Das Haus des Schreckens

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Das Haus des Schreckens


Das Haus des Schreckens

Mystery-Thriller

von

Elise Lambert & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar

2. Auflage (überarbeitet)

Covergestaltung:

© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2019 depositphoto.com

Impressum

Copyright: © 2019 Elise Lambert & Thomas Riedel

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Wenn die Menschen, vom

Terror des Verbrechens beherrscht,

vom Grauen und Entsetzen toll

geworden sind, wenn das Chaos

zum obersten Gesetz erhoben,

dann ist die Stunde der

Herrschaft des Verbrechens da!«

Das Testament des Dr. Mabuse, 1932


Kapitel 1

A

uch heute hatten sich während des Tages Sonnenschein, Wolken und Regen wieder innerhalb weniger Minuten abgewechselt. Richard Dobbs hatte sich eine regenfreie und halbwegs sternenklare Nacht gewünscht – es wäre die erste seit vielen Tagen gewesen. Stattdessen wurde die Dunkelheit in schöner Regelmäßigkeit von grellen Blitzen zerrissen, denen ein ohrenbetäubender Donner folgte. Fielen tagsüber nur dicke Tropfen vom grauen Himmel, waren es jetzt Wassermassen, die ihn unweigerlich an die Sintflut denken ließen.

Er sah kurz auf das Navigationssystem seines schiefergrauen Bentleys und blickte flüchtig zur Uhr. Zufrieden stellte er fest, dass es nicht mehr weit bis zur verabredeten Stelle war. Seine Geschwindigkeit hatte er den schlechten Wetterverhältnissen angepasst, wenngleich er sonst einen eher sportlich-dynamischen Fahrstil bevorzugte. Die starken Halogenscheinwerfer seiner Limousine tasteten sich durch die düster wirkende Landschaft des Londoner Randbezirkes. In ihrem Schein glitzerte die Straße wie frisch poliertes Tafelsilber, und an einigen Stellen ergossen sich mittlere Wasserströme in die Straßengräben.

Er hatte die Scheibenwischer bereits auf die schnellste Stufe geschaltet, damit sie mit dem niederprasselnden Regen fertig wurden, aber trotzdem schafften sie es kaum, ihm eine freie Sicht zu verschaffen. Ständig lag ein zitternder Wasserfilm auf der Windschutzscheibe und verzerrte die Landschaft zu einer gespenstischen Szenerie.

Wieder zuckte ein gewaltiger Blitz vom Himmel und ging in seiner unmittelbaren Nähe nieder. Unwillkürlich fuhr er zusammen, und als keine Sekunde darauf der Donner losbrüllte, lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Noch einmal warf er einen prüfenden Blick auf das Display des Navigationssystems. Doch es wäre gar nicht nötig gewesen, denn schon meldete die weibliche Stimme, dass er sein Fahrziel erreicht habe. Infolge der Wetterlage hatte er sich schon frühzeitig auf den Weg gemacht, und so blieb ihm jetzt noch gut eine halbe Stunde Zeit.

Dobbs griff nach den Zigaretten, die in der Mittelkonsole des Wagens lagen, steckte sich eine davon zwischen die Lippen und zündete sie an. Im Radio lief gerader die x-te Wiederholung des Meghan Trainor-Titels ›All About That Bass‹, den er, obwohl er ihn überhaupt nicht leiden mochte, inzwischen trefflich mitsingen konnte.

Was um alles in der Welt geht mich der fette Arsch einer Einundzwanzigjährigen an?, dachte er bei sich.

Wieder einmal fragte er sich, ob dieser Radiosender wirklich den Musikgeschmack der Leute traf, wie es laufend großspurig in den Jingles behauptet wurde, oder ob man sich dort von der Plattenindustrie einfach nur eifrig schmieren ließ. Für ihn stand jedenfalls unumstößlich fest, dass es sich bei den Radiomachern, um eine Bande ausgemachter Sadisten handelte, die ihre lustvolle Erfüllung darin fanden, ihre Hörer mit ständigen Wiederholungen zu quälen – ja, gar zu Tode zu foltern.

