Mit dem Nordost nach Südwest

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„Ich verliere sein Gesicht.“, sagte Jennifer plötzlich leise. „Ich spüre ihn nicht mehr. Aber ich will ihn nicht vergessen.“

„Hmm“, Bea kniff nachdenklich die Lippen zusammen, „wolltest du nicht schon längst mal einen Roman schreiben? Schreib’s auf. Glaub mir, eine bessere Therapie bekommst du nicht, und eine tolle Geschichte ist es sowieso.“

Jennifer runzelte die Stirn. „Aber ich kann doch nicht … Das geht doch keinen was an.“ Bea und Karin guckten sich verschwörerisch an. „Uns würde es gefallen.“

„Und lass ja nichts aus!“

„Außerdem weiß doch keiner, dass du das alles wirklich erlebt hast.“

„Mir scheint, ihr zwei habt zu viel getrunken.“ Jennifer tat als wollte sie ihnen die Gläser wegnehmen.

„Ganz im Gegenteil“, meinte Bea und gab dem Kellner ein Zeichen, noch eine Flasche zu bringen.

Jennifer kam bei schönstem Wetter nach Prerow zurück. Die Idee mit dem Roman hatte sie den ganzen Weg über beschäftigt. Sie schrieb Artikel und Kolumnen für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Sie liebte ihre Arbeit und Aufträge gab es genug. Sie kam finanziell gut zurecht und konnte frei über ihre Zeit entscheiden. So hatte sie die Entscheidung, freiberuflich zu arbeiten, nie bereut. Aber einen Roman zu schreiben, das wäre eine ganz andere Liga. Es war bisher beim Träumen geblieben. Solange man nicht begann, konnte man auch nicht versagen. Die Angst davor, einsehen zu müssen, dass sie vielleicht doch nicht das Zeug dafür hätte, hatte sie bis jetzt immer noch ausgebremst. Aber möglicherweise hatte Bea Recht? Sie musste ja nicht eins zu eins über sich und Robert schreiben. Nein, das konnte sie nicht. Aber ein bisschen?

Sie dachte an die Monate, ehe Robert und sie endlich erkannt hatten, dass sie zusammen gehörten. Gott, was hatten sie gestritten. Jennifer, die kompromisslose Verfechterin aller Tourismusideen und Robert, Robin Hood des Nationalparks, Feind aller Eindringlinge in sein Reich. Sie hatten sich verflucht und bekriegt, und doch war da von Anfang an etwas zwischen ihnen. Etwas Magisches.

Es war eine spannende Geschichte. Daraus ließe sich etwas machen. Eine imaginäre Protagonistin, kurze, dunkle Haar, unbedingt ganz anders als sie selbst, und … Plötzlich war sein Gesicht da, so deutlich, wie schon lange nicht mehr.

Jennifer fuhr am Dreiseitenhof vorbei. Konrad von Stetten müsste auf jeden Fall Teil dieser Geschichte werden. Eins musste man ihm lassen, er hatte mit seinem Reit- und Wellness-Hotel etwas ganz Großartiges geschaffen. Jennifer hatte die Entstehung vom ersten Stein an mit verfolgen können.

Von Stetten hatte ihr damals den Hof gemacht und keine Wege gescheut, seine Interessen durchzusetzen. Als er einsehen musste, dass Jennifer sich für Robert und nicht für ihn entschieden hatte, stellte er sich zu alledem als schlechter Verlierer heraus, was für Jennifer fast in einer Katastrophe endete.

Ihr fiel der große Nussknacker ein, den er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Ding musste, wahrscheinlich rettungslos verstaubt, immer noch irgendwo ganz hinten in der Schuppenecke stehen. Ich werde ihn dem Kindergarten schenken, überlegte sie. Die Zwerge haben ganz sicher ihre Freude dran. Im Advent. Aber das war noch ewig hin.

Ihr Verhältnis zu von Stetten war stark unterkühlt geblieben und beschränkte sich auf Höflichkeitsfloskeln, wenn die Arbeit eine Begegnung unumgänglich machte.

Als Jennifer auf ihr Grundstück kam, leuchteten ihr die Rhododendren rund um ihr kleines Haus in den schönsten Farben entgegen. Es war jedes Mal ein großes Glück, aus Berlin zurückzukommen und zu erleben, dass hier in Prerow erst alles zu blühen begann, was dort bereits der Vergangenheit angehörte. Das frische Grün der Buchen und Birken, die Kastanien mit ihren weißen Kerzenblüten und besonders der intensive Duft des Flieders, all das hatte etwas von Neugeburt. Alles schien möglich!

