Kullmann in Kroatien

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Aus der Reihe: Kullmann-Reihe #6
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Kapitel 3

Die „Villa Angelo D’oro“ bewies, dass die fünf Sterne verdient waren, die die Bronzeplakette an der Außenfassade des Hotels anpries. Das Speisezimmer bewahrte ein Ambiente von gelassenem, würdevollem Luxus. Die Einrichtung bestand aus einer Mischung zwischen modern und klassisch. Der Boden war mit bunt gewebten Teppichen ausgelegt, die Stühle mit grauem Samt überzogen, die Tische mit bestickten Tischdecken gedeckt. Die Wände stachen als nacktes Mauerwerk hervor, was dem Ganzen noch zusätzlich einen rustikalen Anstrich verlieh. Das hintere Ende begrenzte eine Glastür, die auf den Hinterhof zeigte, eingerahmt von üppigen Grünpflanzen und mit Sonnenschirmen überdacht. Auf Kullmanns sehnsüchtigen Blick meinte der junge Kellner: „Büffet servieren wir nur im Saal. Das Essen à la Carte können Sie jeden Abend auf der Terrasse genießen.“

„Das sind gute Aussichten.“ Kullmann schaute sich die Tischordnung im Speisesaal genauer an. Die beiden älteren Ehepaare hatten sich schon einen Platz in der Nähe der langen Tischreihe ausgesucht, wo die Kellner damit beschäftigt waren, das Buffet aufzubauen. Sie wollten sich damit unnötige Wege ersparen. Direkt dahinter saß das Berliner Ehepaar. Eine dicke Rauchwolke zog über deren Tisch.

Kullmann ließ sich mit seiner kleinen Wahl-Familie in der Nähe der Ehepaare Gebauer und Ossom nieder, die ihre Aufmerksamkeit Lisa widmeten. Die Kleine genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Das Essen wurde für Lisa zur Nebensache. Anke begab sich mehrere Male an das reichliche Büffet, und besorgte gleichzeitig für Lisa einige Sorten mit, deren Interesse an Agnes Gebauer und Gertrud Ossom damit nicht zu erschüttern war. Immer wieder sprang sie auf, stieß Juchzlaute aus, womit sie die Gäste zum Lachen brachte.

Anke glaubte ihre Tochter in guter Gesellschaft, wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Peka - unter einer Tonglocke gedünstetes Lammfleisch - zu. Gerade führte sie sich ein großes Stück von dem zarten Fleisch in den Mund, als sie die Berlinerin hörte: „He, du da hinten: Statt zu fressen kannst dich mal um die Jöre da kümmern.“

Anke fiel das Fleisch vor Schreck aus dem Mund.

„Keene Erziehung, dieses Weib. Keen Wunder, bei der Alten.“

„Ich glaube, Sie sind besser ruhig mit Ihren Anschuldigungen“, rief Anke stinksauer, stand auf und eilte zu ihrer Tochter.

Lisa war ganz erschüttert von so viel Unfreundlichkeit. Mit großen Augen starrte sie die blonde Frau an, die so hässlich über sie gesprochen hatte.

„Wad iss dad denn sonst, wad diese Butze hier veranstaltet?“, blaffte die unfreundliche Frau weiter.

„Sind Sie immer so ungehobelt?“; mischte sich Agnes Gebauer ein. Anke sah deutlich, dass sie sich dafür sogar bösen Blick von ihrem Mann Hugo einhandelte. Aber das störte Agnes Gebauer nicht. „Lisa ist doch so ein liebes Kind Es stört doch niemanden, wenn sie zu einem an den Tisch kommt.“

„Mir stört es aber“, stellte die Berlinerin klar. „Wenn die Olle kein Kind erziehen kann, soll sie sich keins anschaffen.“

„Sie halten jetzt Ihren vorlauten Mund.“, mischte sich Kullmann in das Gespräch ein.

„Ikke?“

„Ja, Sie.“

„Da jeht mir de Hutschnur hoch“; wurde die kleine Frau plötzlich so laut, dass die Kellner in den Speisesaal stürzten. Aber das störte die kleine Frau nicht im Geringsten. Sie sprach weiter, als seien die Männer gar nicht da: „Von eenem wie ….“

Weiter kam sie nicht. Die Kellner stellten sich an ihren Tisch und drohten, sie aus dem Speisesaal zu entfernen, wenn sie so weitermachen wollte.

