Buch lesen: «Die Ehre der Stedingerin»
Eike Stern
Die Ehre der Stedingerin
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Impressum neobooks
1. Kapitel
Ein Trupp von neun Reitern sprengte durch die Waldlaube am Brookdeicher Holz. Sie kamen von Burg Lechtenberg und es trieb sie zum Markt zu Berne. Ein leises Klirren begleitete sie, das Stampfen ihrer schweren Rösser ließ die Vögel in dem Bruchwald aus Weiden, Erlen und Birken verstummen.
Der Anführer trug ein blutrot auf die Knie fallendes Seidengewand und einen rostroten Mantel mit einem Kragen aus Bärenfell, der seine mächtigen Schultern unterstrich; dazu Handschuhe mit eisernen Schuppen. Eine Kettenhaube engte das rotwangige Gesicht ein und hob das starke Kinn mit dem grauweißen Vollbart hervor. Wer von hier stammte, hätte an den kalten blauen Augen Graf Moritz von Oldenburg erkannt. Ihm zur Seite ritten der barhäuptige Vogt in einem langen Kettenhemd und ein schwarzlockiger junger Herold mit einem goldbestickten, rötlichen Barett. Sechs Reisige in gelbrotem Wappenrock und Eisenkappe folgten, lange Lanzen in der Faust - in den Steigbügel gestellt wie zu einer Parade. Sie redeten wenig miteinander, bis sie aus der Waldlaube hervorbrachen.
Wo ein Feldweg abzweigte, breitete sich eine Wiese aus, goldgelbe Kornfelder wogten im Wind. „Der Roggen ist reif für die Sense“, bemerkte der Vogt und zog irritiert den Zügel an. Sein Pferd warf unwillig die Mähne zurück. Er stand auf einmal aufrecht im Steigbügel, als müsse er genauer hinsehen. Ein Gefühl beschlich ihn, sein Lehnsherr könnte hinter seinem Rücken Dinge veranlasst haben, von denen er bislang nicht in Kenntnis gesetzt wurde.
Da auch Graf Moritz sein Pferd zum Stehen brachte und verständnislos die Stirn runzelte, machte er sich Luft. Ärgerlich entfuhr ihm, „es ist schwül. Morgen oder übermorgen gibt es ein Gewitter. Auf was warten die Bauern? In drei Tagen ist Erntedank. Die Zeit drängt, die Ernte einzuholen. Wer jetzt zaudert, dem bleibt die Scheune dieses Jahr leer.“
Der Graf von Oldenburg war ein Willensmensch. Ungern hielt er sich mit Nebensächlichkeiten auf oder mit kleinlichen Empfindsamkeiten. Unterwürfige Menschen und Leisetreter verabscheute er. Eine mühsam unterdrückte Erregung war ihm anzumerken. „Unter uns gesagt: Dem schob ich einen Riegel vor. Die Knechte sind anderswo beschäftigt.“
„Ihr sprecht in Rätseln“, versetzte Konrad, der blutjunge Vogt von Burg Lechtenberg. „Heißt das, Ihr habt sie von der Feldarbeit abgezogen?“
Konrad war immerhin sein Neffe, ein Schützling, der sich nie beschwerte in den zwei Jahren, die er ihm schon gute Dienste leistete. Allerdings forderte er ihn bisher auch nicht besonders. „Das heißt“, entgegnete der Graf breit grinsend, „einigen Großbauern fehlen die Knechte. Ich teilte sie gestern für die Rodung des Hemmelskamper Waldes ein.“
Konrad stutzte. „Da habt Ihr mich übergangen… und wozu Holz schlagen? Doch wohl kaum für den Burgkamin.“
„Damit die Knechte bei der Ernte fehlen, und der Bau einer neuen Burg steht an. Mir wurde vom Erzbischof aufgetragen, aus dem Stedinger Land Erträge zu ziehen, und wir brauchen jetzt Holz. Im Osten des Hemmelskamper Waldes gibt es beachtliche Eichen.“
Konrad holte tief Atem und klopfte leidlich lächelnd dem Pferd den Hals, um es zu beruhigen. Seit der Graf mit Hofstaat und Falkner in der Burg eintraf, fühlte er sich in den Schatten gestellt, klein, unbedeutend und austauschbar. Der Graf gab den Ton an, und er hatte diesen selbstherrlichen Menschen beständig um sich, dem zu jeder Sache ein gutgemeinter Ratschlag einfiel. Wie die meisten von Kind auf verwöhnten Vertreter seines Standes bestimmte er einfach und war gewohnt, alle folgten, wenn er pfiff.
