Mit dem Nordost nach Südwest

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Mit dem Nordost nach Südwest
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Elke Kleist

Mit dem Nordost nach Südwest

Roman

Engelsdorfer Verlag

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Mit dem Nordost nach Südwest

Dank

Über die Autorin

Es war einmal. So fangen Märchen an.

Dieser Spätsommertag hatte wie ein Märchen begonnen. Sie hörte sich noch laut singen, während sie den Picknickkorb packte und Robert die Fahrräder startklar machte.

Sie sah sich lachend durch den Wald radeln und erinnerte sich, dass sie wohl zum tausendsten Mal darüber staunte, dass die Vögel im lichtdurchfluteten Kiefernwald ganz andere Lieder sangen als zwischen den finster wirkenden, märchenhaften Buchen kurz vorm Weststrand. Als hätte jeder für sich ganz eigene Geschichten zu erzählen.

Jetzt im Nachhinein fiel ihr ein, dass Robert außer Atem war als sie am Strand ankamen. Das kannte sie sonst nicht von ihm. Sie hatte ihm die schweißnassen Haare aus der Stirn gestrichen und einen albernen Witz über alternde Männer gemacht. Und sofort wieder vergessen.

Danach ging alles viel zu schnell. Sie sah ihn zusammensacken, sah fremde, nackte Menschen sich um ihn scharren, erste Hilfe leisten. Einer telefonierte. Gefühlte Ewigkeiten später landete der Hubschrauber.

Sie rief seinen Namen, immer und immer wieder, schrie laute Gebete, an einen gerichtet, an den sie nie geglaubt hatte.

Es war einmal. Manchmal enden Märchen auch so.

Es war schon spät, als es leise an ihre Tür klopfte. Jennifer öffnete mit einem Glas Rotwein in der Hand. Ihrem vierten. Sie schwankte leicht und Georg musste sie halten, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor.

„Tut mir leid“, kicherte sie vor sich hin. „Der Wein und ich, wir haben uns gerade gegenseitig ein bisschen getröstet.“ Im nächsten Augenblick füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Es ist Roberts Lieblingswein.“

Georg fing sie auf, bevor sie zu Boden fallen konnte. Er hatte diesen Zusammenbruch erwartet. Es war nicht das erste Mal, aber noch nie vorher hatte er sie derart hilflos erlebt. Der Schmerz der vergangenen Wochen schlug über ihr zusammen als würde sie erst jetzt richtig begreifen, was geschehen war und es gelang ihm nur mit Mühe, sie zur Couch zu lenken, wo sie kraftlos zusammen sackte.

„Du trinkst zu viel“, flüsterte er, ohne jeglichen Vorwurf. Seine Stimme war einzig Trauer und Angst. Angst um die Freundin, um die Frau, die ihm neben seiner eigenen mehr bedeutete, als gut für ihn war. „Ich vermisse ihn auch“, er deckte sie zu und strich ihr übers Haar, „mehr als du dir vorstellen kannst.“

„So wenig Zeit“, Jennifers Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, „wir hatten so wenig Zeit. Es ist so ungerecht!“ Hoffnungslosigkeit und Wut kämpften um die Vormacht in ihrem Gesicht.

„He, Kleine“, er drückte sie an sich, „du hast doch noch uns. Wir stehen das zusammen durch.“ Er klang absolut nicht überzeugend. Auf einmal schien er derjenige zu sein, der Hilfe brauchte. Niemand hätte hinterher sagen können, wer von beiden wen an sich gezogen, wer sich wie ein Schiffbrüchiger an den anderen geklammert hatte, wer in wessen Kuss zu ertrinken drohte. Genau so wenig, wer als Erster zu sich kam und voll Erschrecken zurück wich. Jennifer sprang auf, schlagartig nüchtern und von Panik gehetzt.

Sie riss im Vorbeirennen ihre Jacke von der Garderobe und stürzte auf die Straße hinaus. Sie flüchtete aus ihrem eigenen Haus, flüchtete vor sich selbst, vor dem, was sie getan hatte und was nie hätte passieren dürfen. Raus, nur raus, weg hier, weit weg.

Er war doch der Mann ihrer besten Freundin und immer wie ein Bruder für sie gewesen. Geschwister taten so was nicht. Und Freunde auch nicht. Ihr wurde übel und sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.

Nichts würde je wieder so sein wie es war. Jetzt hatte sie die Freunde auch noch verloren.