Nach einem erneuten Blick auf die Uhr stieg er aus dem Wagen. Der sintflutartige Regen hatte glücklicherweise aufgehört. Er nahm noch einen letzten Zug von seiner fast aufgerauchten Zigarette und schnippte sie achtlos in die Dunkelheit.

Trotz seiner fünfundsechzig Jahre war er kein alter Mann und ganz bestimmt konnte ihn niemand einen Feigling nennen, aber der Ort an dem er sich befand, wurde ihm langsam aber sicher unheimlich. Von Zeit zu Zeit blinkten ein paar Sterne am Himmel, um gleich darauf wieder von einer düster vorbeiziehenden Wolke verdeckt zu werden; hinzu kamen die Böen, die ihm unangenehm eisig um die Ohren pfiffen.

Er hatte sich, ein wenig abseits von seinem Bentley, schützend neben einen Baum gestellt, um nicht ständig dem brausenden Wind ausgesetzt zu sein. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere. Er wartete jetzt schon weitere zehn Minuten auf den unbekannten Mann, der ihn am Morgen angerufen hatte. Doch bis jetzt war niemand zu sehen.

Er kramte in der Tasche seiner Jacke nach seinen Zigaretten. Inzwischen war er sich nicht mehr so sicher, ob das mit dem sich treffen eine gute Idee war. Er gab sich Feuer und sog den Rauch tief in seine Lungen. Obwohl es kalt war, bemerkte er plötzlich, dass er gar nicht mehr fror und ihm sogar Schweiß den Rücken hinablief – und der lief, weil ein seltsames, bedrohliches Gefühl in ihm aufstieg.

Es wird Zeit, dass ich verschwinde. Auf so ein Treffen werde ich mich auf keinen Fall noch einmal einlassen, dachte er bei sich, verärgert darüber, dieser Verabredung überhaupt zugestimmt zu haben.

Aus irgendeinem Grund hatte er sich ihr nicht entziehen können. Es war ein Gefühl, für das er einfach keine Erklärung fand. Ihm war, als sei er gegen seinen Willen dazu genötigt worden.

In einer Entfernung von etwa dreißig bis vierzig Yards konnte er ein Haus ausmachen, das, im zeitweilig vorhandenen Licht des Mondes, einen düsteren Schatten warf. Auf die Entfernung und von dem, was er erkennen konnte, musste es schon recht alt sein. Er schätzte es auf vielleicht einhundert Jahre.

Plötzlich schreckte ihn das Knacken eines Astes aus seinen Gedanken. Nervös holte er ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über das Gesicht.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verärgerte ihn zusätzlich. Unpünktlichkeit hatte er noch nie sonderlich geschätzt, aber die spielte jetzt auch schon keine Rolle mehr. Er hatte seine Entscheidung bereits getroffen: An diesem Ort hielten ihn keine zehn Pferde mehr!

Er wollte den Weg zu seinem Wagen antreten, als er feststellte, dass ihm seine Füße nicht mehr gehorchten. Eine unerklärliche Lähmung hatte von seinem Körper Besitz ergriffen.

Angst machte sich in ihm breit, …

… eine Angst, die sich noch steigerte, als er hinter sich eine Stimme vernahm, von der er sicher war, sie schon einmal gehört zu haben – und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde es ihm bewusster. Ja, er kannte diese Stimme. Alles in ihm bäumte sich dagegen auf. Das konnte einfach nicht sein! Er versuchte sich einzureden, dass das reine Einbildung war!

Doch dann …

… als er die Gestalt erkannte, die sich vor ihm aus dem Dunkel schälte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf, und ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken.

Dass, was er sah, war schlicht unmöglich!

Keine zwei Yards entfernt, stand ihm seinem eigenes ›Ich‹ gegenüber!

Doch was ihn fast den Verstand verlieren ließ, war gar nicht die Tatsache, dass er sich selbst gegenüberstand, sondern vielmehr der Umstand, dass die Gestalt, die seine Gesichtszüge trug, ein bleiches Skelett war!

Vor Angst schlug ihm sein Herz bis zum Hals, und seine Augen drohten ihm aus den Höhlen zu treten. Er spürte das wilde Pochen und Rauschen des Blutes in seinen Ohren, fühlte noch, wie ihm schwindelig wurde und sein Kreislauf kollabierte, bevor ihm die Sinne schwanden.