„Der Bardenflether Deichgraf wird sich das kaum bieten lassen“, hielt ihm Konrad vor. „Stedingen ist nach dem Holler Recht von jeder Fron befreit, und er ist ein Starrkopf und Neunmalklug.“
Es klang gekränkt, aber der Graf gab sich unnahbar. „Er wird es schlucken. Seit dem Sturz Heinrich des Löwen ist der Erzbischof von Bremen unser Landherr, mir wurde der Raum um Berne als Lehen zugesprochen. Es kostete mich viel Geduld, Hartwich zu überreden, mir die Vogteirechte für den Süden Stedingens zu überlassen. Und den Bauern Frondienst aufzudrücken ist Aufgabe des von mir eingesetzten Vogtes. Den aber bestimme ich, solange ich das will.“
Konrad bewies genügend Feingefühl, an diesem Punkt auf seinen Ton zu achten und seinen Gönner nicht zu erzürnen. Trotzdem kannte er die Verhältnisse in Stedingen zu gut, es stumm zu schlucken. „Wir schneiden uns ins eigene Fleisch. Verhagelt die Ernte, wird der Bauer keine Steuern entrichten.“
Der selbstbewusste Widerspruch imponierte Graf Moritz. „Ich schulde Euch wohl eine Erklärung. Nun gut. Ich habe eine mündliche Vereinbarung mit dem Prior vom Kloster Rastede. Es hapert an Ackerflächen im Raum Bremen, und hier gibt es genug. Bauernlegen nennt man das. Das Kloster Rastede fördert das. Es geht darum, im richtigen Moment die Knechte zum Frondienst zu rufen. Der Erzbischof erteilte mir Macht und Befugnis dazu. Die Forderung nach Ernteabgaben zu erneuern, bedeutet lediglich den ersten Schritt. Wir opfern zwar eine Jahresernte dem Gewitter, doch die Bauern sind dadurch gezwungen, einen Großteil ihrer Ackerfläche aufzugeben. Und den Preis dafür wird das Kloster Rastede bestimmen.“
Konrad nickte einsichtig. „Ah ja, ich beginne zu begreifen. Und in wie weit lohnt sich das für Euch?“
„Jedes dritte Gut fällt an mich. Wir sprechen uns ab, wer wofür bietet. Und für die unter den Hammer fallenden Ländereien bin ich selbst der Landherr. Im Übrigen ist ein Bauer, der den Acker auf Zeit pachtet, umgänglicher als einer, der seine eigene Scholle bestellt.“
Nach der Holzbrücke über die Hunte war es noch ein kurzer Ritt. Über den Deich an der Olle gelangten sie in den inselartigen Bereich der Warft, auf der Berne lag, umfriedet von angespitzten Palisaden, eine Ortschaft mit reetgedeckten Fachwerkhäusern und einer ansehnlichen Steinkirche. Am Rande des freien Platzes, wo lebhaftes Markttreiben herrschte und sich seit kurzem ein Rathaus aus Backsteinmauerwerk erhob, saßen sie ab von ihren Pferden. Graf Moritz stemmte die Arme in die Hüften, als ob er mehr Aufmerksamkeit erwartet hätte und spähte zu dem Steingiebel mit dem Wetterhahn hinauf. Sein Herold erstieg die Sandsteinstufen des Portals, um sich zu räuspern und vernehmbar eine Bulle zu verlesen. „Wohl sieben Jahre habt ihr keinerlei Abgaben mehr entrichtet. Ihr gehört seit drei Jahren zum Lehen der Grafen von Oldenburg“, verkündete der Herold und zwinkerte dem Grafen vertraut zu. „Jeder, der im Grundbuch des Rathauses zu Berne erfasst ist, wird hiermit aufgefordert den Zehnten zu entrichten… Das gilt ebenso für die Habenichtse, die hinten im Buch stehen“, ging es weiter.