Sie wusste nicht, wie sie zu ihrem Lieblingsplatz in den Dünen gelangt war und wie lange sie schon dort zusammengekrümmt gelegen hatte, ehe sie langsam wieder zu sich kam. Durchgefroren zog sie mit zittrigen Händen die Jacke enger um sich herum. Es war der eisige Nordost, der sie frieren ließ. Aber diesmal war niemand da, der sie schützend in den Arm nahm, der sie mit heißen Küssen die Kälte vergessen ließ. Robert war nicht mehr da. Ihre Liebe hatte nicht einmal die Chance bekommen, zu etwas Normalem, Alltäglichem zu werden. Sie war im Stadium des großen Wunders hängen geblieben.

Sie ließ sich in die Erinnerung fallen. An eben genau diesen Platz in den Dünen, wo sie mit ihm alles um sich herum vergessen hatte, wo der Nordost ihre von der Liebe verschwitzen Körper getrocknet hatte. Sie sah all die Orte vor sich, die durch ihn erst ein Gesicht bekommen hatten, dachte an seine Zärtlichkeit, an sein Lachen. An ihr neues wunderbares Leben. An ihr altes Leben! Es würde nie wieder so sein. Ein dicker Eispanzer wälzte sich um sie und drohte sie zu erdrücken, aber sie fand nicht die Kraft aufzustehen, ihn zu sprengen. Sie krallte die erfrorenen Hände tief in den kalten, feuchten Sand und schlug sie dann in tiefster Verzweiflung laut weinend vor ihr Gesicht.

Irene fand sie in den Dünen, aber Jennifer wagte nicht sie anzusehen. Doch ihre Freundin nahm sie in den Arm und wiegte sie, wie ein kleines Kind. „Komm nach Hause, Jenny“, flüsterte sie als hätte sie Angst, Jennifer zu erschrecken.

„Reni, ich kann nicht. Lass mich einfach hier liegen.“ Jennifers Stimme zitterte. „Du weißt ja nicht …“

Irene drückte sie fester an sich. „Doch, ich weiß. Georg hat’s mir erzählt. Alles. Ich bin deine Freundin, Jenny. Ich kann damit umgehen.“ Sie sah ihr fest in die Augen. „Kann ich doch?“

„Ach, Reni!“ Jennifer klammerte sich an sie. „Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es war nur, weil …“, sie suchte verzweifelt nach einem Grund, „nur, weil, weil …“

„Hör auf, Jenny, quäl dich nicht noch mehr. Es ist genug. Komm jetzt. Bitte.“ Irene zog sie auf die Füße. „Das muss aufhören. Du musst aufhören. Es ist jetzt drei Monate her. Du musst endlich wieder an dich denken. Das Leben geht weiter. Für uns alle geht es weiter.“ Sie schüttelte Jennifer an den Schultern. „Robert hätte nicht gewollt, dass du dich so fallen lässt“, sie sah sie eindringlich an, „und dass du so viel trinkst“, fügte sie leise hinzu. „Die Zeit heilt alle Wunden, du musst es nur zulassen.“

Jennifer guckte beschämt zu Boden. Kaum sichtbar nickte sie mit dem Kopf. Irene hatte recht. Wenn sie so weitermachte, würde ihr bald gar nichts mehr bleiben.

Sie versuchte, ihren steif gefrorenen Körper zu straffen. „Ja, es ist Zeit“, murmelte sie.

Die Zeit heilt alle Wunden. Aber wie viel Zeit brauchte es? Ein Jahr? Zwei?

Mittlerweile waren fast zwei Jahre vergangen und das Leben ohne Robert war zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die Jennifer oftmals erschreckte. Schmerzhaft stellte sie fest, dass sie sich kaum noch an sein Gesicht erinnern konnte, und dass ihr die gemeinsamen Erlebnisse mehr und mehr unwirklich, wie aus einem ergreifenden Liebesfilm, den sie irgendwann einmal im Kino gesehen hatte, erschienen. Die Erinnerungen verblassten.

Während die Freunde längst wieder unbefangen über Robert reden und lachen konnten, fühlte Jennifer sich oft noch unbehaglich dabei. Aber auch das wurde weniger. Die Zeit heilte tatsächlich Wunden! Nur die Narben blieben.

Jennifer stand vor dem Spiegel und blickte in ein schmales Gesicht mit ernsten Augen. Zu lange nicht mehr richtig gelacht. Kritisch beäugte sie ein paar Falten. Die waren doch letzten Monat noch nicht da?