Es war nur noch ein unterbewusstes Empfinden, dass sich eine eiskalte, tödliche Hand um seinen Hals legte …



Kapitel 2

D

er schwarze Austin Healey 3000, mit seiner roten Lederausstattung und den silbernen Speichenrädern, bog recht sportlich in die Einfahrt der Tiefgarage ein. Drei Minuten später rollte der Oldtimer, Baujahr 1967, zwei Etagen tiefer, in die für ihn vorgesehene Haltebucht, und das markante Dröhnen des starken Sechs-Zylinder-Motors starb ab.

Unmittelbar danach wurde die Fahrertür aufgestoßen. Ein mittelgroßer Mann von schlanker Statur, mit dunkelbraunen, kurz geschnittenen Haaren, kletterte aus dem sportlichen Roadster. In seinem energischen, durchaus attraktiven Gesicht funkelten zwei kühle, graue Augen. Lässig warf er die Tür des Oldtimers zu. Fast liebevoll strich er noch über das Faltdach, bevor er sich auf den Weg zum Fahrstuhl begab.

Nur wenig später schritt er einige Etagen höher aus der Kabine des Aufzugs und betrat einen langen, hell ausgeleuchteten Flur.

»Guten Morgen, Sir«, grüßte ihn ein hoch aufgeschossener, uniformierter Detective Constable, der mit einem Aktenstapel, den er sich unter die Achsel geklemmt hatte, auf ihn zukam.

 

»Wünsche ich Ihnen auch, Williams!«, erwiderte der Mann mit den auffälligen buschigen Augenbrauen. »Sagen Sie, ist Inspector McGinnis schon da?«

»Den habe ich vor einer Viertelstunde mit einer riesigen Papiertüte ins Büro verschwinden sehen«, grinste Constable Williams, während er sich an ihm vorbeischob. »Ich schätze, er hat sich ein kleines Frühstück mitgebracht.«

»Damit könnten Sie recht haben«, scherzte Blake gutgelaunt, und machte sich auf den Weg ins Büro, das er sich mit seinem Kollegen McGinnis teilte.

Im Vorzimmer traf er auf Laureen Marshall. Seine Beförderung zum Chief Inspector hatte ihm die Vergünstigung einer eigenen Sekretärin eingebracht. Mit ›Magenta‹, wie sie von allen wegen ihrer blauroten Haarfarbe gerufen wurde, hatte er eine hervorragende Mitarbeiterin bekommen. Auch wenn sie gerade erst ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, wusste sie genau, worauf es ihm ankam, und ganz abgesehen von ihren ausgezeichneten fachlichen Fähigkeiten, war sie ein äußerst attraktiver Blickfang.

Magenta hatte sich mit einem Stapel Post und Unterlagen beschäftigt, die sie gerade beiseiteschob. Sie hatte beschlossen, sich erst einmal einen Becher schwarzen Tee zuzubereiten, bevor sie weitermachen wollte.

»Einen wundervollen guten Morgen, Chief Inspector«, begrüßte sie ihn mit weicher Stimme. Sie lächelte ihm entgegen, als er das Vorzimmer betrat und seinen Mantel an die Garderobe hängte.

»Den wünsche ich Ihnen auch, Magenta«, erwiderte er, während er auf die Tür zu seinem Büro zuging, um darin zu verschwinden.

Doch dazu kam er gar nicht erst. Denn gerade in dem Augenblick, da er seine Hand auf den Türdrücker legen wollte, um einzutreten, riss McGinnis die Tür auf und stand mit seiner nicht unerheblichen Körpermasse im Rahmen. Blake hielt in seiner Bewegung inne. Die Chance ins Büro zu kommen, stand gegen null. Es sei denn, er wäre mit einem Hintern bestückt gewesen, für den so mancher gestorben wären. Mit seinem fast kugeligen, nur noch spärlich mit Haaren bedeckten Kopf, deutete McGinnis wortlos in Richtung der Garderobe.