„Euer aller Lehnsherr, Graf Moritz von Oldenburg, teilt euch ferner mit: Dank dem Schutz der jüngst errichteten Burgen Lechtenberg und Liene ist heute das gesamte Land zwischen Weser, Hunte und der Olle trockengelegt.“
„Reisige kosten Geld“, gab Graf Moritz seinem Ausrufer zu verstehen. Der wiederholte es laut und vernehmlich: „Sie schützen euch, ihr habt dafür den Preis zu bezahlen.“
Alle den Markt bevölkernden Bürger fühlten sich angesprochen, immer mehr blieben bei dem Spektakel stehen und hörten ungläubig zu. Jeder wusste, Graf Gerbert von Versfleth starb ohne männlichen Erben; nach seinem Tod kümmerte sich niemand mehr um die Eintreibung des Zehnten, und man hatte sich daran gewöhnt. Es ging ja auch ohne die Edlen. Eine Stimme aus dem Volk rief empört: „Herrgottsakra! Was furzt dieser Puderarsch da herum von Sümpfe trockenlegen? Entwässert haben wir die Marschen, indem wir Kanäle aushoben.“
Vielfaches Raunen unterstützte ihn. Der zornige Ruf: „Schelmenpack!“ brachte die Stimmung zum Überlaufen. „Und zuvor“, meldete sich der Erste erneut, diesmal laut und vernehmlich, „haben wir die Binsenwiesen auf der Brookseite, die heute Weideland sind, mit dem Spaten dem Moor abgerungen. Im Sommer arbeiten wir am Torfstich, dass uns der Schweiß aus den Holzpantinen spritzt… um im Winter unsere Stube heizen zu können. Was haben Eure Zwingburgen damit zu tun, frage ich mich.“
Ein stattlicher Mann, eine abgewetzte Lederschürze vor dem Bauch, trat aus der Menschenmenge vor und blickte dem Grafen kühn ins Gesicht. „Das Holler Recht sicherte unseren Vätern zu, für das Anlegen eines Deiches sind wir für sieben Jahre vom Zehnten entbunden, und der Deich, angelegt für das Abschneiden der Olle vom Weserlauf, wurde aufgeschüttet im Jahr 1200.“
Noch jemand zog die Blicke auf sich: Ein dürrer Mann mit einem hageren Gesicht und ernstem Mund schlug dem Schmied begeistert auf die breite Schulter. „Gut getroffen, Lüder.“
Zu ihm gesellten sich vier seiner Freunde und beklatschten die ehrlichen Worte. Dem Grafen von Oldenburg trieb es das Blut in die Wangen. „Wer bist du - leichtfertig als Fürsprecher deinen Hals zu riskieren?“
„Der Zunftmeister der Steinmetze… Arnold van Veen.“
„Das ist alles Rechtens“, bestätigte Graf Moritz mit heiser klingender Stimme. „Vor sieben Jahren erlosch die Linie der Versflether Grafen, und so lange durftet ihr ohne jede Abgabe euer Vieh mästen.“
Er rieb sich beeindruckt das weiß behaarte Doppelkinn und zog die Brauen zusammen. Über dem Rathaustor war das Wappen der Stedinger in einen Steinquader eingemeißelt. Zwei Figuren aus Stein bewachten das Portal, aber keine Löwen, sondern geflügelte Pranken mit Löwenkopf. Das verriet mehr Kunstverständnis, als er einem Mann dieses Standes zutraute. „Ist das dein Werk?“ Er bedachte den tüchtigen Steinmetz mit einem lobenden Blick. „Ich könnte einen wie dich für den Bau der Burg gebrauchen.“
Arnold van Veen wirkte leicht verlegen, aber er ließ sich auf nichts ein. Graf Moritz mochte das ärgern, auch das brachte ihn nicht aus der Ruhe. „Was sich hier entwickelt hat, zeugt nicht von Armut“, bemerkte er, um das letzte Wort zu behalten, und sein Herold las weiter aus der Bulle: „Dies gilt ab heute für alle unter euch, die bei der Besiedelung einen Wiesenstreifen von 48 Hektar an Ackerland zugeteilt erhielten. Das entspricht nach Hollerrecht einer Hufe: Die Pacht beträgt pro Kopf und Jahr einen Silberpfennig, fällig am Martinstag. Außerdem muss jedes zehnte Schaf alljährlich dem Vogt ausgeliefert werden, ebenso jedes zehnte Tier an Ziegen, Schweinen und Gänsen und jeder zehnte Teil an Honig und Flachs, sowie jeder elfte Scheffel an Hafer, Gerste, Roggen oder Bohnen. Für jedes Füllen, das bis zum