Sie schaute zur Uhr rüber. ‚Oh je, schon so spät‘, sie hatte Reni doch versprochen, ihr bei den Vorbereitungen zu ihrem alljährlichen Frühlingsfest zu helfen. Sie freute sich auf den Abend mit ihren Freunden. Irene und Georg, ihre Feriengefährten aus Kindertagen. Sie hatten Jennifer mit offenen Armen aufgenommen, als sie damals, nach ewig langer Zeit, plötzlich wieder in ihr Leben platzte als wäre sie nie weg gewesen.

Jennifer lächelte versonnen in sich hinein. Der lange, schlaksige Georg, der mit seinen fast fünfzig Jahren immer noch aussah wie ein großer Junge. Reni war ein wenig runder geworden, aber ihr lockiges braunes Haar und die Sommersprossen auf der Nase passten noch genau zu den Bildern ihrer Kindheit.

Für die beiden war es wie auch für ihre Freunde das Normalste von der Welt, dass Jennifer ab sofort zu ihnen gehörte, und sie staunte noch heute über die große Vertrautheit, die von Anfang an zwischen ihnen allen herrschte.

 

Sie dachte an die immer gut gelaunte blonde Christiane und ihren bärenstarker Mann Wilhelm vom Uhlenhof, an Magrit, Herrin der Bibliothek in Prerow, und Jimmy, der mit Georg zusammen Häuser und Grundstücke betreute. Irene kümmerte sich nach wie vor in ihrem kleinen Reisebüro um das Fernweh der Leute. Alle hatten ihr geholfen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Besonders Irene. Sie war mit einem Übermaß an Selbstlosigkeit über das, was zwischen ihr und Georg passiert war, hinweggefegt, als hätte es überhaupt nichts zu bedeuten gehabt. Doch Jennifer wusste es besser. Sie hatte es gespürt. Der Kuss dieser Nacht war einem schon ewig andauernden kleinen Schwelbrand in Georgs Innerem geschuldet, von dem weder sie noch Irene etwas geahnt hatten. Aber er war wohl zugleich die Feuerwehr, die diesen Brand löschte. Dennoch hatte Jennifer nach dieser Nacht den Eindruck, dass das Verhältnis zwischen ihr und Georg seine Unschuld verloren hatte und sie sehr viel vorsichtiger miteinander umgingen.

Zaghaft lächelte sie ihr Spiegelbild an. Ihre Freunde dachten, es würde ihr wieder richtig gut gehen. Und manchmal glaubte sie es selbst.

Sie steckte ihre Haare zu einer strengen Frisur hoch, schlüpfte in das enge Kleid und die hohen Schuhe und schminkte die Lippen. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass da die Jennifer vor ihr stand, die vor drei Jahren das erste Mal aus Berlin nach Prerow zurückgekommen war, die Jennifer vor Robert. Fast unmerklich war sie in die schützende alte Rolle zurück geschlüpft.

Dünner, zu dünn und genau so dünnhäutig.

Aber es gab sie noch.

Irene schaute Jennifer missbilligend an.

„Du wirst immer dünner. Das ist nicht normal. Du bist doch nicht krank?“

Jennifer umarmte die Freundin. „Mach dir keine Sorgen, mir geht’s bestens.“ ‚Außer, dass mir Robert nach wie vor so wahnsinnig fehlt, dass es weh tut und ich einfach keine Zuversicht habe, dass das irgendwann mal aufhört. Ansonsten ist alles gut.‘ Aber das würde sie nie sagen. Damit musste sie allein klar kommen.

Irene nahm ihr Gesicht in die Hände. „Du drehst die Zeit nicht zurück, auch wenn du es noch so sehr versuchst. Denk an die glücklichen Zeiten und sei froh, dass du sie erleben konntest. Glaub mir, es gibt nicht viele Menschen, die das von sich behaupten können.“ Sie schaute an Jennifer herunter. „Was denkst du, was Robert sagen würde, wenn er sehen könnte, dass aus dir wieder diese aufgemotzte Stadttussi geworden ist? Warum bleibst du nicht die, die er so sehr geliebt hat? Warum spielst du wieder die Eisprinzessin?“

Jennifer überrollte ein schlechtes Gewissen. „Ich dachte, ich wollte doch nicht …“