»Deinen Mantel kannst du gleich wieder anziehen!«, ergänzte er seine eindeutige Geste. Seine Stimme klang ernst. »Du wirst es kaum glauben, aber unser ›Freund‹ hat wieder zugeschlagen! Zumindest hat es augenblicklich den Anschein. Ich hatte vor gut zehn Minuten einen Anruf von Constable Turner. Er ist auf seiner Route, zusammen mit seinem Streifen-Kollegen, über die Leiche eines älteren Mannes gestolpert. Turner und sein Partner sind der festen Überzeugung, dass die vorgefundenen Merkmale, auf den ersten Blick, ganz stark denen, unserer letzten beiden Opfer ähneln.«

Laureen Marshall war gerade dabei einen Teebeutel mit kochendem Wasser zu übergießen. Erschrocken drehte sie den beiden ihr Gesicht zu.

»Dabei fing der Morgen so schön an!«, bemerkte sie düster.

»Wie recht sie haben, Magenta«, stimmte ihr Blake zu, »aber da scheint jemand etwas dagegen zu haben.« Er hatte sich seinen Mantel geschnappt und schlüpfte wieder hinein. »Na, dann wollen wir uns nicht lange mit Nichtigkeiten aufhalten und keine Zeit verlieren, Cyril.«

»Die Jungs von der Spurensicherung sind schon vor Ort«, informierte ihn McGinnis.

»Ausgezeichnet.« Blake hatte sein Päckchen Benson & Hedges aus der Manteltasche hervorgeholt, klopfte eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich zwischen die Lippen. Während er sie anzündete, warf er McGinnis einen fragenden Blick zu. »Unseren Pathologen hast du sicher auch schon in Marsch gesetzt?«

»Selbstredend«, grinste McGinnis, amüsiert über die Nachfrage nach einer Selbstverständlichkeit.

Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Blake nahm einen Zug von seiner Zigarette, inhalierte und blies den Rauch anschließend zu Decke. Er wusste, dass er in öffentlichen Gebäuden nicht rauchen durfte, aber es war ihm egal.

»Na, dann los, Cyril!«, seufzte er und trat in den Flur hinaus.

Blake und McGinnis arbeiteten schon seit vielen Jahren zusammen und waren ein ideales Team. Mit der Zeit hatten sie schon eine Anzahl durchaus gefährlicher Fälle durchgestanden und zu einem guten Abschluss gebracht. Mehr als einmal hatten sie es dabei auch mit übersinnlichen Gegnern zu tun bekommen. Sie vertrauten sich, wussten, dass sie sich in jeder Lage hundertprozentig aufeinander verlassen konnten, und waren über die Jahre mehr als nur Kollegen geworden. Selbst ihre Verlobungen hatten sie gemeinsam, mit Freunden und Kollegen, gefeiert, und ihre Auserwählten hatten sich ebenfalls angefreundet. Die Tatsache, dass jeder von ihnen bereit war, sein Leben für das des anderen einzusetzen, wenn es erforderlich sein sollte, machte sie zum erfolgreichsten Gespann beim New Scotland Yard.



Kapitel 3

M

cGinnis hatte dem Dienstwagen reichlich die Sporen in die Flanke gedrückt und das Gaspedal des weißen Range Rovers kräftig durchgetreten. Keine dreißig Minuten waren seit dem Verlassen des Yards und ihrem Eintreffen am Tatort vergangen. Dort waren bereits die Kollegen der ›Fatal Accident Inquiry‹ mit der Spurensicherung beschäftigt, aber auch die stets unvermeidliche Meute an Pressefotografen und Journalisten der Regenbogenpresse hatte sich eingefunden. Wie immer war sie dabei, an möglichst viel Bildmaterial und Fakten zu gelangen, jederzeit bereit, auch aus Halbwissen oder reiner Vermutung, eine, die Auflage steigernde, Schlagzeile zu fertigen. Mit ordentlichem Journalismus, wie ihn sich Blake gewünscht hätte, hatte das zumeist nicht mehr viel zu tun. Eine saubere Recherche, die ihre Zeit brauchte, und damit dem Geschehen hinterherhinkte, war zu einem Anachronismus geworden, wie eine Schreibmaschine unter lauter Computern. Sie schien obsolet – schlicht überholt zu sein.