Martinstag aufgezogen ist, bezahlt ihr in Zukunft einen Silberpfennig. Kälber sind mit einem halben Pfennig zu versteuern. Das wurde so geregelt, als die ersten Siedler aus Utrecht und Groningen kamen und gilt für ihre Kinder und Kindeskinder. Ferner entging uns nicht: Dort, wo ihr alle Sommer euren Torf abgebaut habt, erstrecken sich heute Fettweiden, auf denen ihr Kühe haltet. Die Abgabe ist überfällig. Für Kühe gilt, heute noch ist auf zehn Tiere eines dem Grafen zu überbringen. Ihr seid verpflichtet, das Viehzeug eigenhändig nach Burg Lechtenberg zu treiben, und zwar bis Sonnenuntergang. Bei Nichtbefolgen droht die Tötung des gesamten Viehbestandes, ebenso der Schweine und des Federviehs. Gebt dem Grafen, was ihm vor Gott gebührt… sonst Gnade euch Gott!“
Der Herold mit der gelbroten Burg auf dem scharlachroten Wappenrock zog einen zierlichen Schusterhammer aus der Gürteltasche und schlug selbstgefällig die Proklamation an das Rathaustor aus Eichenholz. Beklommenes Schweigen trat ein, der Graf und sein Gefolge bestiegen die Pferde und trabten davon, um in Elsfleth ähnlich zu verfahren.
Lüder, der Schmied mit dem immer leicht traurigen Ausdruck um den Mund, ballte eine Faust, während sie über die Brücke der Warft verschwanden. „Das hat gerade gefehlt“, bemerkte er zerknirscht. Seine Augen begegneten dem hohlwangigen Gesicht des Zunftmeisters. Der zog den Ratsherrenmantel um die Kragenrüschen zusammen, als würde ihn frösteln.
Der Schmied schüttelte grimmig den Kopf. „Bei Gott, ist das ein widerwärtiger Mensch! Sie wollen ihren Anteil an dem, was auf dem Feld steht und ziehen im letzten Moment dem Sibo die Knechte ab, damit er mit seiner Familie allein vor der Arbeit steht. Na, wir werden es ihm zeigen; soviel ich weiß, brach vor einer Stunde der Deichgraf und eine Gruppe Freiwilliger mit Sensen auf zum Aumundhof.“
Seine Worte sorgten für neuere Betroffenheit, obwohl er für die Sache warb, keine Frage. Ein kleines Mädchen in grobem Leinenkleid, das sich an ihn drückte, schaute zu ihm auf und zupfte an seiner Schürze. „Ich will auch helfen, Vater… und Ulrike auch, glaube ich.“
Die ältere Schwester war kurz bevor die Reiter kamen zum Waagehaus gelaufen, um bei den Bänken der Knochenhauer eine Grützwurst für den Mittagstisch zu besorgen. Lüders vorwitzige jüngste Tochter erhob sich auf die Zehen und überschaute ungeduldig die sich allmählich zerstreuende Menge. „Rike soll sich beeilen, Vater, ich will mit zum Aumundhof.“ Sie lächelte verschmitzt. „Ich kenne mich an den Huntewiesen nicht aus. An der Brücke wurde mir immer unheimlich, und ich bin umgekehrt.“
Der Schmied strich seiner Kleinen liebevoll über das zu Zöpfen geflochtene dunkle Haar und nickte. „Bist ein gutes Mädchen und denkst mit… wie Rike. Deine Mutter wäre stolz auf dich.“
Keine Minute verging, da erschien forschen Schritts die ältere Schwester und übergab ihm die Grützwurst. Ihre vergnügten Augen erstarrten angesichts der Stimmung am Platz. Ulrike war vor kurzem 16 geworden. Ihr abgetragenes Kleid entsprach dem einer Tochter aus armen Verhältnissen; was für sie nicht zählte. Bei der Geburt der heute fünfjährigen Timke starb ihre Mutter im Kindbett, und sie war seitdem die sorgende Seele in Lüders Heim und versuchte, den kleineren Geschwistern die Mutter zu ersetzen. Sie verzichtete auf manches, was anderen ihres Alters selbstverständlich erschien, weil es an ihr lag, ob das Geld zum Leben reichte. Ein melancholischer Zug um den Mund verriet, wie früh sie erwachsen werden musste; das Aufrichtige in ihren tiefen dunklen Augen konnte es ihr nicht nehmen, und sie trug das wie Mahagoni glänzende Haar bis auf ein paar wirre Locken über der Stirn im Nacken zu einem langen Zopf geflochten.