Ein weiteres Jahr verging.

Ein neuer wunderschöner Frühling zog übers Land und begann bereits, dem Sommer das Feld zu räumen. Jennifer musste sich eingestehen, dass das zurückliegende Jahr weitestgehend an ihr vorbeigerauscht war, ohne dass sich etwas Entscheidendes in ihrem Leben bewegt hätte.

Sie hatte gearbeitet, Zeit mit ihren Freunden verbracht und im Wald an der großen Wurzel gesessen. Über ein Jahr lang kam sie nun schon hierher. Wieder und wieder. Sie erzählte Robert von ihrem Alltag, schüttete ihr Herz aus oder hockte einfach nur da und hing ihren Gedanken nach. Diese Stunden gehörten immer noch zu den schönsten für sie.

Sie war gerade wieder aus Berlin zurückgekommen. Ihre Eltern hatten sie verwöhnt wie immer und waren glücklich darüber, sie wenigstens ein paar Tage im Jahr für sich zu haben.

Bei Karin lief alles wie immer. Doch Bea tanzte schon wieder auf dem freien Markt. Ihr Verlobter Waldemar-Johannes war, kurz bevor er Bea zu seiner Frau machen konnte, gestorben. Zuvor hatte er sie allerdings großzügig abgesichert, so dass sich ihr Schmerz in Grenzen hielt.

Dafür hatte sie Jennifer ordentlich zu Pott gesetzt. „Das, was du tust, hat nichts mit Leben zu tun“, hatte sie gesagt, „das ist wie Versumpfen in der Vergangenheit. Lass ihn endlich los, fang endlich wieder an, dein Leben zu führen. Mit Menschen aus Fleisch und Blut statt aus Asche. Oder glaubst du etwa, du hast das ewige Leben? Guck in den Spiegel, dann weißt du Bescheid.“

Jennifer hatte sich beleidigt in ihr Schneckenhaus verkrochen. Bea hatte gut reden. Wenn man wie sie die Männer nur benutzte, dann konnte man sie auch ruck zuck wieder verabschieden und sich der Zukunft zuwenden. Aber eine große Liebe konnte man doch nicht so mir nichts dir nichts aus seinem Leben streichen. Doch insgeheim sehnte sie sich längst danach, das Leben wieder zu fühlen, sich vielleicht sogar wieder zu verlieben. Aber noch viel mehr hatte sie Angst davor. Blieb sie in ihrer wunderschönen, sicheren Vergangenheit, konnte ihr nichts passieren. Plötzlich sprang sie auf. Sie hatte doch glatt ihre Freunde vergessen, die im „Klönsnack“ längst auf sie warteten.

Sie kam zu spät und wurde mit lautem Gejohle begrüßt, als sie die Gaststätte regelrecht erstürmte. Sie hasste Unpünktlichkeit und schämte sich dafür.

„Hoppla, oh mein Gott, entschuldigen Sie bitte.“ Fast wäre sie über den Mann gestolpert, der vorn am Tresen saß und sein Bier trank. Er wusste nicht so richtig, wo er seine lange Beine lassen sollte.

Er hob sein Glas in ihre Richtung als wollte er sagen ‚Entschuldigung angenommen’. Jennifer schaute ihn an. Nur den Bruchteil einer Sekunde. Was für Augen!

Im nächsten Augenblick schon war sie mitten zwischen ihren Freunden. Irene drückte sie fest an sich und zupfte ihr ein paar Tannennadeln aus den Haaren.

„Entschuldigt“, Jennifer guckte an sich runter, als wollte sie kontrollieren, ob sie noch mehr Spuren des Waldes an sich hätte, „ich habe die Zeit vergessen und wollte euch nicht noch länger warten lassen.“

Georg kam um den Tisch rum und umarmte sie. „He, Kleine, du siehst fantastisch aus. Was ein paar Stunden Wald doch ausmachen“, meinte er grinsend.

„Vielleicht hat das ja auch Berlin gemacht?“ versuchte sie ihn zu necken.

Sie spürte den Blick des Fremden im Nacken. Nein, dachte sie, ich will das nicht. Ich brauche das nicht.

„Was auch immer du dort im Wald getrieben hast“, brummte der Wirt, Kai-Uwe, ein Mann wie ein Bär mit grauer Mähne und ebensolchem Bart, und stellte ihr ungefragt ein Glas Rotwein hin, „es ist dir gut bekommen.“

„So was bringt Berlin nicht zustande!“, rief Jimmy dazwischen.

