Kullmann unter Tage

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Aus der Reihe: Kullmann-Reihe #10
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Kullmann unter Tage
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Elke Schwab

Kullmann unter Tage

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Impressum neobooks

Prolog

Kullmann

unter Tage

von

Elke Schwab

Neue überarbeitete Auflage

Ursprünglicher Titel:

Blutige Seilfahrt im Warndt“

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2019

www.elkeschwab.de

Covergestaltung: Manfred Rother

Motiv: Erlebnisbergwerk Velsen - http://www.erlebnisbergwerkvelsen.de

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

»Glückauf, liebe Gäste! Mein Name ist Arthur Hollinger. Ich werde Sie heute bei der Führung über das Grubengelände und durch das Erlebnisbergwerk Velsen begleiten«, stellte sich der große Mann der Gruppe vor.

Alle Besucherinnen und Besucher waren mit kleinen Schildern ausgestattet worden, auf denen ihre Vornamen vermerkt waren. Während sie sich damit beschäftigten, diese an ihren Jacken anzubringen, damit sie jeder lesen konnte, sprach der Mann weiter: »Bei uns unter Tage bevorzugen wir einen kameradschaftlichen Ton. Das heißt, dass wir uns mit ›Du‹ ansprechen, uns an der Hierarchie nicht stören und dabei unsere Vornamen meist sogar in Spitznamen abwandeln. Also mich hat man unter Tage nicht Arthur, sondern Addi gerufen. Ein Name, den ich heute anbiete. So wie ich auch das ›Du‹ anbiete. Ich hoffe, dass ihr alle damit einverstanden seid.«

Allgemeines Nicken und Lachen war die Antwort.

»Dann wollen wir mal beginnen.«

Hollinger war sich der Aufmerksamkeit der Gäste sicher und begann mit seinem Vortrag: »Schon Napoleon richtete in unserer Region eine Berghochschule ein, die zur damaligen Zeit einzigartig für Frankreich war. Der Schulstandort ist seit Mitte des 19. Jahrhundert in Saarbrücken. Zu dieser Zeit war die Grube Geislautern schon lange in Betrieb und wurde sogar durch zwei zusätzliche Schächte erweitert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich dann aber ein Förderrückgang ab, der zur Schließung führte. Geislautern war die Muttergrube der Grube Velsen, der ihr gerade einen Besuch abstattet.«

Andächtig schaute die Gruppe von Neugierigen auf den großen Bergmann, der mit dunkler, sonorer Stimme diesen Vortrag hielt. Seine Kleidung bestand aus imprägniertem Baumwollstoff. Seinen Helm hielt er in der Hand. Seine Schuhe waren mit Stahlkappen versehen. Darüber trug er Schienbeinschützer aus weißem, festem Kunststoff. Sogar Handschuhe hatte er bei sich, die während seines Vortrags im Lampengürtel befestigt waren.

»Mit dem Abteufen des Rosselschachtes wurde bereits im Jahr 1899 begonnen und …«

»Was heißt Abteufen?«, rief einer der Zuhörer dazwischen.

»Das ist der Fachbegriff der Bergleute für das Ausheben eines neuen Schachtes, der senkrecht in die Tiefe gebaut wird.«

Der Fragende nickte und der Bergmann sprach weiter: »Diese neue Anlage wurde zunächst Grube Rosseln und im Jahr 1907 nach dem preußischen Oberberghauptmann Gustav von Velsen, der fünf Jahre lang Vorsitzender der Bergwerksinspektion Saarbrücken war, in Grube Velsen umbenannt. Den Schacht nannte man ab dem Zeitpunkt Gustavschacht. Zwischen 1907 und 1917 wurde die gesamte Tagesanlage großzügig ausgebaut und um einen weiteren Schacht – den Annaschacht – erweitert. Anna war Gustav von Velsens Frau. Später wurde er dann der Einfachheit halber Gustavschacht II genannt. Dieser ist heute noch in Betrieb und dient als Wetter- und Seilfahrtschacht für das Bergwerk Warndt. Das bedeutet, dass hier keine Kohle mehr gefördert wird, der Schacht wird lediglich für Personen- und Materialbeförderung und für die Bewetterung der Grube genutzt.