Als die beiden aus ihrem Dienstfahrzeug kletterten, stürmten die ersten Presseleute bereits auf sie zu, um Informationen für ihre, noch zu schreibenden Artikel zu erhalten. Fragen prasselten auf sie ein, und einige drückten ihnen dabei fast schon ihre Mikrophone ins Gesicht. Aber Blake und McGinnis wussten zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig wie die Zeitungsleute.

Während Blake noch damit beschäftigt war, sich aus der Umzingelung der Lohnschreiber zu befreien, hatte es McGinnis bereits geschafft, sich von der Meute zu lösen und bis zum leitenden Pathologen der Gerichtsmedizin durchgeschlagen, um sich von diesem den Toten zeigen zu lassen und erste Informationen zu bekommen. Doktor Gordon Lestrade und McGinnis kannten sich seit etlichen Jahren und hatten schon zuvor an zahlreichen ähnlichen Schauplätzen zusammengearbeitet. Gerade erst hatten sie einen gemeinsamen Fall abgeschlossen, bei dem zwei weibliche Leichen direkt aus den Kühlfächern der Pathologie verschwunden waren, nur um später auf sehr mysteriöse Weise an anderer Stelle wieder aufzutauchen[1].

»Hallo, Gordon!«, begrüßte er mit seiner klangvollen tiefen Stimme, die so manchem Tenor zur Ehre gereicht hätte, den Mediziner, der neben der, zum Teil abgedeckten Leiche kniete.

Seine Worte gingen im Lärm eines tieffliegenden Hubschraubers unter.

»Verfluchte Reporter!« McGinnis starrte zum Helikopter empor, der jetzt recht niedrig über ihre Köpfe hinwegflog. Es war ein rotweißer, dessen Kennung er nicht auf Anhieb erkannt hatte. Soweit er sehen konnte, waren aber keine Kameras installiert. Er trat einen Schritt zurück und zeigte verärgert auf jeden einzelnen der Medienvertreter im Umkreis von hundert Yards.

»Der Van dort«, klärte er den Pathologen und einen danebenstehenden Sergeant auf, den er noch nie zuvor gesehen hatte. »Rundfunk! Irgend so ein hinterwäldlerischer Lokalsender mit so einer Prominudel namens Kate, die in schöner Regelmäßigkeit ergreifende Geschichten über das Leben, ihres missratenden Sohnes und dessen dreibeinigen Hund namens Jerk erzählt. Ein anderer Sender steht da drüben, und der Ford Escort auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehört zu einem echten Käseblatt. Dürfte die Klatschpostille namens ›Evening Standard‹ sein. Dahinter steht ›The London Paper‹.« Er wies auf einen Vauxhall. »Auf die Lady muss man aufpassen, die Blondine mit den irre langen Beinen, das ist Layla Morrison! Kaum vorstellbar, dass die bei dieser Wetterlage im dünnen kurzen Kleid und High Heels rumläuft! Vermutlich ist sie der Auffassung, dass die Jungs dann eher mit ihr reden.«

»Reg‘ dich nicht auf, Cyril. Du bist lange genug bei der Truppe und weißt genau wie das abläuft! Du wirst die morbide Neugier der Leute nicht abstellen können«, unterbrach ihn Lestrade, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Er hatte sich an McGinnis‘ Tiraden gegen die Einseitigkeit und Verlogenheit der Medien gewöhnt und hörte ihm zumeist kaum noch richtig zu.

Der Chef-Pathologe des Yard erhob sich. Freundschaftlich klopfte er McGinnis auf die Schulter.

»Du brennst sicher darauf zu erfahren, ob es ähnliche Anzeichen wie bei den letzten Opfern gibt, nehme ich an«, lächelte der Mittfünfziger. Mit dem abgestumpften, gleichgültigen Blick eines Menschen, der ständig Umgang mit dem Tod hatte, betrachtete er die Leiche zu seinen Füßen.

»Du vermutest richtig«, brummte McGinnis und nickte. »Kannst du mir denn schon was sagen?« Er deutete auf den Toten. »Sieht doch auf den ersten Blick verdammt ähnlich aus«, meinte er, während er sich mit einer Hand durch die wenigen Haare fuhr und sich nachdenklich am Kopf kratzte.