Ulrike begriff, um was es ging, nahm die kleine Schwester an die Hand und machte sich mit ihr auf den Weg über den Deich an der Olle. Mit ihrem Vater verband sie etwas sehr Tiefes. Manchmal nahm er sich nach dem Gottesdienst ein paar Stunden für sie, und sie hörte ihm gern zu, sprach er über ihre Mutter, die sie nie richtig kennenlernte. Dann saß sie auf dem Schemel der Schmiede und beobachtete ihn, während er geduldig einem Pferd zuredete, bis es ihm brav den Fuß hinhielt, damit er ihm ein neues Hufeisen setzen konnte. Die schönsten Erinnerungen blieben die Abende, die sie in seiner Gesellschaft am Herdfeuer verbrachte, wenn die kleinen Geschwister schliefen. Lüder vermochte wunderbar Geschichten zu erzählen. Es kam vor, dass sie darüber einschlief und er sie ins Bett tragen musste.
Den größten Teil der Strecke rannten Ulrike und Timke. Als sie die Binsenwiese an der Hunte erreichten, wo gelb das Hahnenklee blühte, betraten sie die Holzbrücke und hielten an, um nicht so außer Atem zu wirken bei den Aumunds. Unter ihnen rauschte der Fluss, und Ulrike fiel am abgewandten Ufer der Hunte ein Reiher auf, der auf seiner beschaulichen Jagd durchs Schilf stelzte. „So nahe am Ufer lässt sich selten ein Reiher blicken“, bemerkte sie und zeigte ihn Timke. „Im Bereich der Binsen findet er keine Frösche mehr.“
Timke hob den Kopf, als könne sie das in der Luft liegende Gewitter spüren, und Ulrike erinnerte sich: Vor Monaten versprach sie Birte Aumund in die Hand, sie demnächst zu besuchen. „Weißt, wir liefen uns einmal nach der Kirche über den Weg, und da war mir, als würden wir uns schon ewig kennen. Birte hat so eine Art sich zu bewegen und versteht es, sich blendend anzuziehen. Man kann sich mit ihr so ungezwungen unterhalten, und Vater sagt, ich brauche jemanden in meinem Alter, zu dem ich Vertrauen habe… zum Reden und so. Und eigentlich kann ich mir ja meine Freundin aussuchen... Aber sie sind schrecklich vornehm, die Aumunds.“
Auch Timke verfügte schon über einen regen Verstand und war auf ihre Art ein kleiner Naseweis. Des Öfteren verblüfften ihre Anmerkungen die Ältere. „Na jetzt hast du ja einen Grund, die Aumunds zu besuchen.“
„Ich verstehe mich selbst nicht, Timke. Ich mag Birte, die ist kein wenig hochnäsig. Sie soll mich bloß nicht für aufdringlich halten.“
Timke stutzte. „So ein Unfug. Der Deichgraf rief zur Nachbarhilfe auf... Wir sind sicher nicht die Einzigen, die bei der Ernte helfen wollen.“
Das Doppeldachhaus aus Fachwerk, in dem die Aumunds lebten, beeindruckte in seiner Größe. Die Scheune eingeschlossen fasste es eine parkähnliche Grünfläche ein, Blumenbeete verliefen längs der Fassade. Auf dem First mit den sich kreuzenden Pferdeköpfen stach ein Nest aus grobem Reisig ins Auge. Ein Storch stopfte mit ruckhaften Schnabelstößen die Hälse seiner gierenden Jungen. Niemals zuvor betrat Ulrike einen derart riesigen Hof, und so gepflegt. Nur an der Scheune erstreckte sich staubiger Lehm, ein vertrauter Anblick, nach Wochen ohne den geringsten Schauer. Die drei Türen und die Rahmen der kleinen Fenster unter dem überhängenden dicken Reetdach des Wohnhauses waren blau gestrichen, und ein Laden stand offen - im Sonnenlicht blinkte ein Glasfenster. Das konnten sich höchstens betuchte Gutsherren leisten. Am großen Doppeltor fehlte auch nicht die charakteristisch in das Fachwerk eingefügte Zeile aus Sandstein - mit dem Datum der Erbauung und einem Namen. Ulrike ärgerte sich, sie konnte nichts davon lesen, und als Timke an einer stattlichen Trauerweide vorbeikam, verstand sie nicht, was den Gang der großen Schwester hemmte. Über ein Dutzend Hühner trieben sich zwischen dem Misthaufen und dem hofeigenen Brunnen herum, und ein Mädchen in einem weißen Linnenkleid hockte daneben und fütterte das Federvieh.