Und genau an dieser Stelle befinden wir uns jetzt. Wir stehen hier am Gustavschacht II.«

»Was heißt Bewetterung?«

»Bewetterung bedeutet in der Bergmannssprache die Zuführung frischer Luft in den gesamten Grubenbau. Eigentlich ist es nur ein anderer Begriff für Belüftung«, antwortete Hollinger. »Und dieser Schacht dient neben der Bewetterung auch der Personenbeförderung, auf die wir jetzt zu sprechen kommen. Das System, das diese Körbe oder Aufzugskabinen hoch und wieder hinunter befördert, nennt man Koepe-Förderung. Zu diesem System gehört der Förderturm, den wir alle sehen.« Die Menge schaute auf das mächtige Gerüst, an dessen höchster Stelle ein großes Rad zu sehen war.

»Der eigentliche Motor liegt hier.« Hollinger zeigte auf einen Sandsteinbau mit Rundbogenfenstern und Mauerblenden, an dessen Stirnseite zwei Freitreppen vorgelagert waren. Die Blicke der Besucher schwenkten auf das Gebäude, dem von außen seine Funktion nicht anzusehen war.

»Das ist das Fördermaschinenhaus. Während im linken Teil heute eine Werkstatt untergebracht ist, befindet sich im rechten Teil noch die ursprüngliche Zwillingsdampfmaschine der Dingler-Werke aus dem Jahre 1916. Sie ist heute noch in Betrieb und ist die älteste Dampffördermaschine im Saarland.« Die Besucher staunten.

»Und trotzdem funktioniert die Maschine noch wie am ersten Tag. Jetzt gehen wir in die Halle. Dort können wir das Wunderwerk bestaunen. Ich erkläre euch das Prinzip der Koepe-Förderung und wir schauen dabei zu, wie Siggi, unser Maschinist am Steuerstand, die alte Dampfmaschine in Betrieb nimmt und damit den Förderkorb aus fast elfhundert Metern Tiefe nach oben holt.«

»Darfst du das einfach so machen?«, fragte eine junge Frau, die vor Aufregung gerötete Wangen hatte.

»Für Besucher dürfen wir einmal im Monat eine Leerfahrt mit den Förderkörben machen. Das ist hier allgemein bekannt. Trotzdem geben wir unter Tage ein Warnsignal, damit kein Risiko für die aktiven Bergleute besteht, die aber um diese Zeit den Förderkorb niemals nutzen würden«, antwortete Hollinger.

Wie im Gänsemarsch folgte die Gruppe dem Bergmann in das Sandsteingebäude. Beim Anblick der riesigen, stählernen Zylinder, Scheiben und Walzen hielten sie die Luft an vor Staunen.

Rechts neben dem Eingang befand sich ein hölzerner Kasten, der in diesem stählernen Umfeld sofort ins Auge stach. Hinter einer Glasscheibe saß ein Mann vor einem Pult, das an das Cockpit eines Piloten einer großen Boeing erinnerte.

Mit der Hand gab Hollinger dem Mann ein Zeichen. Der nickte, schickte das vorgeschriebene Warnsignal in den Grubenbau, betätigte einige Hebel und die Dampffördermaschine setzte sich mit lautem Getöse in Bewegung. Langsam begannen sich die großen Räder zu drehen. Das Stahlseil wurde angezogen.

Hollinger winkte die Gruppe wieder nach draußen. Dort überquerten sie den freien Platz und steuerten auf den Förderturm zu.

»Der Turm wurde im Jahr 1917 fertiggestellt und ist zweiundvierzig Meter hoch«, rief er gegen Wind und Geräuschkulisse an.

Die mächtigen Räder hoch oben auf dem Schachtbock bewegten sich.

»Unter dem Gerüst ist die Schachthalle. Dort wird der Förderkorb auf der einen Seite in die Tiefe abgelassen, auf der anderen Seite gleichzeitig hinaufgezogen. Das ist das Koepe-Prinzip, also eine Endlosseilförderung. Das bedeutet, dass beide Körbe an einem Seil hängen und somit immer beide, wie bei einem Paternosteraufzug, in Bewegung sind. Die Stahlseile laufen über die Seilscheiben – die ihr dort, hoch oben auf dem Förderturm, sehen könnt. So entsteht keine Reibung, die das Material brüchig machen könnte. Ein Unterseil sorgt für das Gleichgewicht der beiden Körbe.«

 

Alle starrten auf den hohen Förderturm.

