wasser wieder in Nichts auflösten. Andere priesen ihre Waren auf Booten an, die dicht am Ufer fest verankert waren.

Ein großes Schiff lief in den Hafen ein.

Alle kleineren Boote, die vor Anker lagen, gerieten in Bewegung. Das Wasser schlug Wellen, die Boote schaukelten heftig hin und her.

Das alles ließen sie hinter sich.

Am Ende des Hafens erreichten sie das Lokal „Amfora“.

Vor dem Eingang stand ein Kellner und sprach sie an: „Kommen Sie, meine Damen und mein Herr. Essen Sie bei uns. Es schmeckt gut und ist nicht teuer.“

Sie folgten seiner Aufforderung, ließen sich einen schönen Platz zeigen, mit Blick über die Uferpromenade und das Meer. Blitzschnell wurde ihnen die Karte gereicht und Getränke gebracht.

„Wenn es in dem Tempo weitergeht, bin ich zufrieden.“ Kullmann grinste. Er setzte sich seine Lesebrille auf, um die Karte zu studieren.

Nachdem sie ihre Auswahl getroffen hatten, richteten sie ihren Blick auf die Promenade. Sie beobachteten den Kellner, der sie auf der Straße angesprochen hatte. Seine Aufgabe bestand darin, das Geschäft anzukurbeln. Ein weiterer Beschäftigter des Etablissements stand auf der gegenüberliegenden Seite und behielt alles genau im Auge. Gelegentlich trat er auf den Kellner zu und gab ihm Anweisungen. Seine Gestalt war massig, seine Haare schwarz, seine Bewegungen fahrig. Ständig fuchtelte er mit seinem Handy herum, telefonierte zwischendurch, was seine Nervosität forcierte. Dabei bewegte er sich sehr schnell, was im Gegensatz zu seiner Leibesfülle stand. Sein Gebaren deutete darauf hin, dass er der Chef des Restaurants war.

Als Vorspeise wurde ihnen Istarska Supa serviert, eine traditionelle Spezialität aus Istrien, die aus Rotweinsuppe mit Olivenöl und gerösteten Brotstücken bestand.

Kullmann und seine Angehörigen wurden vorübergehend von dem Treiben vor dem Lokal abgelenkt. Während sie aßen, wurde es plötzlich laut in der letzten Tischreihe. Sie schauten auf und sahen einen weiteren dicken Mann mit schwarzen Haaren, der zusammen mit drei blonden Frauen an einem großen Tisch Platz nahm und alle Kellner für sich beanspruchte.

Kullmann knurrte: „Ich bekomme den Eindruck, dass hier Mafiamethoden praktiziert werden.“

„Glaubst du, dass der Chef und dieser Mann gemeinsame Sache machen?“, hakte Anke nach, die ebenfalls dieser Eindruck überkam.

„Schlimmer“, antwortete Kullmann. „Ich habe mir den Namen des Besitzers angesehen, er heißt Ivan Kusić. Dieser Name ist nicht kroatisch. Das Restaurant ist in den Händen von Kosovo-Albanern.“

„Was ist daran so schlimm?“

„Kosovo-Albanien war schon immer ein kleines unbedeutendes Land in dem Vielvölkerstaat unter der Herrschaft von Tito. Nach dem jüngsten Balkan-Krieg wurde das Land gegen seinen Willen dem Staat Serbien angeschlossen. Als Reaktion darauf machten sie sich auf eigene Faust selbstständig, entwickelten sich illegal zu einer Splittergruppe, die sich mit dem Geld, das sie durch Schutzgelderpressung, Drogenhandel und Prostitution eintreibt, in Bosnien, Serbien, Kroatien und Slowenien große Macht erkauft.“

Kaum hatte er ausgesprochen, trat der Dicke, der soeben noch vor der Tür gestanden und alles überwacht hatte, mit einem großen Tablett an den Tisch in der hinteren Reihe. Auf dem Präsentierbrett befand sich ein Hummer.