Das zeigte Wirkung. Wutschnaubend erhob sich das Berliner Ehepaar und stampfte hinaus.

Nach dem Essen betraten Kullmann, Martha, Anke und Lisa die Dachterrasse. Sie suchten sich Plätze, um in der kühlen Abendluft die Aussicht zu genießen, das von der Dämmerung langsam eingehüllt wurde. Am gegenüberliegenden Ende der Bucht zog der schwarze Himmel langsam über das Meer und senkte sich wie ein dunkles Tuch herab. Der Mond schimmerte in voller Pracht, dazu ein Sternenhimmel, der übersät war mit kleinen, funkelnden Punkten. Die vielen Lichter spiegelten sich im flachen Wasser. Stille breitete sich aus. Das Kreischen der Möwen und das Rufen der Tauben waren verstummt. Das Zirpen der Grillen hielt Einzug.

Kapitel 4

Der nächste Morgen begann zeitig. Für Anke zu früh. Laut knatternd fuhr ein Mofa durch die enge Gasse. Stimmen von Menschen, die die frühe Stunde nutzten, um bei angenehmen Temperaturen durch die Gassen zu schlendern. Kindergeschrei. Musik. Glockengeläut. Geräusche, die zu einem Urlaub am Mittelmeer passten.

Lisa auf einem Stuhl am Fenster.

Ein Anblick, der nicht zu Ankes Vorstellung von Urlaub passte.

In Sekundenschnelle sprang sie aus dem Bett und zerrte ihre Tochter dort weg. Lisa wollte sich wehren, indem sie murrte: „Mama, guck: Das Meer.“

„Ja, mein Schatz. Und wenn du nicht aus dem Fenster fällst, wirst du sogar noch im Meer schwimmen gehen.“

„Au ja.“ jubelte Lisa los. „Wimmen. Wimmen.“

„Das heißt schwimmen.“

„Sag ich doch: wimmen.“

Das Wort wollte ihr nicht richtig über die Lippen kommen, aber das störte Lisa nicht. Die Aussicht, im Meer zu baden, stimmte sie überglücklich. So wurde es für Anke ein Kinderspiel, ihrer Tochter die Jeanslatzhose anzuziehen, die ihr bis zu den Waden reichte. Darin sah sie so hübsch aus, dass Anke sich gar nicht an ihr satt sehen konnte. Lisa streckte ihre Händchen in die großen Hosentaschen, eine Geste, die sie ihrer Mutter nachahmte.

Anke klopfte leise an der Zwischentür an, um nachzusehen, ob Kullmann und Martha schon wach waren. Die Vorsicht erwies sich als unnötig, denn Kullmann öffnete fertig angezogen. Martha stand hinter ihm. Die beiden wirkten, als hätten sie nur auf Ankes Lebenszeichen gewartet.

Wie bei einer Prozession schritten sie hintereinander die enge, gewundene Treppe hinunter. Lisa hüpfte munter immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, bis sie plötzlich verschwunden war.

„Lisa?“, rief Anke, die ihren Augen nicht traute. Eben war sie noch da, und eine Sekunde später nicht mehr.

„Was ist?“, fragte Kullmann hinter ihr.

Doch Anke hörte ihn nicht mehr. Panik hatte sie ergriffen. Sie rannte die Stufen hinunter, als sie plötzlich den breiten Rücken des Berliners sah.

Das fehlte gerade noch. Das Berliner Ehepaar hatte ihr Kind entführt.

„Halt! Bleiben Sie stehen“, rief Anke in gewohnter Polizeimanier.

Doch der Berliner dachte nicht daran. Blitzschnell verschwand er um die nächste Treppenwindung.

Anke beschleunigte. Manfred Deubler auch. Er eilte durch das Foyer. Anke rannte hinterher.

„Anke. Wo willst du denn hin?“, hörte sie Kullmanns Stimme hinter sich.