„He, wir sind deine Freunde. Denen kannst du nichts vormachen. Guck dich doch an. Das ist nicht die Jenny, die hierher gehört. Das ist die Jenny, die damals aus Berlin hierher kam, nur um ihr Haus zu verkaufen und dann schnell wieder zu verschwinden. Das macht mir Angst.“

„Reni …“

„Sag’s mir einfach, gehst du zurück nach Berlin?“

Jennifer schaute auf ihre Füße. „Na ja, darüber nachgedacht habe ich schon, aber ich kann es nicht mehr. Hätte mir das früher einer gesagt, den hätte ich für verrückt erklärt, aber mir geht die Stadt auf den Geist. Mich nerven die hektischen Menschen, der ewige Lärm, der Schmutz. Und wenn ich dann wieder hierher komme, nach Prerow und zu euch, dann passiert jedes Mal etwas mit mir, das ich nie erklären könnte. Nur so viel, dass es ein großartiges Gefühl ist.“

Irene drückte sie strahlend an sich. „Gott, bin ich froh! Aber warum dann …“, sie zeigte auf Jennifers Outfit.

Die druckste herum. „Na ja, ich dachte, es würde mir vielleicht helfen, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Aber es funktioniert nicht. Ich hab’s begriffen.“ Sie löste die Nadeln aus ihrem Haar und band es locker im Nacken zusammen, so dass es wellig über ihr Schultern fiel. „Besser?“

Irene lachte. Das war doch ein Anfang. Zwei Jahre waren lange genug.

Georg polterte mit einem Arm voll Kaminholz rein.

„Verdammt kalt noch dieses Jahr“, brummte er. Als er Jennifer sah, pfiff er durch die Zähne. „Hallo Kleine, siehst toll aus heute.“ Er klang betont lässig. Er hatte lange nicht so weiche Züge in ihrem Gesicht gesehen. Schnell wendete er sich Irene zu. „Was denkst du, ist die Zeit reif?“

Jennifer guckte fragend von einem zum anderen, aber Irene lachte nur.

„Ja, ich denke, sie ist endlich soweit!“ Und an Jenny gewandt: „Lass dich überraschen. Du wirst schon sehen.“ Sie machte ein vergnügtes Gesicht. „Bald!“, fügte sie geheimnisvoll hinzu.

Jennifer hatte keine Gelegenheit nachzuhaken, denn in dem Moment kamen auch die anderen.

Christiane brachte eine große Schüssel Salat mit. Mit hochrotem Gesicht wedelte sie sich frische Luft zu. „Ich hasse die Wechseljahre. Warum müssen eigentlich nur wir Frauen uns mit all diesem Mist rumschlagen?“

„Tröste dich, es soll auch Männer geben …“, Magrit stellte einen Topf Bowle auf den Tisch und Jimmy drückte Georg eine Flasche Whiskey in die Hand.

„Ach ja? Ich kenne keinen.“ Christiane strich sich mürrisch eine feuchte Haarsträhne aus den Augen.

‚Whiskey’, dachte Jennifer wehmütig und sah Robert entspannt, mit weit von sich gestreckten Beinen, das Glas in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, am Tisch sitzen.

Das Bild verschwand genauso schnell wieder wie es gekommen war, als sie in den Trubel der Gemeinsamkeit reingerissen wurde. Aber zum ersten Mal erfüllte sie die Erinnerung an ihn mit einem Gefühl der Wärme statt Trauer und Schmerz. Robert und die viel zu kurze Zeit mit ihm würden immer ein Teil ihres Lebens bleiben, sie musste ihn nicht aus dem Kopf bekommen, um endlich wieder ins Leben einzusteigen. Im Gegenteil, mit ihm an ihrer Seite konnte ihr doch gar nichts passieren.

Die Männer standen etwas abseits eng beieinander und diskutierten. Dann schlugen sie krachend die Handflächen aneinander und prosteten sich zu. Ein Pakt war besiegelt. Man konnte zum gemütlichen Teil des Abends übergehen.

Wilhelm und Georg griffen zu ihren Gitarren, während Jimmy auf dem Tisch den Takt klopfte.

„Somewhere over the rainbow“, krächzten sie laut und falsch und die Frauen stimmten mit ein. Nur gut, dass dieser Sänger – Israel Irgendwie – wie auch immer dieser Mann hieß, das nicht hören konnte. Er hätte sich vor Entsetzen glatt im Grab umgedreht .

Jennifer lachte. Zum ersten Mal seit Roberts Tod lachte sie bis ihr der Bauch weh tat und ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Und der dicke Eispanzer in ihr schmolz.