Ulrike erkannte das blonde Mädchen an den schulterlangen, vollen Locken und zwinkerte der kleinen Schwester beruhigt zu. „Das ist Birte.“
Birte wirkte gesund und wohlgenährter als die meisten Mädchen, ohne deshalb dick zu sein und tat, was zu tun war mit einem feinen, sinnigen Lächeln. Grübchen und klare, kornblumenblaue Augen erfüllten ihr Gesicht mit nahezu engelhafter Milde. Eine bemerkenswert gerade gewachsene Nase machte sie zu einer der Schönheiten von Berne.
Die Freude, mit der Birte sie begrüßte, war echt, doch wirkte sie nicht halb so fröhlich wie bei ihrer letzten Begegnung. Ulrike weihte sie ein in die Forderung des Grafen, da zuckte es um ihre Mundwinkel. Birte nestelte verunsichert an ihrem Kleid. „Du lieber Gott, jetzt wird’s heikel. Der Vogt zog uns alle Knechte ab.“
„Ja weißt du denn nicht von der Nachbarhilfe?“, platzte Ulrike vergnügt heraus. „Halb Berne ist auf den Beinen, euch zur Hand zu gehen.“
Birte musterte sie scheel von oben bis unten. „Eine Sense zu schwingen, will gelernt sein und erfordert Männerarme. Uns fehlen Knechte, keine Mädchen.“ Ihre Augen schweiften über die verdunkelten Gehöfte am Deich. „Es ist ohnehin zu spät... Seit gestern Abend ziehen Wolken über die Weser. Das Wetter schlägt um.“
Über so viel Kleinmut erschrak Ulrike und schüttelte den Kopf dazu. „Du hast mich falsch verstanden. Sicher, Timke und ich wollen helfen. Aber doch nicht bloß wir beide! Der Deichgraf steckt dahinter. Alle wollen alb erneH helfen. Da gibst du doch nicht auf, oder? Der Deichgraf ist mit vierzehn Leuten aus Berne auf eurem Feld, euch bei der Ernte zu helfen.“
Birte schluckte und strich sich die Haare aus der Stirn „Die Schweine sind unruhig. Es riecht nach Gewitter.“
Während sie redeten, nahte ein Ochsengespann, auf dem vier Mägde des Gutes saßen. Der älteste Sohn des Hauses, nicht ganz 10 Jahre alt, führte die Zügel und lud die Mädchen ein, aufzusteigen. Er zog eines nach dem anderen hinauf, und man rückte auf der Ladefläche des Fuhrwerks dichter aneinander, um den Wettlauf mit der Zeit aufzunehmen. Hitzewellen flimmerten über den Roggenähren, und das morsende Gezirp der Grillen wurde übertönt vom Dengeln der Sensen. Die Linie der Männer rückte in schräger Formation Schritt um Schritt vor und hatte die halbe Ackerfläche schon in ein wüstes Stoppelfeld verwandelt. Die Mädchen trafen rechtzeitig ein, das gefällte Korn zu Garben zu schnüren und die zusammenzustellen. Über ihnen bewölkte es sich. Ein frischer Wind kündete schon den Wolkenbruch an, und der von der Stirn tropfende Schweiß brannte in den Augen. Einmal musste sie lachen, Birte stolperte in ein Mauseloch und warf ihre aneinander gelehnten Korngarben um. Aber Birte war nicht der Mensch, ihr das krumm zu nehmen, sondern lachte von Herzen mit. Ulrike half, den Schaden zu beheben, damit war es gut für sie. Überhaupt lachten sie viel und hatten viel Spaß, während sie mit anderen Mädchen Halme aufklaubten und Garben zusammenstellten, die gemeinsame Arbeit machte sie zu Freundinnen. Plötzlich zeigte Timke aufgeregt zum Feldweg. Sie hielten inne und gewahrten den schwankenden Erntewagen, der bereits den oberen