Sie hatte keine Zeit zu antworten. Sie sah, in welche Richtung Deubler rannte und steuerte die gleiche an. Wieder verschwand er, dieses Mal hinter einer der vielen Mauern. Ankes Panik wuchs ins Unermessliche. Sie hatte nicht gesehen, wohin er mit ihrer Tochter verschwunden war.

Wie von Furien gehetzt jagte sie blind drauf los, bis sie plötzlich mit einem fremden Mann zusammenstieß, der entsetzlich nach Fisch stank. Dieser stieß einige unfreundliche Laute aus, sprach in einer Sprache, die Anke nicht verstand. Dafür kapierte sie seinen Tonfall umso besser. Mit dunklen, fast schwarzen Augen funkelte der Fremde Anke böse an. Doch Anke wollte sich nicht einfach abwimmeln lassen. Immerhin war sie Lisas Mutter. Der würde sie mal kennenlernen.

„Anke. Bist du noch von Sinnen?“

Kullmanns Frage machte sie stutzig. Sie drehte sich um und schaute in ein fragendes Gesicht.

„Er hat Lisa“, stammelte sie und unterdrückte mit Mühe einen Weinkrampf. Dabei zeigte sie auf den Fremden. Doch als sie wieder nach vorn schaute, stand dort niemand mehr.

„Lisa sitzt an der Rezeption und lässt sich von den Mitarbeitern des Hotels amüsieren.“

Anke verstand nur Bahnhof. „Aber… Der Berliner hat sie doch entführt.“

„Ich glaube, das Berliner Ehepaar hat eine Paranoia bei dir ausgelöst“, bemerkte Kullmann dazu. „Komm rein und überzeuge dich selbst davon, dass es Lisa gut geht.“

Tatsächlich! Lisa saß auf der hohen Theke der Rezeption und ließ sich von einem Hotelangestellten Kunststücke zeigen. Neugierig geworden näherte sich Anke dem Treiben. Sofort hielt der Hotelangestellte inne, verbeugte sich vor Anke und stellte sich vor: „Drago Jurić, ich arbeite hier im Hotel als Kellner, vertrete zurzeit den Portier Josip Pedrović.“

Anke gab ihm die Hand. Sie musste sich mehrfach räuspern, bis endlich eine Stimme herauskam: „Ich heiße Anke Deister, die kleine Dame hier ist Lisa, meine Tochter.“

„Ein tolles Kind haben Sie“, lobte Drago sofort.

„Onkel Drago kann zaubern“, erklärte Lisa stolz.

„Und du auch“, murrte Anke ihr Kind an. „In welches Versteck hast du dich vorhin auf der Treppe weggezaubert.“

„Verrate ich nicht.“ Verschmitzt lachte die Kleine.

Drago zog einige Karten heraus, ließ Lisa eine aussuchen, die Anke sich ebenfalls ansehen durfte. Dann machte er einige verwirrende Handbewegungen. Als er fertig war, zog er die gleiche Karte aus Lisas Hosentasche. Lisa schrie auf vor Freude.

Anke spürte, wie ihre innere Anspannung nachließ.

Viel zu schnell beendete Drago seine Vorführung. Sie hätte ihm gerne noch ewig zuschaut, so gut tat ihr die Heiterkeit, die er mit seinen Kunststücken verbreitete.

„Drago muss noch arbeiten, sonst wird Dragos Chef böse“, erklärte er mit einem bedauernden Lächeln.

 

„Du kannst ihn doch wegzaubern“, schlug Lisa vor.

Anke fühlte sich peinlich berührt. Doch als sie sah, wie herzhaft Drago über Lisas Spitzfindigkeit lachte, fühlte sie sich erleichtert.

„Bist du jetzt beruhigt?“ Mit dieser Frage erinnerte Kullmann sie wieder an ihre wilde Verfolgungsjagd. Sie spürte, dass sie rot anlief und brachte nur ein kurzes Nicken zustande.

Kapitel 5

Anke und Lisa bogen in die schmale Gasse ein, die zum Hafen führte. Das geschäftige Treiben der vielen Touristen vermittelte der Stadt Lebhaftigkeit. Winzig kleine Geschäfte hatten geöffnet, die nur zu erkennen waren, weil die Klappenläden geöffnet waren, damit die Passanten ihr Warenangebot sehen konnten. Darunter gab es hauptsächlich Wurst, Käse und Wein, Drucke von Bildern, die Rovinj zeigten, Muscheln, Vasen und sonstige Souvenirs. Verträumt schlenderte Anke daran vorbei und erhaschte hier und da einen Blick auf die Verkäufer, die sich meist im dunklen Hintergrund aufhielten.