Später, allein in ihrem Bett, kuschelte sie sich in Roberts kariertes Hemd, umarmte sein Kopfkissen und schlief mit einer neuen Zuversicht ein.

Die Freunde hatten ihr nur gesagt, dass sie gemeinsam etwas unternehmen würden. Sie gaben sich sehr geheimnisvoll. Sie sollte sich nur fahrradtauglich fertig machen.

Jennifer war verunsichert. Was hatten sie ausgeheckt?

Sie wühlte die Umzugskartons durch, die sie unter ihrem Bett verstaut oder doch eher versteckt hatte. Dorthin hatte sie ihre Jeans und die flachen Schuhe verbannt. Es war an der Zeit, sie wieder in ihr Leben zu lassen.

Georg kam, um sie abzuholen. „Ich glaube …“, er stand unschlüssig vor ihr und suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. „Also, Kleine, am besten, du setzt dich erst mal hin. Ich denke, ich muss dich etwas vorbereiten auf das, was heute Abend passiert.“

Er setzte sich selbst ihr gegenüber und knetete unruhig die Hände. Oh Mann, war das alles wirklich so eine gute Idee?

„Robert und ich, wir haben mal vor sehr langer Zeit einen Plan geschmiedet“, er stockte als wäre ihm das Ganze etwas peinlich, „also, wir haben ausgemacht, dass derjenige, der den anderen überlebt, hingeht und seine Urne zurückholt.“ Am Ende überschlug sich seine Stimme fast.

Jennifer riss die Augen auf. „Du willst Roberts Urne klauen?“

Georg schüttelt langsam den Kopf und Jennifer atmete erleichtert auf. Man konnte doch nicht …! Obwohl …

„Nein“, er verzog sein Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse, „ich hab’ sie schon.“ Jennifer starrte ihn ungläubig an. „Du hast sie schon?“, flüsterte sie.

Georg nickte vorsichtig, nun doch auf das Schlimmste gefasst.

„Und das habt ihr zwei euch ganz allein ausgedacht?“ Jennifer rang um Fassung.

„Na ja, Robert, ich und Jim Beam. Vielleicht war es auch Johnnie Walker.“ Er hatte den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen.

Eine vermummte Gestalt, die nachts mit Hacke und Spaten über den Friedhof schlich, ein Uhu, der gespenstig schrie, Rascheln hinter jedem Grabstein. Ein Grabschänder. Jennifer erschauerte bei der Vorstellung.

Oder doch eher ein Retter?

„Du glaubst gar nicht“, unterbrach Georg ihre Gedanken, „was für ein Kraftakt das war, Oliver von einer Seebestattung abzubringen. Wie hätte ich da…“, er lachte verlegen.

Jennifer hatte Oliver sofort gemocht. Er sah seinem Vater nicht sehr ähnlich, war größer und sehr schlank, aber er lächelte wie er und zog auf dieselbe Art die Augenbrauen in die Höhe, wenn er sich über etwas wunderte oder amüsierte. Diese Geste würde sie nie vergessen.

Er lebte seit Jahren als Ranger in Südafrika, trotzdem standen er und Robert sich sehr nahe. Umso weniger konnte Jennifer seine Entscheidung nachvollziehen, Robert auf dem Friedhof beisetzen zu lassen. Jetzt verstand sie.

„Und ich habe mich immer wieder gefragt, wie Oliver und vor allem du, als Roberts bester Freund, das zulassen konntet. Wo er doch nie etwas mit der Kirche und diesem Ort am Hut hatte“, meinte sie mit erstickter Stimme. Sie hatte damals einfach nicht die Kraft gehabt, sich dagegen zu wehren. Später redete sie sich ein, dass es für Oliver eben die einfachste Lösung war und er die Bedeutung dessen wohl gar nicht begriffen hatte. Es kam ja auch alles viel zu überraschend. Für sie alle.

Jennifer traute sich kaum zu fragen und so kam wieder nur ein Flüstern zustande. „Weiß er davon?“

Georg schüttelte den Kopf. „Er ist doch sowieso nicht da.“ Wie um Entschuldigung bittend hob er die Hände.

Jennifer sollte Oliver unbedingt besuchen kommen, hatte er ihr zum Abschied noch gesagt. Aber was sollte sie da? Ohne Robert?