»Wir können jetzt die Schachthalle betreten und zusehen, wie der Korb aus der Tiefe nach oben gelangt«, sprach Hollinger weiter und steuerte die große Eisentür an.

Doch niemand folgte ihm. Er schaute sich um und sah in kreideweiße Gesichter.

»Was ist los?«, fragte er.

Alle zeigten mit entsetzten Blicken nach oben. Also schaute er ebenfalls in die angegebene Richtung und sah, was die Besucher in Schock versetzte.

Dort hing etwas am Stahlseil, das nach oben gezogen wurde. Erst als das Bündel über die Gerüststreben hinaus gelangte, war deutlich zu erkennen, was dort hochzogen wurde: ein Bergmann.

Alle schrien durcheinander.

Hollinger rannte zum Steuerstand im Maschinenhaus, damit der Maschinist am Pult die Fahrt stoppte, bevor der Mann an die Seilscheibe geriet.

Das Geschrei wurde immer lauter.

Hollinger rannte so schnell er konnte, brüllte schon in der Tür: »Halt! Maschine aus!«

Doch es war zu spät.

Als er wieder auf der Außentreppe ankam, sah er gerade noch, wie der Körper zwischen Stahlseil und Stahlscheibe eingequetscht wurde, während die großen Räder langsam zum Stillstand kamen.

Dort blieb der leblose Körper in einer Höhe von zweiundvierzig Metern hängen. Totenstille breitete sich aus.

Kapitel 1

Kriminalhauptkommissar Jürgen Schnur stand ratlos auf dem zugigen Gelände und hielt krampfhaft seinen Blick nach oben gerichtet. Als der Anruf der Staatsanwältin in seinem Büro eingegangen war, hieß es, dass auf der Grube Velsen ein tödlicher Unfall passiert sei. Warum Ann-Kathrin Reichert ihn für einen Unfall am Schacht eines Bergwerks auf den Plan rief, wusste Schnur nicht. Normalerweise wurde für solche Fälle die Bergpolizei gerufen. Die Kriminalpolizei hatte keinerlei Befugnisse, auf einem Grubengelände, geschweige denn in einer Grube zu ermitteln. Er fühlte sich auf dem großen, zugigen Gelände voller Menschen und Maschinen deplatziert.

Die Beamten der Schutzpolizei sorgten dafür, dass sich die Schaulustigen, deren Geschrei immer aufgeregter wurde, auf einem Parkplatz versammelten. Die Kollegen der Spurensicherung veranstalteten auf dem Förderturm in vierzig Metern Höhe eine Art Freeclimbing. Sie waren damit beschäftigt Schutzfolien auszubreiten, um die Reste des Toten auffangen zu können, sollten sie sich von dem Stahlseil lösen. Männer in Bergmannskluft diskutierten heftig miteinander, ohne das Spektakel um sie herum noch wahrzunehmen.

»Ich dachte, der Betrieb auf dieser Grube sei eingestellt«, sagte Kommissar Erik Tenes und stellte sich neben seinen Vorgesetzten.

Erschrocken drehte Schnur sich um und fragte zurück: »Was tust du denn hier? Ich dachte, du bist noch in Reha.«

»Irgendwann muss doch mal Schluss ein«, antwortete Erik und grinste verkrampft. »Ich war jetzt drei Monate krank. Die Decke fällt mir auf den Kopf. Und sollte das passieren, komme ich in die nächste Reha für Polizisten mit Dachschaden. Willst du das wirklich riskieren?«

Schnur schaute Erik prüfend an. Sein Gesicht war blass und eingefallen, sein Lachen wirkte gezwungen. »Nein! Dann ist es besser, du kehrst in unseren sicheren Schoß zurück«, sagte er grinsend.

Der letzte Einsatz hatte Erik Tenes fast das Leben gekostet. Lange hatte er im Krankenhaus gelegen, um sich von seinen Verletzungen zu erholen, bevor er zu einer Rehamaßnahme geschickt worden war. Auch wenn er vorgab, wieder der Alte zu sein, so sah sein Vorgesetzter doch, dass er noch weit davon entfernt war. Trotzdem wollte er seinen Freund und Kollegen zurück in seinem Team haben, weil er hoffte, dass die Arbeit eine gute Medizin für ihn war. »Du weißt ja, dass ich jede Hilfe gut gebrauchen kann«, fügte er an. »Anke ist in Mutter-Kind-Kur.«