Plötzlich hörte sie laute Stimmen zwischen den Wänden, die nichts mit dem frohgelaunten Touristentreiben zu hatten.

„Det kannste mit mir nicht maachen. Da kannste wad erleben.“

Berliner Dialekt.

Das durfte nicht wahr sein, dachte Anke, der ihr Anfall von Raserei vor dem Frühstück immer noch peinlich war.

Doch je mehr sie hörte, umso deutlicher erkannte sie, dass sie tatsächlich die Stimme des Berliners Manfred Deubler hörte.

Dieser Mann verfolgte sie.

Oder sie ihn?

Suchend schaute sie sich um und fand ihn hinter einer baufälligen Mauer. Er diskutierte mit einem Fremden. Anke riss ihre Augen weit auf vor Erstaunen. Das war der nach Fisch stinkende Mann, mit dem sie den Zusammenstoß erlebt hatte. Beide Männer waren gleich groß und massig, beide Köpfe hochrot und beide hatten schwarze, fettige Haare. Das einzige, was sie unterschied, war die Tatsache, dass der Fremde ein Einheimischer war. „Du nix fertig bringen, du nix …“ dann folgte eine Salve auf Kroatisch, die aggressiv klang.

Manfred Deublers Gesicht war durchzogen von roten Äderchen, die für zu viel Alkohol sprachen. Und sein Berliner Dialekt klang unverwechselbar. „Ikke jacher mir net umsonst ab, du Fatzke. Det Heemeken wirst de doch noch jebacken kriegen. Ikke loss mir net inwickeln.“

Wieder eine kroatische Salve, die der Berliner mit einem: „Jewieft. Jewieft“ honorierte. „De Klafte wird kieken. Meent se doch, sie könnt sich katzbaljen.“ Die Stimmung schlug schlagartig wieder um. „Willste wohl mausen, wa? Du Kanalje.“

Plötzlich sah Anke etwas aufblitzen. Erschrocken schaute sie genauer hin. Es war ein Messer, das der Kroate blitzschnell gezogen hatte. Zu ihrer Überraschung gelang es Manfred Deubler, seinem Gegenüber das Messer aus der Hand zu schlagen. Als Gegenzug dafür erntete er einen Fausthieb. Die beiden großen Männer griffen sich gegenseitig an, verkeilten sich, rollten über den Boden und stießen dabei unflätige Schimpfworte aus.

Lisa zeigte mit dem Finger darauf und wollte etwas rufen.

Zum Glück gelang es Anke, ihre Tochter rechtzeitig in eine andere Richtung zu lenken. Auf alle Fälle wollte sie verhindern, dass Lisa jetzt schon von Ankes zwanghafter Spürnase angesteckt wurde.

Mit hastigen Schritten, denen Lisa kaum folgen konnte, steuerte Anke die Gasse an, die zum Hafen führte.

Als sie auf den offenen Platz trat, fiel eine innere Beklemmung von ihr ab. Sofort fühlte sie sich wieder im Urlaub. Alles lag friedlich und still vor ihr. Eine wunderbare Ablenkung.

Je weniger sie daran denken wollte, desto mehr hing sie allerdings mit ihren Gedanken weiterhin an dieser merkwürdigen Beobachtung. Sollte das Berliner Ehepaar in krimineller Absicht nach Kroatien gekommen sein? Leider verstand sie den Berliner Dialekt zu schlecht, weshalb sie nicht wusste, worüber Manfred Deubler gesprochen hatte.

Vielleicht war das auch gut so. Denn warum sollte sie sich damit beschäftigen? Sie war hier, um Urlaub zu machen und von den Kriminellen Abstand zu nehmen. Das Leben von der schönsten Seite zu genießen. Und das würde ihr nur gelingen, wenn sie ihre Nase nicht in fremde Angelegenheiten steckte.

Das nahm sie sich fest vor, als ihr Blick auf Alexander fiel.