„Warum jetzt, Georg, warum erst jetzt?“

„Du warst noch nicht so weit. Es sollte kein Akt von Trauer sein, sondern ein Freundschaftsbeweis, ein Liebesbeweis, ein guter Tag für uns alle. Auch für Dich.“

„Hast du ihn ganz alleine …“

„Nein, wo denkst du hin?“ Georg wurde mutiger und sein Körper straffte sich wieder. „Jimmy und Wilhelm waren mit. Mussten schließlich Schmiere stehen. Wir haben uns vor Schiss bald in die Hosen gemacht. Kannst du glauben.“

Langsam gelang es Jennifer zu verstehen, was da abgelaufen war. Was für ein Jungenstreich! Oh, das hätte Robert gefallen! Und ihr gefiel es auch. Aber es war nicht Recht. Angst beschlich sie. Was, wenn …

Georg sah ihr das an. „Keine Sorge, Kleine, wir hatten alles im Griff. Kein Mensch hat was mitgekriegt. Und keiner vermisst ihn dort.“ Er stand auf und hockte sich vor sie. Er hätte gern ihre Hände genommen, aber er schaute ihr nur in die Augen. „Alles in Ordnung?“ Er war sich nicht sicher, wem seine Frage wirklich galt.

„Hmm“, Jennifer nickte zögerlich, „Und nun?“

Georg atmete erleichtert auf. So ganz sicher war er sich seiner Sache am Ende doch nicht. Nicht wegen Robert. Versprochen war versprochen. Aber wie Jennifer darüber denken würde, das war ihm weiß Gott nicht egal. ‚Sie ist wie meine kleine Schwester’, versuchte er sich ständig aufs Neue einzureden, ‚oh Mann, nur meine Schwester!’ Er richtete sich auf und streckte den Rücken. „Und jetzt fahren wir in den Wald und bringen ihn nach Hause!“

„Sind die anderen auch dabei?“

„Klar, so ist das bei Freunden.“

„Ja, so ist das bei Freunden.“ Jennifer sprang auf und umarmte Georg in überschwänglicher Freude. „Na dann, worauf warten wir noch!“

„Was habt ihr gemacht?“ Bea guckte sie entsetzt an. Aber dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf. „So was Verrücktes habe ich überhaupt noch nie gehört. Gehen hin und klauen einen Toten vom Friedhof, oh, entschuldige, ich meine natürlich eine Urne, und buddeln ihn zu Hause wieder ein. Ich lach mich tot.“

Unbeeindruckt von Jennifers strengem Blick knuffte sie Karin in die Seite und gackerte los. „Und das erzählst du uns erst jetzt? Deine beiden besten Freundinnen sitzen hier in Berlin, und du lässt sie dumm sterben?“

 

„Bea, ich bitte dich, über so was kann man doch nicht am Telefon reden.“ Jennifer schaute sich besorgt um, als fürchtete sie sich vor unliebsamen Zuhörern.

„Leidest du an Verfolgungswahn?“ Bea konnte sich kaum beruhigen. Was für coole Typen waren das da im Norden?

Jennifer nagte an ihren Lippen. „Na ja, manchmal ist da so ’n Knacken in der Leitung.“ Sie verstummte, als der Kellner an ihrem Tisch vorbeikam.

Karin guckte noch immer ganz erschrocken drein. „Oh je, wenn das rauskommt!“

„Ach komm, Karin“, Bea schüttelte verwegen ihr dunkles Haar und winkte ab, „dort vermisst ihn doch tatsächlich niemand. Und dann, was habt ihr dann gemacht?“ Gespannt beugte sie sich vor.

„Na ja, abends ist ja kaum noch jemand im Wald, obwohl es so lange hell ist. Da haben wir uns einen schönen Platz ausgesucht, einen, den ich immer wieder finden werde, und haben ihn da, nun, eingegraben eben.“ Jennifer musste heftig schlucken. „Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Aber am Ende war es noch ein richtig schöner Abend, mit Whiskey und Gitarren und so.“ ‚Ganz nach Roberts Geschmack’, dachte sie. „Aber jetzt zeig uns erst mal deinen Ring.“ Sie tupfte verstohlen ein paar verirrte Tränen weg.