»Nur noch bis Freitag«, erklärte Erik. »Dafür ist Kriminalrat Forseti in Urlaub. Der wird uns am meisten fehlen.«

»Von wegen fehlen! Wenn Forseti weg ist, fühle ich mich auch wie im Urlaub.«

»Also um auf meine Frage zurückzukommen«, erinnerte Erik, »warum ist dieses Bergwerk noch in Betrieb? Ich dachte, die Bergwerke wären alle stillgelegt.«

»Die Grube Warndt wird erst 2012 stillgelegt«, antwortete Schnur. »Die beiden Anlagen Ensdorf und Warndt fördern bis zur letzten Sekunde.«

»Warndt? Sind wir hier nicht in Velsen?« Erik staunte.

»Velsen und Warndt zählen als ein Bergwerk.«

»Wieder was dazugelernt.«

Schnur schaute sich weiter um. Er sah die Polizeibeamtin Andrea Westrich. Sie befand sich unter den Schaulustigen. Ausgerüstet mit Block und Stift befragte sie die Zeugen dieses spektakulären Ereignisses.

Doch plötzlich wurde er abgelenkt, als eine Frage an sein Ohr drang: »Warum wurde ich hierherbestellt?« Er drehte sich um und sah in das verfrorene Gesicht von Dr. Thomas Wolbert. Die dunklen Locken des Gerichtsmediziners sahen bei jeder Begegnung heller aus, weil sich immer mehr graue Strähnen bildeten. Unbewusst fuhr sich Schnur über seine eigenen Haare und überlegte, wann er das letzte graue Haar herausgezupft hatte.

»Weil es einen Unfall mit tödlichem Ausgang gegeben hat.«

»Werde ich jetzt zu jedem Todesfall gerufen?«

Schnur zuckte mit den Schultern. »Die Staatsanwältin hat angeordnet, dass wir uns den Fall genauer ansehen. Ich habe mich auch darüber gewundert.«

»Warum schaltet sie sich in diesen Fall überhaupt ein?«, bohrte Wolbert weiter.

»Keine Ahnung. Vielleicht, weil das Thema Bergbau von den Medien immer sensibler behandelt wird, je näher die Schließungen der Gruben heranrücken«, spekulierte Schnur.

Plötzlich erschütterte ein lautes Brummen den Platz. Alle verstummten schlagartig und schauten in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Ein vier Meter hoher und zwölf Meter langer LKW der Feuerwehr bog von der Hauptstraße auf das Grubengelände ein. Es war ein großer Sattelschlepper, der einen sechsachsigen Anhänger mit Hubarbeitsbühne hinter sich herzog. Langsam rollte das mächtige Fahrzeug auf den Förderturm zu. Der Mann am Steuer wurde von den Kollegen der Schutzpolizei eingewiesen, um ohne anzustoßen die engen Kurven zu umfahren.

»Als hätten sie das einstudiert«, stellte Erik fest.

Vier Hydraulikstützen fuhren an den Seiten des LKWs heraus und hoben die komplette Einheit bestehend aus Steiger und Zugeinheit an. So glichen sie alle Unebenheiten des unbefestigten Bodens aus und stabilisierten die Gesamtkonstruktion der Maschine. Dann begann der Arm des Steigers sich langsam zu bewegen. Zunächst hob sich der untere Teil an, dann folgte der Oberarm. Zum Schluss wurde der dünnere Unterarm aufgerichtet und gesichert. Eine Bühne hing an dessen Ende. Als er in Position war, stoppte die Maschine.

Der Gerichtsmediziner folgte mit blassem Gesicht den Mitarbeitern des Labors, dem Polizeifotografen und einem Feuerwehrmann. Sie bekamen Helme gereicht, die sie aufsetzten, bevor sie in den Korb stiegen.

»Hoffentlich bin ich schwindelfrei«, murmelte er.

»Wie gut, dass ich da nicht raufmuss«, stellte Schnur erleichtert fest.

Doch der Korb setzte sich nicht in Bewegung.

Alle starrten auf Schnur, der seinen Blick stoisch auf der Arbeitsbühne ruhen ließ. Es dauerte eine Weile, bis Erik seinen Vorgesetzten in die Seite rammte und anmerkte: »Es hängt alles nur noch an dir.«

»Wie? Was?«, frage Schnur. Erst jetzt fielen ihm die wartenden Blicke auf.