Sein Anblick, wie er mit einem Bein auf der niedrigen Kaimauer, beide Arme auf das Bein gelehnt und den Kopf in die Hände gestützt, hinaus auf das Meer schaute, ließ Anke ihre Beobachtung schlagartig vergessen. Er trug eine kurze Hose, braun gebrannte Beine kamen darunter zum Vorschein. Sein Hemd war nur zur Hälfte zugeknöpft, eine behaarte Brust lugte unter dem dünnen Stoff hervor. Die Sonnenbrille steckte locker in seinem dunklen Haarschopf.

Mit Alexander würde Anke genau die Zerstreuung erleben, die sie nach Kroatien geführt hatte.

Er drehte sich um und erblickte sie.

Sofort verzog sich sein nachdenkliches Gesicht zu einem Lachen.

Lisa lief auf ihn zu und rief: „Gehen wir jetzt wimmen?“

„Ja, das habe ich doch versprochen“, antwortete er.

Er nahm Lisa auf den Arm, was Anke sofort mit höchster Aufmerksamkeit beobachtete. Lisas Lachen schallte über das Hafengelände. Die akrobatischen Kunststücke, die Alexander mit ihr vollführte, brachten Ankes Herz zum Stillstand. Sofort stand sie neben ihm und bedeutete ihm, Lisa auf den Boden abzusetzen.

Lisas Gesicht war gerötet vor Aufregung.

„Dann wollen wir mal“, bestimmte Alexander.

„Wo gehst du hin?“, fragte Anke. Er schlug eine Richtung ein, die auf einen Parkplatz führte – jedoch nicht zum Strand.

„Ich habe einen Wagen gemietet“, antwortete Alexander. „Damit fahren wir zu dem Strand, der zu meinem Hotel gehört. Dort herrscht nicht so viel Betrieb, weil nur die Hotelgäste an dieser Stelle baden dürfen. Euch beide habe ich an der Rezeption bereits angemeldet.“

„Ist es so weit bis dorthin, dass wir fahren müssen?“

„Für Lisa wäre es zu weit zum Laufen.“

„Ich habe einen Buggy dabei.“ Anke blieb skeptisch. „Dann muss Lisa nicht das ganze Stück zu Fuß gehen.“

„Warum willst du es dir so schwer machen?“

Das fragte sich Anke selbst. Entweder, es gelang ihr, ihr berufliches Misstrauen beiseite zu schieben, oder der Urlaub würde ein Flop.

Sie stiegen in einen großen, dunkelblauen Ford ein.

Die Fahrt ging los.

Alexander steuerte geschickt durch das Verkehrschaos, das die Einheimischen auf den Straßen verursachten. Er fuhr landeinwärts. Zu ihrer Linken konnten Anke und Lisa das Meer sehen. Sie hefteten ihre Blicke daran, sahen viele Boote, Segelschiffe und Surfer auf dem Wasser. Dazwischen Motorboote mit Wasserskisportlern, die mit schnellem Tempo durch das Wasser gezogen wurden und das Meer aufwühlten.

Nach nur wenigen Minuten kamen sie ans Ziel.

Ein schöner heller Strand vor türkisblauem Wasser offenbarte sich ihnen. Anke vergaß ihre anfänglichen Bedenken. Das Meer wog in sanften Wellen, die sich am steinigen Ufer brachen. Leises Rauschen umgab sie. Die Sonne spiegelte sich darin, ihre Lichtreflexe funkelten wie kleine Blitze. Bojen wippten munter mit jeder Bewegung des Meeres. Das Wasser schimmerte fast durchsichtig. Die Kieselsteine, die den Boden bedeckten, waren in aller Deutlichkeit zu erkennen.

Gegenüber lag eine Insel mit üppiger Vegetation. Inmitten dieser vielen Grünpflanzen prangte ein Hotel. Auf ihren staunenden Blick erklärte Alexander: „Das ist die Insel St. Katharina. Wir können mal mit einem Taxiboot rüberfahren. Dort gibt es wunderschöne kleine Buchten.“

„Das klingt alles so verträumt.“ Anke schwärmte und schaute sich weiter um.

Auf der rechten Seite bot sich die Stadt Rovinj wie eine Festung, die sich aus dem Meer erhob. Den höchsten Punkt bildete der Kirchturm der Kirche Euphemia. Hoch und majestätisch thronte er über den Häusern.