Anke war sich sicher, dass er nun den Gästen zum Essen serviert würde, doch sie täuschte sich. Der Dicke stellte das Tablett ab und begann, mit den Fühlern des großen Schalentiers zu spielen. Plötzlich begann sich der Hummer zu bewegen. Mit ruckartigen Bewegungen schwenkte er seine Scheren aus. Die drei Frauen und ihr Gönner lachten herzhaft. Der Restaurantbesitzer stimmte in das Lachen ein, bis es zu einem Grölen ausartete. Dann verschwand er mit dem Hummer wieder. Anke konnte sich denken, wohin das arme Tier nun landen würde.

Kullmann schüttelte den Kopf und murrte: „Es war nicht meine Absicht, euch in eine solche Spelunke auszuführen.“

„Von außen sieht man ja nicht, was sich hinter den Kulissen abspielt.“

„Stimmt. Die Mafia weiß sich zu tarnen. Können wir nur hoffen, dass es nicht gerade jetzt zu einem Bandenkrieg kommt.“

Anke schaute Kullmann verdutzt an und fragte: „Warum sollte das passieren?“

„Weil sich die Kroaten nicht gern das Zepter von den Kosovo-Albanern aus der Hand nehmen lassen. Sie werden sich irgendwann wehren.“

Eine Weile schwiegen sie und schauten sich um. Alles sah friedlich aus.

„Die Menschen in dieser Gegend haben eine andere Mentalität als wir in Deutschland. Hier liegt der Krieg noch nicht so lange zurück. Die Feindschaften schwelen noch unter der Oberfläche“, sinnierte Kullmann

„Und deshalb müssen diese Typen dahinten“, Anke zeigte mit dem Finger auf den Tisch, an dem der Hummer vorgeführt worden war. „dieses Tier quälen? Warum tun diese Menschen dem armen Tier so etwas an? Nur zur Unterhaltung?“

Kullmann schaute Anke erstaunt an.

„Deine Frage sollte lauten: Warum tun Menschen anderen Menschen Schlimmes an“, korrigierte Kullmann. „Vergiss nicht, in welchem Beruf du arbeitest.“

„Du hast recht. In meinem Beruf ist für Sentimentalitäten kein Platz.“

„Trotzdem verstehe ich dich. Ich denke nicht anders. Nur der Unterschied zwischen uns ist der, dass ich pensioniert bin und du noch einige Jahre in deinem Beruf arbeiten musst.“

Die Hauptspeise wurde genau im richtigen Augenblick serviert. Es gab Pasticada, mariniertes Rindfleisch mit Zwiebeln und Knoblauch in Rotwein gekocht. Dazu wurden Kartoffeln mit Rosmarin gereicht. Allein der Anblick ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Es schmeckte so gut, wie es aussah. Alle verfielen in genüssliches Schweigen. Der Rest des Abends verlief angenehm. Leise Musik lief im Radio und der Kellner richtete stets seine Aufmerksamkeit auf Kullmanns Tisch. Kein Wunsch lieb lange offen. Zum Abschluss des Abends bestellte Kullmann für alle noch einen hochprozentigen Pflaumenschnaps namens „Sljivovica“, der ihnen so heftig im Hals brannte, dass niemand mehr Lust auf einen zweiten hatte.

Im Abendrot spazierten sie über die Promenade wieder zurück in Richtung Hotel. Der Gitarrenspieler spielte inzwischen verträumte Klänge, Grillen zirpten, leise schwappte das Wasser ans Ufer.