»Ich vermute mal, dass du als zuständiger Chefermittler mit den Jungs nach oben fahren sollst«, antwortete Erik.

»Warum? Wir wissen doch gar nicht, ob es sich um Mord handelt.«

Schnur wurde mulmig zumute.

»Du bist hier, um das zu entscheiden.«

Schnur fuhr sich nervös über sein Kinn und zögerte.

»Hast wohl deinen Rasierapparat vergessen, Barbarossa«, spottete Erik. Er wusste, wie peinlich genau Schnur stets seine roten Bartstoppeln entfernte, kaum dass sie sichtbar werden konnten. Als könnte er damit diesen elenden Spitznamen vergessen machen.

»Noch einmal Barbarossa und ich schicke dich nach oben«, murrte Schnur.

Er zog den Schutzanzug und die Schutzhaube über, die ihm ein Mitarbeiter der Spurensicherung entgegenhielt, und stapfte zur Arbeitsbühne.

*

Das kratzende Dröhnen des Walzenschrämladers war laut bis in die Fußstrecke von Flöz 7 in über tausend Metern Tiefe zu hören. Während die beiden Schneidwalzen unaufhörlich rotierten, schrämte die vordere die Kohle im oberen Bereich ab und die hintere Walze die Kohle vom unteren Bereich des Flözes. Direkt im Anschluss wurden hydraulisch gesteuerte Stahlschilde in Bewegung gesetzt, um den Hohlraum, der durch den Abbau entstand, gegen den enormen Gebirgsdruck abzusichern. Die Männer bedienten die Maschinen mit großer Sicherheit. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte.

Plötzlich klingelte das Telefon.

Steiger Georg Remmark nahm den Hörer in die Hand, während die lauten Maschinen weiterliefen. Er lauschte eine Weile. Dann legte er auf, richtete seinen Blick auf die Männer und winkte mit seiner Grubenlampe vertikal auf und ab. Ein Zeichen dafür, dass sie ihre Arbeit anhalten sollten. Sofort stellten sie die Maschinen ab.

Die Stille, die plötzlich eintrat, war gespenstig. Nur der Luftzug der Bewetterung war zu hören. Unruhe machte sich unter den Männern breit. Während der Kohleförderung ohne ersichtlichen Grund abzubrechen, war ungewöhnlich. Endlich gab der Steiger mit seiner Kopflampe ein rotierendes Zeichen. Dies bedeutete, ihm in die Bandstrecke zu folgen.

»Was ist passiert?«

»Es hat über Tage einen Unfall gegeben«, antwortete Remmark. »Jemand ist mit dem Korb bei der Leerfahrt verunglückt. Deshalb müssen wir aufhören und am Warndtschacht ausfahren.«

»Wie ist das passiert? Wie kann man bei der Seilfahrt verunglücken?«, fragten die Kameraden ungläubig.

Remmark zögerte kurz, bevor er den genauen Bericht wiedergab, den er über das Telefon erhalten hatte. »Es heißt, es wäre einer von uns.«

»Das war niemals ein Unfall«, widersprach Michael Bonhoff, den alle unter Tage »Mimose« nannten. »Wie soll das möglich sein? Niemand kann am Stahlseil festhängen, bis er unter die Seilscheibe gerät.«

»Kein Grund durchzudrehen, Mimose«, rief Remmark unfreundlich und fügte noch lauter an: »Es war ein Unfall! Was soll es sonst gewesen sein?«

Nur große Augen aus kohleverschmierten Gesichtern starrten ihn verständnislos an.

»Was glaubt ihr, was passiert, wenn hier ein Mord vermutet wird? Dann wimmelt es nur so von Polizei, die Grube wird heute schon dichtgemacht. Wollt ihr das?«

Allgemeines Kopfschütteln.

»Ich kann nur hoffen, dass es keinen von uns erwischt hat«, fügte Remmark noch hinzu.

Alle schauten sich um, bis Paolo Tremante sagte: »Pitt fehlt.«

»Den habe ich heute noch gar nicht gesehen«, trug Hans Rach bei. »Ist er überhaupt mit uns runtergefahren?«

»Ja. Er war heute Morgen bei der Anwesenheitskontrolle dabei«, versicherte Remmark.

»Scheiße! Dann müssen wir nach ihm suchen«, bestimmte Tremante.