„Es sei denn …“

„Ja, es sei denn!“

Lauter Augenpaare waren plötzlich auf sie gerichtet. Keiner von ihnen erwartete von ihr, dass sie allein blieb. Im Gegenteil. Sie dachten wie Bea, nur, dass sie es nicht so deutlich sagten.

Jennifer war verunsichert. Sie wusste, dass der Mann am Tresen zu ihr rüber schaute. „Ich weiß gar nicht, was ihr meint.“ Sie lachte verlegen und prostete den Freunden zu. „Als wenn auch nur einer von euch glauben würde, dass es in Berlin einen akzeptablen Grund dafür geben könnte. Ihr seid doch alle viel zu lokalpatriotisch.“

„Und das zu Recht. Oder?“

„Soll Ella dir was zu essen machen?“ Kai-Uwe hielt ihr die Speisekarte hin. Seine Frau Ella war eine hervorragende Köchin.

Aber Jennifer winkte ab. „Ich hab keinen Hunger. Danke.“

Kai-Uwe ging, verständnislos den Kopf schüttelnd, in die Küche. Schon das zweite Glas Wein, aber nichts essen. Das war nicht gut.

„Erzähl, was gibt es Neues in der Hauptstadt?“ Die Freunde schauten sie erwartungsvoll an.

„Nun, der Rotwein dort ist auch nicht schlecht und Muttis Kuchen ist nach wie vor der Beste.“ Jennifer versuchte, betont lässig mit den Schultern zu zucken, „Einen Haufen Arbeit habe ich mir auch mitgebracht. Nichts Neues also.“ Als sie zum Tresen rüber guckte, blieb sie an seinem Blick hängen. Sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss und eine Hitze im Körper aufwallte, wie sie sie schon fast vergessen hatte. Sie wendete sich schnell ab. Zu schnell, denn der nächste Blick zu ihm zeigte ihr, wie er belustigt den Kopf schüttelte.

Jennifer schielte immer wieder aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Sie hatte ihn hier noch nie gesehen. Wie auch. War bestimmt ein Urlauber. Hatte Frau und Kinder ins Bett geschickt und sich noch eine kleine Auszeit von der Familie gegönnt. Aber so vertraut, wie er mit Kai-Uwe redete, schien es doch so, als kannten die beiden sich schon länger. Ob sie Kai-Uwe fragen könnte?

„He, Jennifer, wo bist du mit deinen Gedanken?“, holte Georg sie zurück.

Jennifer erschrak. „Entschuldigt, ich, nun, ich war gerade …“, wieder sah sie sein freches Grinsen, „ich musste nur gerade an, ja, an, nun, an was denken eben.“ Sie verhaspelte sich.

 

„Magrit hat dich gerade gefragt, was du denn als nächstes zu schreiben hast.“

„Ach Magrit, tut mir leid, ich bin wohl noch nicht ganz angekommen.“ Jennifer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was war nur los mit ihr? „Ich habe da ein paar gute Sachen in Aussicht. Wenn ich Glück habe, bekomme ich Freiflüge, Kost und Logis für Afrika, genauer, Namibia, damit ich was Nettes über sie schreibe.“, antwortete sie hastig, froh, wieder auf sicheres Terrain zu kommen.

Magrit strahlte sie an. „Afrika, oh Mann, brauchst du eine Sekretärin? Ich liebe Afrika.“ Jennifer schob ihre Hand rüber. „Das wäre Klasse. Ich habe so gar keine Lust, allein dorthin zu fliegen.“

Magrit deutete eine einsetzende Ohnmacht an. „Ich habe doch den falschen Job.“

„Na ja“, Jennifer versuchte zu beschwichtigen, „noch steht ja nichts fest. Aber vielleicht habe ich Glück und bekomme den Zuschlag.“

„Vielleicht braucht Jennifer eher eine Anstandsdame als eine Sekretärin!“ Alle grölten vor Vergnügen.

Er war weg. Wo war er hin? Sein halbvolles Bierglas stand noch da.

„Hi, hi, er gefällt dir! Endlich gefällt dir mal einer! Los, flirte mit ihm! Das ist die Gelegenheit!“ Beas Teufelchen tanzten vor ihren Augen. Karins kleine Engel hielten entsetzt dagegen und hoben mahnend die Zeigefinger. „Sei vorsichtig, mit sowas macht man keinen Spaß. Ein Flirt ohne feste Absichten ist gerade so sinnvoll wie ein Seereise ohne Schiff.“ – „Ach, ist doch nur für die Gesundheit.“ Die Teufel klatschten in die Hände. „Ein Flirt ist wie eine Tablette. Niemand kann die Nebenwirkungen vorhersagen.“ Verzweifelt rangen die Engel um Beherrschung. Die Teufel kicherten. „Wenn man sich immer an die Regeln hält, wo bleibt denn da der Spaß?“

Jennifer rieb sich die Augen. Er saß wieder an seinem Platz. Und er schaute sie an.