Lisa war aufgewacht, blieb aber ruhig in ihrem Buggy sitzen, ein deutliches Zeichen für ihre Müdigkeit. Mit großen Augen schaute sie sich um. Gemächlich überquerten sie den großen Platz, dessen Mitte ein Brunnen zierte. Das östliche Stadttor zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Barockes Tor aus dem 17. Jahrhundert, an dessen Rundbogen – dem Balbie-Bogen - je rechts und links ein Wappen und in der Mitte der Markuslöwe, das venezianische Wahrzeichen, prangten. Durch diese Pforte schritten sie hindurch und gelangten in die Altstadt von Rovinj. In alle Himmelsrichtungen lagen vor ihnen schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster.

„Wie sagte Wilhem Tell schon einst?“, fragte Kullmann grinsend.

Anke antwortete: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen.“

„Doch leider sind hier viele hohle Gassen“, merkte Kullmann an. „Was würde Wilhelm Tell in dem Fall sagen?“

„Folget mir, ich komme nach.“

Kullmann lachte. Zusammen mit seiner Frau Martha folgte er Anke, die mit ihrem Kinderwagen den Weg einschlug, auf dem die meisten Touristen flanierten. Schon bald stellten sie fest, dass sie sich verlaufen hatten. Eingerahmt von Künstlerateliers voller Maler, die ihre Werke zum Verkauf anboten, führte die Via Grisia immer steiler bergauf, bis sie vor der großen Kirche der Heiligen Euphemia am höchsten Punkt der Stadt standen.

Im gleichen Augenblick begannen die Glocken des angrenzenden Glockenturms zu läuten.

Die Uhr schlug zweiundzwanzig Mal.

„Diesen Ort möchte ich mir ja gerne ansehen – aber am Tag, wenn die Kirche geöffnet ist“, bekannte Kullmann. „Wir werden wohl das ganze Stück zurückgehen müssen.“

„Mein Spürsinn hat uns wohl in die Irre geführt“, gestand Anke.

„Warum?“, fragte Kullmann. „Das ist ein sehr schöner Platz, den wir sonst nicht gesehen hätten.“

Anke wurde warm ums Herz. Dieser Mann, ihr ehemaliger Chef und Mentor gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, wie sie es niemals in ihrem Leben erfahren hatte. Umso schöner war es für sie, diesen Urlaub mit solchen wunderbaren Menschen zusammen verbringen zu dürfen.

Von neuer Neugier angetrieben schaute sie sich auf dem großen Platz um. Dicht am Abgrund entdeckte sie einen hässlichen, steinernen Bunker mit einer Stahlkuppel. Sie überlegte, ob sie vor einem Relikt aus dem II. Weltkrieg oder aus dem Balkankrieg stand. Kullmann trat auf sie zu und beantwortete ihr die Frage, ohne dass sie sie gestellt hätte: „Das ist ein sogenanntes MG-Nest aus dem II. Weltkrieg. In der Feldbefestigung wurden die Kampfanlagen ‘Nester’ bezeichnet. Sie sollten Schutz gegen Gewehrbeschuss und Splitter bieten."

Anke wollte darauf zugehen und sich das Bauwerk näher betrachten. Doch Kullmann schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er und seine Frau hatten andere Pläne. Sie umrundeten den großen Platz und stießen auf der anderen Seite auf eine Gasse, die steil bergab führte.

Dort bogen sie ein.

Das Kopfsteinpflaster stellte sich als gefährlich heraus. Die Pflastersteine waren glatt und rutschig. Immer wieder gerieten sie ins Schlittern, mussten sich hüten, nicht zu stürzen. Unten angekommen, war Kullmann außer Atem. Er hatte nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf seine Frau achten müssen. Anke hatte dagegen leichter gehabt. Der Kinderwagen hatte ihr Halt gegeben. Dieser Tag war der erste, an dem sie dankbar dafür war, ein solches Gefährt mit sich herumzufahren.

Kaum standen sie sicher auf ihren Beinen, trauten sie ihren Augen nicht. Direkt vor ihnen offenbarte sich das Hotel „Villa Angelo D’oro“.

„Wir sind den richtigen Weg gegangen, ohne es zu merken.“ Kullmann lachte.

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