Bea streckte strahlend den Finger mit dem großen Diamanten von sich. „Das war ein hartes Stück Arbeit, kann ich euch sagen.“

So lange Jennifer sie kannte, war jeder Mann, mit dem Bea zusammen war, nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu dem Einzigen, dem Richtigen, bis sie Waldemar-Johannes traf, der endlich alles, was in ihrem ganz persönlichen Forderungskatalog stand, in sich vereinte. Ein uraltes „von“ vor seinem Namen, viel Macht und noch mehr Geld. Nun ja, er war vielleicht ein, zwei Jahrzehnte zu früh geboren, aber er sah immer noch ziemlich gut aus und trug Bea auf Händen. Er überhäufte sie mit allem, was sie sich nur wünschte und sonnte sich selbst im Glanz ihrer rassigen Schönheit. Böse Zungen meinten, er wäre zur rechten Zeit Witwer geworden.

„Wie kommst du nur immer an solche Typen ran?“ Karin schüttelte missbilligend den Kopf.

Bea lachte. „Die Entscheidung, ob etwas läuft oder nicht, liegt doch bei uns Frauen. Wir schätzen den Marktwert eines Mannes ab, der muss sich in die Seile legen und wir schicken dann klare Signale raus, wenn er uns interessiert.“ Sie wischte alle Bedenken vom Tisch. Es war genau so, wie sie es immer wollte. Sie war fast am Ziel.

Ja, dachte Jennifer, Bea und ihr Verlobter hatten dieselben Ideale, nämlich sein Geld. Nun, wenn Bea diese Kröte schlucken wollte. So setzte jeder eben seine Prioritäten.

Bea nahm einen kleinen Spiegel aus der Tasche und zog sich die Lippen nach.

Wieder mal fragte Jennifer sich, wie zwei so unterschiedliche Menschen wie Bea und Karin beste Freundinnen sein konnten. Bea, die stolze, selbstbewusste Frau und Karin, oft immer noch das kleine naive Mädchen, ein bisschen pummelig und unscheinbar, aber eine Löwin, wenn es um geliebte Menschen ging.

„Und er glaubt, dass du ihn liebst?“ fragte Karin skeptisch.

Bea lachte girrend. „Man muss den Männern nur geben, was sie hören wollen. Dann öffnen sie Herzen und Brieftaschen.“ Sie tippte Jennifer auf die Brust, „Aber jetzt noch mal zu Dir. Ich sehe es dir an, du lebst immer noch abstinent.“

Jennifer hob ihr Sektglas in die Höhe. „Und was ist das hier?“

„Du weißt genau, was ich meine. Karin, was sagst du? Jenny braucht mal wieder einen Mann.“

„Oh, einen Mann, hatten wir das nicht alles schon mal?“ Jennifer verdrehte die Augen.

Bea hob den Zeigefinger. „Aha, ich sehe, du erinnerst dich. Und wenn ich mich nicht täusche, dann hast du damals ziemlich schnell gemerkt, dass ich Recht hatte. Ich sage nur, Robert und der Küchentisch“, sie kicherte in sich hinein.

„Ich komme sehr gut allein klar“, sagte Jennifer mürrisch.

Bea schüttelte den Kopf. „Allein sein ist nur schön, wenn man allein sein will, nicht, wenn man es muss.“

Karin schielte zu Jennifer hinüber. „Wenn ich sie mir so angucke, würde ich eher sagen, sie braucht als erstes einen großen Teller Nudeln in Sahnesauce.“

„Ja, ja, am besten deinen“, Bea zwickte Karin grinsend in eine ihrer Speckröllchen. „Aber ich meine es ernst, Jenny! Hast du dich in letzter Zeit mal im Spiegel angeguckt? Richtig angeguckt, meine ich? Diese tiefen Frustfalten kommen vom Entzug.“

„Hast du einen guten Schönheitschirurgen an der Hand?“ Jennifer wiegelte lachend ab.

„Sex ist wichtig. Hab ich neulich gelesen. Wie lange ist es jetzt her? Fast zwei Jahre? Ohne Sex wirst du steif, deine Gefäße verstopfen und deine grauen Zellen verschwinden mehr und mehr. Willst du noch mehr hören? Wahnsinn, Melancholie und Appetitlosigkeit!“

„Ja“, stimmte Karin heftig zu, „mit deinem Appetit scheint tatsächlich was nicht zu stimmen.“

Jennifer hob beschwörend die Hände. „Oh je, Erbarmen, keine Alternative in Sicht?“

„Na ja“, Bea warf einen prüfenden Blick auf ihr Telefon, „du kannst es dir natürlich auch selber machen. Hat den Vorteil, dass du dabei nicht unbedingt gut aussehen musst.“