Nur gut, dass keiner etwas davon merkte. Jennifer hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Ihre Sachen waren ihr zu eng, die Luft im Raum zu dick, und ihr Glas schon wieder leer.

Christiane wedelt sich mit einer Serviette Luft zu. „Habt ihr übrigens schon gehört, dass die einen Film hier drehen wollen?“

„Wie, Hollywood kommt hierher?“

„Nein, nein, ein deutscher. Mit der Neubauer, glaube ich.“

„Ach nee! Haben wir mit der nicht schon genug Filme?“

„Ja, einhundertundvierzehn Mal war sie allein letztes Jahr im TV.“

„Alle zweieinhalb Tage. Das hältst du doch im Kopf nicht aus.“

„Das deutsche Fernsehprogramm ist eben das beste der Welt. Gäbe es sonst so viele Wiederholungen?“

„Es reicht doch nun wirklich.“

„Reichen? Es sind genau einhundertundvierzehn Mal zu viel.“

„Aber sie hat so toll abgenommen.“

„Mal sehen, für wie lange.“

„Da wird es ja dann hier auch bald einen ‚Neubauer-Diät-Fischteller’ oder einen ‚wie-werde-ich-schlank-wie-die-Neubauer-Cocktail’ geben.“

„Was ist das denn?“

„Na, das haben die doch auf Usedom gemacht. Da kannst du jetzt einen ‚Polanski-Teller’ essen. Und die benutzte Serviette von Pierce Brosnan in einer Glasvitrine besichtigen.“

„Was denn, der Polanski, der mit kleinen Mädchen …?“

„Zumindest sagt man so. Auf jeden Fall darf er nicht zurück in die USA. Darum hat er ja auch auf Usedom Szenen für seinen Thriller gedreht, die eigentlich an Amerikas Ostküste spielen.“

„Ganz Usedom war im Hollywood-Fieber.“

„Die haben sich das einhundertneunzigtausend Euro Zuschuss aus ihrem Amtshaushalt kosten lassen, stand in der Zeitung. Filmförderung heißt sowas.“

„Die Usedomer haben ja eine Schraube locker.“

„Glaubst du, solche gibt’s hier nicht? Wart’s nur ab!“

Kai-Uwe stellte die nächste Runde auf den Tisch, aber Jennifer stieg auf Wasser um. Sie hätte doch etwas essen sollen. Sie fühlte sich schon ein wenig wackelig auf den Beinen, als sie aufstand und zur Toilette ging.

Ihr Spiegelbild ließ sie erschrecken. Oh Gott, ihre Haare waren ja total zerzaust. Was musste er von ihr gedacht haben? Sie schüttelte energisch den Kopf. Sollte er doch denken, was er wollte. Warum interessierte sie das überhaupt? Vielleicht, weil Bea Recht hatte? Sie bürstete ihre Haare durch und band sie ordentlich wieder zusammen. Sie warf im Rausgehen noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, sah ihn zu spät aus der Nebentür herauskommen und landete unsanft in seinen Armen. „Hoppla“, rutschte es ihr raus, „schon wieder.“ Erschrocken befreite sie sich aus seinem Griff. „Tut mir leid“, sagte sie, bemüht, ganz cool zu klingen, was ihr aber wohl doch nicht so ganz gelang. Verwirrt kehrte sie zum Tisch zurück.

Seine Berührung brannte auf ihrer Haut. Sie strich mit den Händen drüber, als könnte sie sie wegwischen. Es war höchste Zeit für sie, nach Hause zu gehen.

„He, Jenny, vergiss nicht, nächste Woche, selbe Stelle. Nicht, dass ich an meinem Geburtstag hier alleine sitze!“, rief Magrit ihr hinterher.

Jennifer winkte den Freunden noch mal zu. Sie musste an ihm vorbei, seinem Blick noch einmal standhalten. Er gefiel ihr, und in einem plötzlichen Anflug von Mut nickte sie ihm zum Abschied lächelnd zu.

Hatte es mit Robert damals nicht fast genauso begonnen? Nein, das hier war was anderes. So, wie Bea gesagt hatte, ihr Körper spielte nur verrückt. Sonst nichts.

Sie atmete vor der Tür tief die frische Luft ein. Jetzt ging es ihr schon wieder besser.