»Okay«, stimmte Remmark zu. »Schaut überall nach, wo er sein könnte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, benahm er sich äußerst seltsam. Überhaupt! Seit bei ihm zu Hause eingebrochen wurde, verhält er sich, als würde ihm ständig jemand folgen.«

»Hat Verfolgungswahn, der Ärmste«, meinte Tremante.

»Vielleicht wollte er sich mal wieder früher rausschmuggeln«, sagte Bonhoff scheinheilig. Ihm war eingefallen, dass sich Dempler bei ihm abgemeldet und gleichzeitig gebeten hatte, das nicht zu melden. Bonhoff konnte nur hoffen, dass Dempler bald wieder wohlbehalten bei ihnen eintraf.

»Heute findet die Leerfahrt für die Besucher statt«, pflichtete ihm Tremante bei.

»Pitt weiß das – wie wir alle hier«, stellte Remmark klar.

»Es könnte sein, dass er mit diesem Korb nach oben wollte«, spekulierte Tremante weiter.

Remmark nickte und befahl: »Okay! Dann wissen wir, wo wir suchen müssen. Am Schacht rufe ich den Maschinisten an. Der kann uns sagen, ob jemand die Schachttür geöffnet hat.«

Die Männer zogen los.

»Und kein Wort über den Zustand unseres Kameraden!«, rief Remmark ihnen noch nach.

 

Bonhoff ging ein paar Meter hinter Remmark und Tremante her. An jedem Streckenabzweig riefen sie laut nach dem vermissten Kameraden. Die beiden bemerkten ihn nicht. Sie unterhielten sich lautstark, bis sie in Streit gerieten. Immer wieder schauten sie sich um, weshalb Bonhoff zusah, dass sich sein Abstand zu ihnen vergrößerte.

Doch leider konnte er dadurch nur noch Bruchstücke ihres Gesprächs verstehen. Worte wie »Streit« und »selber Schuld« vernahm er ganz deutlich.

Sofort fühlte er sich unwohl. Wovon sprachen die beiden?

Sie erreichten den Schacht, doch von Peter Dempler keine Spur.

Plötzlich ertönte das Signal für die Seilfahrt.

Wie aus dem Nichts tauchten von allen Seiten die Männer auf und schrien: »Was ist hier los?« – »Fährt der Korb wieder?« – »Wollen die da oben uns verarschen? Wir sollten doch im Warndt ausfahren, oder?«

Bonhoff gesellte sich unauffällig dazu und brüllte mit. Erleichtert stellte er fest, dass weder Remmark noch Tremante bemerkt hatten, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte.

*

Langsam wurde die Arbeitsbühne angehoben. Schnur wechselte einen Blick mit dem Gerichtsmediziner, der sich ebenfalls verkrampft am Geländer festhielt, während sie immer höher und höher fuhren. Nebel stand in der Luft, sodass ihre Sicht lediglich über das Grubengelände reichte, auf dem alles in trostlosem Grau, Braun und Schwarz schimmerte.

Endlich gelangten sie an die Seilscheibe am oberen Ende des Förderturms, zu der Stelle, an der der Tote unter dem Stahlseil eingeklemmt war.

Zunächst konnte Schnur nichts einordnen. Dunkelrot, Dunkelgrün und Dunkelbraun vermischt mit Weiß und Gelb, verschlungen mit rostigem Metall und Stahl offenbarten sich vor seinen Augen. Bis er endlich verstand. Der Tote war regelrecht zerquetscht worden, sodass Haut, Knochen, Organe und Fettgewebe an beiden Seiten des Stahlseils auf der Seilscheibe herausquollen.

Dr. Wolbert gab einige Anweisungen, woraufhin die Mitarbeiter des Labors begannen, die Einzelteile behutsam in Säcke zu verstauen. Währenddessen suchten die beiden Kollegen der Spusi den Teil des Stahlseils ab, den sie von ihrem Standort aus erreichen konnten.