»Stimmt, so sieht es aus«, erwiderte Lestrade gedehnt, der sich nur ungern direkt festnageln ließ, »zumindest tut es das, auf den ersten Blick, wie du selbst gesagt hast.«

»Dann dürften wir hier das dritte Mordopfer haben«, meinte McGinnis dumpf. »Also ein Serienkiller!«

»Netter Versuch, Cyril, aber ich werde mich diesbezüglich noch nicht festlegen. Ich sagte: Stimmt, so sieht es aus, zumindest tut es das, auf den ersten Blick«, schmunzelte der Mediziner, gespielt vorwurfsvoll, und sich selbst zitierend. »Wie immer bedarf es noch einer eingehenden Untersuchung, um sicher zu sein, dass der Mann auch tatsächlich auf die gleiche Art und Weise ums Leben gekommen ist, wie Eltringham und Asbury.«

McGinnis zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Manteltasche und quälte sich in die, für ihn immer noch zu kleine XXL-Version hinein. Lestrade betrachtete sein Tun mit einem spöttischen Lächeln, und McGinnis honorierte es mit einem strafenden Blick.

»Kein Wort!« fügte er drohend, aber nicht ernst gemeint hinzu. Dabei verzog er genervt das Gesicht. »Ich will nix hören!«

Kaum hatte es geschafft, seine mächtigen Pranken in die zu engen Gummihandschuhe zu bekommen, ging er neben dem Toten auch schon in die Hocke und deutete auf dessen Augen.

»Petechiale Einblutungen, wie ich sehe«, kommentierte er fachmännisch. Er sah zu Lestrade auf. »Hast Du mal einen Holzspatel für mich?«

»Sicher«, griente der Arzt und reichte ihm einen aus seinem Koffer.

McGinnis öffnete den Mund des Toten und besah sich gründlich dessen Zunge.

»Wie ich es mir dachte. Hier sind auch Einblutungen zu finden«, murmelte er zufrieden vor sich hin. »Dann finden sich auch welche in den Ohren«, dozierte er halblaut weiter, betrachtete einen Augenblick eingehend das Gesicht des Toten und drehte anschließend dessen Kopf leicht zu beiden Seiten. »Dazu die Zyanose der Gesichtshaut, Stauung und Dunsung der Gesichtsweichteile, eine Speichelabrinnspur, und hier ...«, er deutete auf den Hals des Mannes, »deutlich sichtbare Strangulationsmarken.«

»Das ist alles richtig, Cyril! Ausgezeichnet!«, lobte der Pathologe lächelnd. »An dir ist ein Mediziner verloren gegangen. Wenn du mal keine Lust mehr hast, bösen Jungs … oder auch Geistern hinterher zu jagen … in meinen Katakomben bist du herzlich willkommen.« Dann wurde er wieder ernst. »Hast du dir, abgesehen von den eindeutigen Symptomen, auch mal sein Gesicht genauer angesehen?« Seine Stimme klang jetzt leicht distanziert. »Der Mann hat einen völlig verzerrten Gesichtsausdruck, … fast schon, wie bei einem Geisteskranken.«

»Ist mir auch schon aufgefallen, Gordon. Erinnert stark an Eltringham und Asbury«, erwiderte McGinnis zustimmend, während er die Leiche wieder sorgsam abdeckte. Er stand auf, mehr gab es momentan nicht zu begutachten.

 

»Aber, wie ich schon sagte, Genaues gibt es erst nach der Obduktion.« Lestrade zog sich die Latexhandschuhe von den Händen und steckte sie in einen kleinen Plastikbeutel. »Sobald ich fertig bin, lasse euch meinen Autopsiebericht zukommen. Allerdings kann ich nicht versprechen, ob ich es heute noch schaffe. Auf mich warten zuvor noch zwei andere Kunden. Ich würde sagen, … spätestens Morgen.«

»Was ist mit Hancock?«, erkundigte sich McGinnis, der nur ungern bis zum nächsten Tag warten wollte. »Kann er dir nicht zur Hand gehen?«

Lestrade schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nee, der ist gar nicht da. Curt wurde vom Personalbüro genötigt, endlich seinen noch offenen Resturlaub vom letzten Jahr anzutreten.« Der Pathologe packte seine Tasche zusammen. »Du weißt es doch selbst, wir sind chronisch unterbesetzt, laufend wird gespart, vor allem am Personal, Überstunden und Urlaub sammeln sich an. Ich tue mein Möglichstes, Cyril, versprochen! Wenn Du möchtest, darfst du mir aber gerne dabei behilflich sein!«