Sie saß fröstelnd auf ihrer Gartenbank, die Beine an den Körper gezogen, die Hände fest um ihren Kaffeepott geschlossen und genoss diese frühsommerliche Morgenstimmung. Sie mochte es, den Tag so erwachen zu sehen. Aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.

So ein Quatsch, sich wegen ein paar Blicken verrückt zu machen. Was Bea nur immer hatte! Als ob ein Mann im Bett das Allheilmittel für oder gegen alles wäre. Wie viele Frauen auf der Welt müssten da in permanenter Unzufriedenheit leben. Nein, es gab tatsächlich Wichtigeres. Sein Bild tauchte vor ihren Augen auf. Warum war er so braun gebrannt? Bis jetzt gab es doch noch gar keine richtigen Sonnentage. Alle warteten sehnsüchtig darauf, dass der Sommer endlich begann. Sie dachte an sein volles, braunes Haar, seinen Fünftagebart, die kräftigen Oberarme und die abgewetzten Jeans, die über den Oberschenkeln spannten. Und dann seine Augen, die sie Vollendends aus der Fassung gebracht hatten. Verwirrt schob sie den Gedanken weg. Es gab wirklich Wichtigeres! Zum Beispiel – sie kniff angestrengt die Augen zusammen – Robert! Natürlich! Wäre das nicht ein Verrat an ihm? Auch wenn es nun schon drei Jahre waren wurde sie dieses Gefühl einfach nicht los. Ihre Freunde bedrängten sie schon lange, einfach nur mal die ‚Augen offen’ zu halten.

Ihre Arbeit war wichtig. Auslandsreiseberichte waren die Höhepunkte ihres Berufslebens schlechthin. Und dann war da noch der Roman. Auf ihrem Schreibtisch häuften sich bereits Notizen, Fotos und Ideen. Sie musste nur noch anfangen. Erleichtert holte sie tief Luft. Na also, ran an die wirklich wichtigen Dinge des Lebens! Aber ihr Körper sprach etwas anderes. Sie konnte sich wehren wie sie wollte.

Sie ging zurück ins Haus und wärmte sich unter der heißen Dusche auf. Als sie danach ihre Haare kämmte, fasste sie einen Entschluss – ein kurzes Telefonat und eine Stunde später saß sie bei ihrer Friseurin. „Kurz, bitte.“

Die junge Frau starrte sie entgeistert an. „Was denn, jetzt, wo sie gerade wieder so schön lang sind?“

Jennifer nickte zögerlich mit dem Kopf. „Doch, ja, kurz!“

„Ganz kurz?“

„Nein, um Gottes Willen!“, so mutig war sie nun auch wieder nicht, „Halb kurz, ich meine halb lang, bitte. Durchgestuft.“ Gleich würde sie heulen, aber sie wollte es so.

Es war wie eine Zeitreise. Hier, auf demselben Platz, hatte sie sich schon einmal von ihren langen Haaren getrennt. War es auch diesmal das Zeichen für einen Neubeginn?

Als sie später auf der Terrasse des Strandcafés saß und der Wind durch ihre luftige Frisur wehte, fühlte sie sich fast wie damals.

„Jennifer, ich fasse es nicht, dass ich dich hier treffe!“ Ein fülliger Mann kam auf sie zugestürmt und riss sie förmlich in seine Arme.

„Fritz!“, rief Jennifer überrascht, „Was machst du denn hier? Ist das schön, dich zu sehen!“

Fritz Korella war Kurdirektor, als sie damals nach Prerow zurückkam. Und wenn er auch nicht ihr Herz erobern konnte, verstanden sie sich immer gut. Irgendwann war er plötzlich weg und Jennifer sah ihn nicht wieder.

Er setzte sich ungefragt zu ihr. „Ich musste einfach mal wieder herkommen. Eigentlich wollte ich nicht, aber du weißt ja, wem einmal der Nordost um die Nase geweht ist …“, er lachte verlegen. „Ich komme nicht davon los.“

„Du warst damals so schnell verschwunden. Was war los?“ Jennifer beugte sich interessiert vor.