„Mit Rovinj haben wir uns wirklich ein schönes Urlaubsziel ausgesucht“, stellte Anke fest. „Diese Stadt sieht aus, als wäre sie aus dem Wasser gewachsen.“

„Rovinj entstand auf einer steinigen Insel. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Inselstadt durch Aufschütten der Meerenge mit dem Festland verbunden. Durch den venezianischen Vorstoß in den istrischen Mittelmeerraum hat sich Rovinj Venedig angeschlossen und gehörte eine lange Regierungszeit der venezianischen Republik an. Das hat das venezianische Stadtbild geprägt. Der Glockenturm wurde nach dem Vorbild des Campanile auf dem Markusplatz in Venedig vom gleichen Baumeister erbaut. Aus dieser Zeit stammt das Wahrzeichen der Stadt Venedig, das gleichzeitig das Wappen von Rovinj ist - der geflügelte Löwe“, erklärte Alexander.

„Bist du Geschichtslehrer?“ Anke staunte.

„Nein. Aber ich war schon oft hier, weil es mir hier gut gefällt.“

„Das kann ich verstehen.“

„Man nennt Rovinj nicht umsonst die Perle Istriens“, fügte Alexander an.

Lisa sorgte dafür, dass sie nicht in Vergessenheit geriet. Schnurstracks steuerte sie das Meer an. Anke eilte hinter ihrer Tochter her. Sie stellte fest, dass der Boden in Strandnähe nicht tief war, eine beruhigende Tatsache. Trotzdem fing sie den kleinen Wirbelwind ein.

Sie schaute sich nach einer geeigneten Stelle um, an der sie sich niederlassen wollten und entschied sich für einen Platz unter den Pinienbäumen, die Schatten spendeten. Dort war Lisa nicht den ganzen Tag der Sonne ausgesetzt. Als sie unter den Bäumen ihr Badetuch ausbreitete, hörte sie das Rufen einer Türkentaube. Es war ein schöner Ruf, dem Anke gern zugehört hätte, aber Lisa verstand es, sie abzulenken. Die Kleine wurde immer ungeduldiger – sie wollte ins Wasser. Jetzt musste es schnell gehen. Sie half Lisa aus ihrer Latzhose. Die Badehose trug sie schon darunter. Dieses Mal lief die Kleine noch schneller auf das Wasser zu, damit ihre Mutter sie nicht schon wieder daran hindern konnte. Anke gelang es in der kurzen Zeit nicht, selbst aus Jeans und T-Shirt zu schlüpfen. Erschrocken rannte sie voll angezogen hinter Lisa her.

Zum Glück lief die Kleine nicht weit. Als sie ihre Füße ins Wasser streckte, flüchtete sie schnell wieder hinaus.

„Kalt“, schrie sie so laut, dass Anke lachen musste.

„Gott sei Dank. So kann ich erst mal die Schwimmärmel und den Schwimmreif aufblasen.“

Als sie mit Lisa an der Hand zu ihrem Platz zurückkehrte, sah sie, dass Alexander ihr die Arbeit schon abgenommen hatte.

Sie schälte sich aus ihren Kleidern. Zum Vorschein kam ein roter, knapper Bikini, der von ihrer blassen Haut abstach. Anke schaute zweifelnd an sich herunter, ließ einen vergleichenden Blick über Alexanders braungebrannten Körper wandern und kam zu dem Schluss, dass sie noch viel Zeit in der Sonne verbringen musste.

Den Anfang machten sie mit einem Sprint ins Wasser.

Die Sonne wurde immer wärmer, sogar im Schatten bekam Anke ihre Not mit diesen Temperaturen. Ihr Vorhaben, sich zu bräunen, geriet ins Wanken.

Während Lisa in ihrem Schwimmreif planschte, ließ Anke ihren Blick über den Strand und die Touristen schweifen. Es war einerseits ein schönes Bild, Familien mit ihren Kindern zu sehen. Andererseits erkannte sie darin wie so oft, dass sie ihrer Tochter keine Familie bieten konnte – ein ewiger Wermutstropfen.