Schnur fühlte sich deplatziert. Schon das zweite Mal in dieser kurzen Zeit. Warum stand er in vierzig Metern Höhe – mit Höhenangst – bei einem Toten, der nicht mehr als solcher zu erkennen war? Mit Mühe überwand er sich und stellte Wolbert seine erste Frage: »Kannst du herausfinden, ob das Opfer noch gelebt hat, bevor es zwischen Stahlseil und Seilscheibe geraten ist?«

»Ich denke schon«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Das Opfer ist nicht total zerstückelt. Es gibt unversehrte Teile, an denen ich verwertbare Spuren finden kann. Nur …«

»Nur was?«

»Ich finde den Kopf nicht.«

Gleichzeitig mit Wolbert richtete er seinen Blick nach unten. Dort sahen sie die Plane, die von anderen Mitarbeitern der Spurensicherung und dem Labor schon vor einer Weile aufgespannt worden war, um herabfallende Körperteile des Opfers aufzufangen.

»Kann es sein, dass der Kopf des Opfers heruntergefallen ist?«, rief Wolbert gegen den starken Wind an.

Die Männer in ihren Schutzanzügen nickten. Einer hob einen viereckigen Behälter hoch. Wolbert zeigte ihnen den erhobenen Daumen und sagte zu Schnur: »Damit besteht eine gute Chance, herauszufinden, was kurz vor dem Tod des Opfers passiert ist.«

»Wenigstens etwas.«

»Außerdem sind beide Hände unversehrt«, sprach Wolbert weiter und drehte sich zu den Resten um, die gerade sicher verwahrt wurden. »Eine steckt noch im Handschuh. Die andere ist frei. Die werden wir sofort sichern.« Er wollte Schnur die besagten Teile zeigen, doch der Kommissariatsleiter winkte hastig ab und sagte: »Das ist gut. Dann können wir vielleicht feststellen, ob es sich um einen Unfall oder um Mord handelt.«

»Unfall halte ich fast für unmöglich«, gab Wolbert zu bedenken. »Es sei denn, er hat sich in dem Seil verfangen und wurde sofort bewusstlos.«

»Kann man sich unter Tage einfach so in einem Seil verfangen, das einen Aufzug zieht?«

»Keine Ahnung«, gestand Wolbert. »Ich bin Gerichtsmediziner. Kein Bergmann.«

»Problem Nummer eins, das wir hier haben«, knurrte Schnur mürrisch, »denn ich bin Kriminalkommissar und auch kein Bergmann. Mal sehen, wie viele Probleme in diesem Fall noch auftauchen.«

Eine laute Sirene ertönte. Vor Schreck wäre Schnur fast aus dem Korb gefallen. Erst als er wieder aufsah, erkannte er den Grund für den Lärm. Das Stahlseil wurde weiter angezogen.

»Warum warten die nicht, bis wir wieder unten sind?«, brüllte er wütend.

»Weil wir alles von dem Toten mitnehmen müssen. Auch das, was unter dem Seil eingeklemmt ist.«

Fröstelnd schaute Schnur weg und beobachtete, wie die Kollegen in luftiger Höhe an dem Stahlseil nach Spuren suchten. Es sah an dieser Stelle beschädigt aus. Aber er konnte sich keine Gedanken darum machen, weil er spürte, wie ihm schwindelig wurde. Hastig richtete er seinen Blick nach unten. Sofort verging das Schwindelgefühl wieder. Aus dieser Höhe sahen die Häuser und die Menschen unter ihm klein aus. Deutlich konnte er die Anordnung der verschiedenen Gebäude erkennen, die alle zur Grube Velsen gehören – oder mal gehört haben. Ein freier Platz hob sich deutlich vom Rest der Umgebung ab. Dort stand früher eine riesige Halle für die Kohlenwäsche, die nach der teilweisen Stilllegung der Anlage abgerissen worden war. Von oben sah es wie eine klaffende Wunde aus. Er drehte sich von dem schwarzen, trostlos aussehenden Stück Land weg und schaute in die Richtung, in der sich die vielen Hallen aneinanderreihten. Hinter der leer stehenden Maschinenhalle befand sich inzwischen eine Müllverbrennungsanlage, deren Bau lange umstritten war. Jetzt nahm sie hier den größten Platz des ehemaligen Grubengeländes ein. Große Müllwagen fuhren ständig auf das Gelände und wieder herunter. Sein Blick wanderte weiter über das ehemalige Zechenhaus und die Waschkaue bis hin zu dem Berg, in dem inzwischen ein Besucherbergwerk untergebracht war. In diesen Berg waren Stollen und Schächte getrieben worden, um junge, angehende Bergleute auf die Arbeit unter Tage vorzubereiten. Schnur bedauerte, dass er dieses Bergwerk nicht schon längst besucht hatte. Ein bisschen Fachwissen über die Arbeit unter Tage würde seinen Ermittlungen in dem Fall bestimmt nicht schaden. Was sich über Tage befand, wusste er in etwa, weil er oft genug an der Grube Velsen vorbeigefahren war. Doch die Welt darunter war ihm fremd. Er sah die sogenannte Kaffeeküche, wo die Bergleute mit deftigem Essen verköstigt wurden. Dort wäre er jetzt lieber – anstatt in vierzig Metern Höhe.