„Erinnerst du dich? Ich dachte, es wäre ein Traum hier zu arbeiten. Ich höre dich noch, wie du über meinen Vorgänger gelästert hast, der das gleiche gesagt hatte, aber nach einem Jahr oder so wieder weg war. Ein kurzer Traum, hast du gesagt.“ Er blickte versonnen in die Vergangenheit. Dann wendete er sich wieder ihr zu. „Ich hatte so viele Ideale. Aber ich konnte einfach nicht mit Schrober. Ich hätte nicht gedacht, dass Bürgermeister sein gleichbedeutend ist mit König sein. Ich wurde das Gefühl nie los, dass er schon aus Prinzip gegen alles war, was von meiner Seite kam. Es hieß zwar immer, der Kurbetrieb wäre ein eigenständiger Betrieb, und wir haben uns ja auch allein finanziert, aber die Praxis sah doch anders aus. Er saß immer am längeren Hebel.“ Er zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern. Das diktatorische Recht, das er sich selbst oft gewünscht hatte, nur um einfach mal etwas zu Ende bringen zu können, ohne zeitraubende, endlose Diskussionen im Gemeinderat, das hatte Schrober absolut für sich allein gepachtet. „Darum hab ich das Handtuch geworfen.“

Schrober! Jennifer sah ihn noch vor sich. Er hatte ein Auftreten wie Gott persönlich. Sein Wort war Gesetz. Unheimlich klug, mit einer Stimme, die dir alles verkaufen konnte, irgendwie wie ein Messias.

Anfangs hatten sie und viele andere geglaubt, er würde hier etwas bewegen, sich für die wirklich wichtigen Dinge einsetzen. Er wäre einer, der auch mal durch den Ort fahren und sehen würde, wo es an Sauberkeit und Ordnung mangelte und was unbedingt zu tun war. Aber am Ende mussten sie erkennen, dass er sich lediglich für Großinvestoren einsetzte, die in Prerow ihre Schäflein ins Trockene bringen wollten. Aber so viele Hotels, wie die bauen wollten, brauchten sie hier nicht. Und zum Glück gab es im Gemeinderat Leute mit gesundem Verstand und echtem Interesse für den Ort, die ihm die Flügel stutzten. Nicht alle, aber die meisten.

Keiner wusste, wo Schrober abgeblieben war. Es kursierten Gerüchte über Amerika und Scientology. Aber so richtig interessierte es wohl auch niemanden.

Bürgermeister Walter hatte heute immer noch mit Schrobers Erbe und seinen ehemaligen Gefolgsleuten zu kämpfen, die gegen alles und jedes waren, was er auf den Weg bringen wollte. Die uralte Geschichte. Immer gab es Parteien, die gegeneinander schossen anstatt gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um aus Prerow endlich die Perle zu machen, die es zu sein verdient hätte.

Korella griff nach Jennifers Hand. „Und wie geht es Dir inzwischen? Es tut mir so leid, was damals passiert ist.“

Jennifer lächelte und kniff dann die Lippen zusammen. „Drei Jahre ist es jetzt her, aber so richtig begreifen kann ich es immer noch nicht.“

Korella sah sie abwartend an.

„Nein, nein, keine Sorge. Es geht mir gut“, ruderte sie schnell zurück. „Ist schon in Ordnung.“

„Und was ist mit Bobs, ich meine, mit Roberts …“

„Du meinst das Haus? Oliver hat es verkauft. Er hat mich tatsächlich vorher gefragt, ob ich gern dort einziehen wollte.“ Sie strich nachdenklich mit der Hand über den Tisch. „Aber ich hab’ ja mein eigenes Haus. Außerdem, es ist doch nur ein Haus ohne Robert. Ich kenne die Leute nicht mal, die da jetzt wohnen. Und Maximus, du erinnerst dich an Roberts kleinen Hund? Den hat Oliver mit nach Südafrika genommen. Den Landrover, glaube ich, auch.“

„Ich dachte damals, du würdest zurück nach Berlin gehen.“ Korella streichelte versonnen über Jennifers Finger.

Sie zog ihre Hand sachte zurück. „Ich habe bestimmt tausend Mal darüber nachgedacht. Ich habe es auch versucht, aber ich hab mich in Berlin nicht mehr zuhause gefühlt. Ich habe dauernd nach dem Nordost gesucht.“ Jetzt war sie es, die verlegen lachte. „Nein, ich gehöre hier her. Ich habe hier irgendwo meine Seele eingebuddelt, ohne die geht nichts. Und du, erzähle, wo hat es dich hin verschlagen?“

 

„Ich bin jetzt an der Müritz, in Waren, um genau zu sein. Und ich“, er stockte ein wenig, „ich habe da jemanden gefunden.“

„He, das ist doch Klasse!“ Warum fühlte Jennifer sich erleichtert?

„Und, was macht dein Roman?“ Korella sah sie gespannt an.