„He, ich kann mich doch auch nicht selber kitzeln.“

Bea starrte sie überrascht an. „Was denn, du hast noch nie? Du Dummchen, wie alt willst du noch werden, um deinen Körper zu verstehen? Das ist doch ganz einfach, mach dir deine Lieblingsmusik an, ein Glas Wein ist auch nicht schlecht, denk an Robert oder an wen auch immer und tu es. Andererseits, der beste Orgasmus ist der, bei dem ein Mann dabei ist. Also los, sie warten da draußen auf dich.“

Jennifer schaute sich in dem kleinen Café um. Außer ihnen saßen hier ausnahmslos alte, sehr alte Leute. Sie nickte zustimmend. „Ja, du hast Recht, die Auswahl ist beeindruckend. Es kann zwar keiner von denen mehr zwei Stufen, dafür aber zwei Tabletten auf einmal nehmen. Welchen soll ich zuerst ansprechen?“

Bea deutete grinsend auf einen Mann an der Bar. „Der da ist erst Siebzig, fühlt sich aber wie Vierzig.“

„Wie lange? Zehn Minuten?“ Jennifer konnte nicht aufhören zu lachen. „Übrigens, wie sieht es bei Dir aus? Dein Zukünftiger ist ja nun wirklich auch kein Jungbrunnen mehr. Wie gehst du gegen all die zerstörerischen Enthaltungsprobleme an?“

„Und was machst du, wenn er womöglich danach, na, du weißt schon, auf dir zusammenbricht?“ Karin geriet ins Stottern wurde knallrot. Das war eigentlich gar nicht ihr Thema.

„Dann roll ich ihn von mir runter. Ganz einfach.“ Bea machte eine Handbewegung als wollte sie etwas beiseite wischen.

Karin schüttelte heftig mit dem Kopf. „Martin und ich haben das probiert. Das schaffst du nicht. So ein Mann ist schwer wie ein Mehlsack.“ Sie kicherte verlegen. „Wisst ihr“, sie schaute sich unsicher zu allen Seiten um, ob auch ja niemand mithörte, „mein Martin lässt sich hinterher oft so fallen. Ich bekomme dann kaum noch Luft. Da haben wir uns so ein System ausgedacht. Ich klopfe dann ab, so wie ein Ringer, wenn er aufgibt, damit er sich daran erinnert von mir runter zu gehen.“

Jennifer und Bea hatten mit großen Augen zugehört und prusteten nun auf einmal los. So hatten sie ihre Freundin Karin noch nie erlebt. Die Vorstellung, wie ihr schwergewichtiger Martin …, das war zu lustig.

„Dass ihr mir ja die Klappe haltet!“ Karin hatte wohl im selben Augenblick bereut, dieses intime Geheimnis offenbart zu haben.

Bea tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist zu drollig. Muss ich mir unbedingt merken. Auf jeden Fall braucht ihr euch um mich keine Sorgen zu machen. Ich habe einen phantastischen Physiotherapeuten. Unter anderem. Von denen bleibt keiner vor Erschöpfung auf mir liegen.“ Sie lachte wieder los.

Bea hat sich schon immer genommen, was sie wollte. Hemmungen? Ein Fremdwort für sie. Ein ganz klein wenig wie Bea sein, manchmal wünschte Jennifer sich das auch. „Vielleicht leihst du mir deinen Physiotherapeuten mal?“, fragte sie verschmitzt.

Bea legte den Kopf schief. „Ich denke, du bist zwar meine beste Freundin, aber das ginge dann doch zu weit. Obwohl, wie sagt mein Bruder immer, ist ja kein Stück Seife, nutzt sich nicht ab. Also …“

„Nein, nein.“, Jennifer hob abwehrend die Hände, „Lass mal gut sein, ich warte auf die Sommermänner in Prerow.“

Nun mischte auch Karin sich wieder ein. „Klar, du brauchst doch nur zum Tonnenabschlagen zu gehen. Schließlich hast du da ja deinen Robert …, oh, tut mir leid“, stotterte sie erschrocken.

„Unfug!“, fuhr Bea barsch dazwischen, „Jennifer muss das abkönnen. Wir können nicht ewig um den heißen Brei herum reden, wenn es um Robert geht. Ganz im Gegenteil, der Kerl war so toll, wir können gar nicht oft genug über ihn sprechen. Aber er war nicht das einzige männliche Glanzstück auf dieser Welt. Denk mal drüber nach. So, und darauf stoßen wir jetzt an!“