Er beobachtete, wie mehrere Autos in hohem Tempo auf das Grubengelände einbogen.

Das sah nicht gut aus.

Hastig rief er: »Hat jemand ein Fernglas?«

Der Mann direkt neben ihm reichte ihm eins. Aus den Wagen stiegen Bergmänner. Aufgrund des gesperrten Gustavschachts hatten sie über den Warndtschacht über Tage fahren müssen. Eigentlich kein besonderer Aufwand, weil dort ihre Autos parkten. Doch die Neugier trieb sie zurück nach Velsen. Das hektische Treiben machte Schnur nervös.

»Ich muss sofort da runter«, rief er.

»Keine Panik«, versuchte Wolbert zu beruhigen, doch Schnur erklärte ihm: »Dort unten gibt es jetzt Ärger. Und ich bin dafür verantwortlich zu entscheiden, ob wir es hier mit einem Unfall oder einem Verbrechen zu tun haben.«

»Und was willst du ihnen sagen?«

»Das, was du mir jetzt sagst«, entgegnete Schnur. »Was ist das hier? Unfall, Selbstmord oder gar Mord?«

»Ich kann es wirklich erst sagen, wenn ich die Einzelteile seziert habe«, antwortete Wolbert ausweichend.

»Aber einen Eindruck hast du doch schon. Oder?«

Wolbert zögerte, während die Bühne langsam nach unten fuhr. Erst als sie auf dem sicheren Boden aufsetzten, sagte er: »Die Überreste des Toten sagen etwas darüber aus, in welcher Position er am Seil hing: mit herunterhängenden Armen.«

»Was sagt dir das?«

»Dass ihn irgendjemand an diesem Seil fixiert hat, als er bewegungsunfähig war.«

»Das schließt Selbstmord also aus?«

»Ja. Für mich deutet das, was wir bisher wissen, auf Mord hin.«

*

Je näher Schnur den Menschen kam, umso lauter hörte er das Geschrei. Es klang so, als wüssten die Bergleute schon alles: wer der Tote auf dem Förderturm war und wie er dorthin gelangen konnte. Erst als er sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten dazustellte, verstummten alle und starrten ihn an.

»Mein Name ist Jürgen Schnur, ich bin Kriminalhauptkommissar und leite die Ermittlungen in diesem Fall«, sagte er zur Begrüßung. »Wer glaubt, etwas Hilfreiches beitragen zu können, soll sich an mich wenden.«

»Das ist kein Kriminalfall, sondern ein Unfall«, erklärte ein großer kräftiger Mann, dessen Gesicht rot schimmerte. »Und außerdem ist dafür das Bergamt zuständig und nicht die Kriminalpolizei.«

»Und wer sind Sie?«

»Georg Remmark – genannt Schorsch.«

»Gut! Und welchen Beruf üben Sie aus?«

Verdutzt starrte Remmark auf Schnur, bevor er antwortete: »Ich bin Steiger, hier in der Grube. Schon seit zehn Jahren.«

»Schön! Als Steiger in der Grube können Sie wohl schwerlich ein Verbrechen von einem Unfall unterscheiden. Überlassen die die Polizeiarbeit also der Polizei.«

»Einverstanden. Dann gehen Sie auch dorthin, wo Sie gebraucht werden. Hier jedenfalls nicht.«

»Die Entscheidung liegt sicher nicht bei Ihnen. Also beantworten Sie einfach meine Fragen, umso schneller sind wir hier fertig«, beharrte Schnur, wobei er seinen Ärger über diesen überheblichen Mann unterdrückte. »Was bringt Sie darauf, dass hier ein Unfall vorliegt? Nach meinen Erkenntnissen ist es unmöglich, einfach so an einem Stahlseil festzuhängen, ohne dass fremde Hilfe dazu nötig wäre.«