„Mein Roman?“ Sie erinnerte sich, sie hatte ihm damals erzählt, dass sie eines Tages, vielleicht, womöglich, na ja, wer weiß das schon, einen schreiben wollte. „Ich bin noch in der Denkphase“, wich sie aus. „Ich habe zurzeit eine Menge anderes Zeug zu schreiben. Aber irgendwann, bestimmt.“

Korella guckte auf seine Uhr. „Jetzt erzähl mir noch ganz schnell, was es hier Neues gibt. Was macht mein Nachfolger?“

„Na, das geht tatsächlich fix. Der erste war noch schneller weg als du. Ich hatte nicht mal Gelegenheit, ihn überhaupt kennenzulernen. Jetzt sitzt ein sehr, sehr junger Mann auf deinem Stuhl. Er ist nett und ganz sicher auch unheimlich motiviert, hat unendlich viele Ideen. Ich fürchte nur, er ist bei alledem auch ein Träumer. Ich brauche dir ja nicht zu sagen, dass zu jeder guten Idee auch die materielle Basis da sein muss, um sie umsetzen zu können. Aber das muss er erst noch lernen, so scheint es.“ Sie nahm ihre Kaffeetasse. „Ansonsten? Eigentlich nicht viel. Okay, die Windräder stehen in der Ostsee. Allen Skeptikern zum Trotz, haben sich die Dinger zu einem Magnet für die Gäste entwickelt. Und soll ich dir was sagen? Ich war neulich Abend mit einer Freundin …“

Korella grinste.

„Ja, mit einer Freundin! Also, wir waren im ‚Seeblick’. Und als die untergehende Sonne auf die Windräder schien, da haben die schneeweiß geleuchtet.“ Träumerisch blickte sie in die Ferne.

‚Wie schön sie ist, wenn sie so schwärmt’, dachte Korella.

„Den fertigen Bernsteinweg hast du bestimmt schon bewundert? Da sieht man mal, was lange währt, wird tatsächlich gut. Die alte Kaserne wird nun auch endlich abgerissen. Angeblich soll der Hotelbau im April beginnen.“

„Und wer macht das jetzt?“

„Irgend so eine Investorengruppe. Ich habe neulich die Pläne gesehen, ich glaube, es wird ganz hübsch.“ Sie überlegte kurz, ehe sie fortfuhr. „Ach ja, hier sitzen wir auch das letzte Mal. Schade, aber das Café wird auch abgerissen und neu gebaut. Es soll wohl im Grunde bleiben wie es ist, nur aufgestockt werden. Ein kleines Hotel also. Die jungen Leute bringen frischen Wind ins Geschäft. Vielleicht kommt hier ja wieder so eine Terrasse hin?“

Es würde trotzdem nicht mehr derselbe Platz sein, an dem sie Robert das erste Mal begegnet war. Vorbei. Vergangenheit.

„Fürs Dünenhaus gibt es nach wie vor keinen Pächter und der ‚Möwenschiss‘ …“

„Was?“

„Na, der ‚Möwentreff’, dieser Kastenbau hinter den Dünen, den wir Schrober zu verdanken haben, ist auch dicht. Der Kerl, der meinte, er würde allen Prerower Gastronomen nun mal zeigen wie man’s macht, war so schnell pleite wie keine Möwe sch… kann, oh, entschuldige. War aber so.“

Korella lachte herzlich.

„Ein paar Straßen werden wieder gemacht in nächster Zeit. Das ‚Kiek in’ ist fertig, und wir haben jetzt eine wirklich schöne Bibliothek. Ach ja, und die Darßbahn ist wieder im Gespräch. Ein verrücktes Projekt, aber auch spannend. Dafür ist das leidige Thema Hafen vom Tisch. Nun wird in einer Tour darüber gestritten, ob die Fahrrinne zum alten Hafen ausgebaggert wird oder nicht, damit sie befahrbar bleibt. Der Seenotkreuzer liegt derzeit in Baarhöft und braucht mindestens drei Stunden bis hierher. Viel zu lange, wenn mal was passiert“, Jennifer trank einen Schluck Kaffee. „Weißt du, klar, es gibt viel zu meckern, aber es gibt eben auch eine Menge Gutes, und das Beste ist immer noch, hier zu Hause zu sein.“ Sie lehnte sich zufrieden zurück.

Korella stand auf. „Ach Jenny, ich könnte noch Stunden mit dir hier sitzen. Aber ich muss los. Mann, war das schön, dich zu treffen.“ Er umarmte sie. „Und schreib den verdammten Roman! Ich werde in meinem Buchladen Ausschau danach halten.“

Jennifer blieb noch in der Sonne sitzen. Ein bisschen wehmütig. Gerade hatte sich wieder ein Stück Vergangenheit aus ihrem Leben verabschiedet.