»Danke, ich kann mich beherrschen!«, bemerkte McGinnis trocken und zog beim Gedanken an die Gerüche, die an Lestrades Arbeitsplatz vorherrschten, angewidert die Nase kraus. »Aber zumindest nervt dich deine Klientel nicht. Bei uns sieht das ja anders aus.«

»Na, was glaubst du, warum ich Pathologe geworden bin«, erwiderte Lestrade mit einem breiten Grinsen. »Ist doch ein tolles Fach. Stimmt, ich habe keine nörgelnden Patienten, keine jammernden Angehörigen und in der Regel auch keine nächtlichen Notfälle. Außerdem ist der permanente Geruch im Sektionsbereich auch nicht wirklich übel - zieht sogar in die Klamotten ein. Hätte ich eine Freundin, müsste ich Kliniker werden.« Ein warmes Lachen folgte. »Und mal so nebenbei, Cyril: Der Internist weiß alles, kann aber nichts. Der Chirurg kann alles, weiß aber nichts. Aber der Pathologe kann alles und weiß auch alles ... auch wenn es zu spät kommt.«

»Mit anderen Worten: Dir macht es richtiggehend Spaß, postmortal Klugscheißern zu dürfen!«, konstatierte Blake, dem es endlich gelungen war, die zahlreichen Journalisten hinter sich zu lassen und zu den beiden herüber zu kommen. Die letzten Worte Lestrades waren ihm nicht entgangen. Er schüttelte ihm zur Begrüßung die Hand.

»Hallo, Gordon! Sieht aus, als wärst du schon wieder auf dem Rückzug.« Kameradschaftlich stieß er dem Arzt gegen den Oberarm. »Das war ja eine kurze Vorstellung.«

»Na, was soll ich dir sagen … er läuft mir nicht mehr weg und die Lieferung erfolgt später frei Haus«, scherzte Lestrade auf den Toten deutend, fügte dann aber ernst hinzu: »Hier gibt es für mich nichts weiter zu tun, Isaac, und ehrlich gesagt, ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir. Der Bursche hält mich ganz schön auf Trab!« Damit spielte der brillante Pathologe auf den Mörder an, der, wenn er so weitermachte, einen neuen traurigen Rekord in der Kriminalstatistik des New Scotland Yard ausmachen würde. »Wir sehen uns später im Yard!« Er hob die Hand, winkte kurz und eilte mit seinem Arztkoffer davon.

Blake wandte sich an seinen Partner und Kollegen. »Und?« Fragend hob er dabei eine Augenbraue, fischte gleichzeitig eine Zigarette aus dem Päckchen in seiner Hemdtasche und schob sie sich zwischen die Lippen. »Wie sieht es aus?«, fragte er, während er sein Feuerzeug hervorholte und sich seinen Glimmstängel ansteckte.

»Gordon meint, dass wir den ausführlichen Befund spätestens Morgen auf dem Tisch haben. Vorab fand er nur den seltsamen Gesichtsausdruck der Leiche ungewöhnlich … Ich muss ihm recht geben. Kannst ja mal selbst einen Blick auf den Mann werfen.«

»Tote schauen drein, wie Tote nun einmal dreinschauen«, bemerkte Blake lakonisch, beugte sich dann aber doch leicht zur Leiche hinunter und hob das Tuch ein wenig an. »Stimmt, eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden«, bestätigte er, legte das Tuch wieder ab und trat einen Schritt zurück. »Ich glaube, da kommt was Größeres auf uns zu«, sinnierte er laut, und McGinnis wusste, dass er damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

»Irgendwie werde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass wir ungewöhnliche Fälle anziehen, wie das Aas die Schmeißfliegen«, knurrte er missmutig.

Weder er noch McGinnis ahnten, wie nah er damit der Wahrheit kommen sollte. Ein weiterer außergewöhnlicher Fall hatte begonnen, einer, bei dem nicht auszuschließen war, dass sie vielleicht wieder einmal ihr Leben aufs Spiel setzen mussten …