Sie beobachtete, wie Alexander Lisa mit beiden Händen hochhob, durch die Luft wirbelte, ins Wasser tauchte und wieder durch die Luft fliegen ließ. Aus Lisas Juchzen wurde Schreien bis zu einem ohrenbetäubenden Quietschen vor Wonne. Lisa hatte in Ankes Augen viel zu schnell Vertrauen zu diesem Mann gefasst, der ja eigentlich ein Fremder für sie war. Sollte das der unterschwellige Wunsch der Kleinen nach einem Vater sein?

Alexander kehrte mit Lisa an den Strand zurück.

Lisas kurze blonde Haare standen zottelig von ihrem Kopf ab. Sie schüttelte sich, wobei einige Wassertropfen herausflogen und Anke trafen. Anke schrie laut auf, weil ihr Körper sich in der warmen Sonne erhitzt hatte. Diese kleine Dusche war für sie wie ein Kälteschock. Mit einem Handtuch rieb sie Lisa trocken, wobei sie ihr immer wieder über die blonden Locken rieb, bis die Haare ganz zerzaust waren. Lisa griff mit ihren beiden Händen in Ankes kurzes Haar und machte es ihrer Mutter nach. Als die beiden fertig waren, sahen sie gleichermaßen struppig aus und lachten bei ihrem Anblick.

Alexander stimmte in das Lachen ein. Der Anblick von Mutter und Tochter gefiel ihm. Mit ihren kurzen Haaren wirkten sie wie zwei Lausbuben, die gerade einen Streich ausgeheckt haben.

 

Nachdem er eine Weile in seine Betrachtungen versunken war, fragte er: „Wie kommt es, dass du eine Tochter mit blonden Haaren und blauen Augen hast, wo deine Haare dunkelbraun und deine Augen ebenfalls braun sind?“

Eine Weile zögerte Anke. Alexander hatte damit in ihre unbeschwerte Stimmung hinein ein Thema angesprochen, das ihr Gemüt belastete. Lisas Vater war ein Kapitel, das sie gerne vergessen würde. Aber allein schon Lisas Anblick machte ihr das unmöglich, denn die Ähnlichkeit zu ihrem Vater war frappierend.

Alexander schaute ihr tief in die Augen, ein Blick, der sie dazu verleitete, ihr Geheimnis preiszugeben, ohne das Gefühl zu verspüren, die Information wäre bei ihm in schlechten Händen.

„Diese Attribute hat Lisa von ihrem Vater geerbt.“

„Und wo ist er jetzt?“

„Er existiert in Lisas Leben nur in Form von Alimenten.“

Alexander wich erschrocken zurück.

„Deine Art zu sagen, dass der Vater sich aus dem Staub gemacht hat, ist mir neu“, erwiderte er darauf. Aber schon schnell hatte er sich gefasst und seine Chance erkannt. „Ich lade dich heute Abend zum Essen ein. Auf der Terrasse unseres Hotels ist es wunderschön, und es schmeckt gut.“

Anke lachte über sein Reaktionsvermögen. Doch nach genauen Überlegungen musste sie ihm absagen: „Das geht nicht. Ich habe mit Martha und Norbert noch nichts für heute Abend vereinbart. Übergehen möchte ich die beiden auf keinen Fall. Immerhin ist es unser erster gemeinsamer Urlaub.“

„Euer erster?“ Alexander staunte. „Dann habt ihr aber spät damit angefangen.“

In diesen Worten erkannte Anke deutlich, dass er Kullmann und Martha für ihre Eltern hielt. Sie schaute ihn nachdenklich an und kam zu dem Schluss, dass sie ihn gerade mal wenige Stunden kannte. Warum also sollte sie ihn korrigieren? Wer wusste schon, ob sie sich wiedersehen würden, nach diesem Korb?

„Meine Einladung gilt auch noch für morgen“, fügte Alexander an. Soviel zu ihren Gedanken, weil sie ihm gerade einen Korb gegeben hatte. Frech grinste er sie an.

Anke konnte nicht anders, sie musste zustimmen.

„Und vorher gehen wir wieder zusammen baden.“

„Du kannst gar nicht genug bekommen“, stellte Anke fest.

„Gut erkannt. Die gemeinsame Zeit mit euch beiden ist schön.“