„Was denn, übermorgen schon?“ Jennifer hielt krampfhaft den Telefonhörer fest. „Ja, natürlich kann ich, großartig, super, ich freue mich. Ich danke Ihnen.“

Afrika. Tatsächlich. Sie musste sich erst mal hinsetzen. Ihr früherer Chef, Richard Wedekind, wollte, dass sie diesen Reisebericht schrieb. Zehn Tage Namibia für drei Gästefarmen, die sie besuchen und über die sie schreiben sollte. Genaue Informationen würde sie kurz vorm Abflug in Berlin bekommen.

Ihr Herz raste. Klar, sie war schon in Afrika gewesen. Auch in Namibia. Aber das war damals, in einem anderen Leben, mit Rüdiger. Als sein Jagdmaskottchen sozusagen. Gott, wie lange war das her? Ihre Ehe mit Rüdiger schien unendlich weit zurück zu liegen. Kaum noch wahr.

Sie versuchte sich zu erinnern. Die Farm gehörte einem Deutschen. Müller? Meier? Schulze? Einem Trödelhändler aus dem Westen. Woher sonst. Ein-Euro-Shops oder solche Billigläden. Da sah man mal, was mit Konkurszeug und Ramsch für Geld zu verdienen war. Es war eine schöne Farm mit kleinen schilfgedeckten Häuschen, einem romantischen Grillplatz, Pool mit Bar und allem, was das Herz begehrte. Drei Mal machten sie dort Urlaub, dann kam es zum Bruch. Und in dem Fall lag es ausnahmsweise mal nicht an Rüdiger. Sie hatten sieben Jagdtage gebucht, aber bereits nach drei Tagen sagte der Farmbesitzer, die Jagd wäre vorbei. Nein, gar nicht, er hatte gar nichts gesagt, nur den Jagdführer weggeschickt und sie einfach sitzen lassen. Ohne Erklärung, geschweige denn eine Entschuldigung. Bis zum Schluss hatten er und seine Frau scheinheilig freundlich getan, waren jedoch jedem direkten Gespräch aus dem Weg gegangen. War das ihr schlechtes Gewissen oder einfach nur der bequemste Weg für sie? Aber wer fliegt schon nur für drei Tage Jagd nach Namibia? Rüdiger war stinksauer. Am Ende hatte Meier ihn noch bei der Abrechnung betrogen, was Rüdiger in seiner Wut aber erst zu Hause auffiel. Jennifer hatte sehr viel mehr an der menschlichen Enttäuschung zu schlucken. Sie mochte den Farmbesitzer und seine Frau. Sie hatten so viele interessante Gespräche miteinander geführt, über dieselben Dinge geschimpft und gelacht. Aber letztendlich war es für die beiden doch nur ein Geschäft, Rüdiger und sie waren nur ein Geldwert. Rüdiger war von seinen eigenen Schatten eingeholt worden.

Jennifer konnte solche Menschen nicht verstehen. Warum hetzten sie nur so hinter dem Geld her? Nein, sie dachte dabei nicht an die, die jeden Tag ums Überleben kämpfen mussten, sondern an die, die den Hals einfach nie voll bekamen. Die Gier trieb sie an allem Menschlichen vorbei. Irgendein kluger Mann hatte mal gesagt, dass Leute, die kein Geld hätten, immer an Geld denken würden, die, die eh schon genug haben, nur noch. Sie waren zwar reich, aber führten doch ein sehr einsames Leben. Geldgier und echte Freundschaft passten nur schlecht zusammen. Freunde, die man sich kaufte, waren nur selten ihr Geld Wert.

Immer wieder fragte Jennifer sich, wie sie es so lange an Rüdigers Seite, in seinem so geldbestimmten Leben, aushalten konnte. Sie hatte es doch gesehen wie und wer er war. Zum Schluss dachte sie sogar noch, ihre Welt würde zusammen brechen, als er sie gegen die Jüngere eintauschte. Aber sie fand zu ihren Wurzeln zurück, zu dem Leben, in dem Freunde und Zeit mehr zählten als Geld. Vielleicht lag das Verderben mancher Menschen darin, dass sie eben keine Freunde hatten, die sie retteten.

Jennifer schüttelte sich. Was scherte sie das Leid anderer. Selber schuld. Die Verantwortung für das eigene Leben konnte man keinem anderen in die Schuhe schieben. Sie fuhr nach Afrika! Das musste sie jemandem erzählen. Gleich! Sofort!

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