Feldweg nach Berne erreichte, doch ein unheilvolles Grummeln schien alles zunichte zu machen. Ein greller Blitz zerriss die schwüle Witterung. „Zu spät“, stöhnte Birte und zählte laut bis fünf. Und ein Donner rollte über die Äcker und Wiesen an der Hunte. Ulrikes Augen streiften erschrocken himmelwärts, dann blickte sie Birte mitfühlend an - und eigentlich grundlos. Es war, als hätte die Hand Gottes eingegriffen. Der Fluss hielt das Gewitter auf; es wanderte nicht über die Weser. Der Wolkenbruch entlud sich über Osterstade. Bei ihnen fiel wie durch ein Wunder kein Tropfen. Sie hörten an der Front des Stoppelfeldes die Männer fluchend die Sensen ins Korn werfen und dann trotzdem in Jubel ausbrechen. Birte lachte, als hätte es Geld geregnet.
Alle, die halfen, fanden sich gegen Abend auf dem Hof der Aumunds ein. Ein halbes Dutzend längliche Tische und Sitzbänke in Form grober Bretter, nicht einmal gründlich von der Borke befreit, boten vor der Fachwerkfassade ausreichend Platz für eine Dankesfeier. Mancher brachte eine Schwester oder den kleinen Bruder mit, damit sich die ebenfalls den Bauch vollschlugen, niemanden störte, dass bei Ulrike neben Timke auch ihre andere Schwester Wibke saß. Weiße Decken verliehen der Tafel ein festliches Gewand, und in großen Töpfen stand Getreidegrütze bereit. Drei Mägde stellten flache Holzschalen mit grobkörnigen Hirsebroten und Semmeln ab, und man tischte eine Auswahl an Fisch auf, von Stör über Aal bis hin zum Hering. Dem Deichgrafen fiel es zu, den Abend formell mit ein paar starken Worten zu eröffnen. „Wen ich hier sitzen sehe, der darf sich, solange ich lebe, mein Freund nennen. Sibo Aumund sagte mir eben, die ganze Ernte ist in der Scheune! Und das wäre ohne euer Zutun undenkbar gewesen. Er dankt euch!“
Es entsprach seiner Art, Einsatz zu loben, und er förderte den Gemeinschaftssinn mehr, als die meisten jemals begriffen. Sibo Aumund fügte mit strahlender Miene hinzu: „Lasst es euch schmecken… meine Freunde!“
Ulrike verspürte Herzklopfen, bei Birte und ihr nahm der redegewandte Sohn des Deichgrafen Platz, den sie bisher nur von ferne zu Gesicht bekam. Manche der einfachen Leute stopften die Sachen in sich hinein wie die Kesselflicker, er ließ sich Zeit beim Schmausen. Während sich auf dem Grätenteller Häufchen bildeten, betrachtete Ulrike verunsichert ihre von Fett triefenden Hände und orientierte sich an Birte, die sich die Finger am Rock abwischte. Andere benutzten einfach das Tischtuch. Sie vermisste Bolkes Bruder Eike. Seit der Lüder in die Schmiede schneite und bat, ihm Angelhaken anzufertigen, schätzte sie ihn als Freund, begleitete ihn oft auf seinen Fischzügen und half ihm Heuschrecken zu fangen – als Köder. Gewöhnlich trafen sie sich in einer Laubhütte, und sie liebte diese gemeinsame Heimlichkeit und die Farbe, die Eike in ihr Leben brachte. Niemals zum Hof der Bardenfleths mitgenommen worden zu sein, betrübte sie nicht, bis sie kürzlich bei brütender Sommerhitze baden gingen, im warmen Wasser der Hunte. Hinterher klebte die Kleidung am Leib, sie lagen im Halbschatten einer Birke, und Eike ritt aus heiterem Himmel der Teufel. Ihm fiel ein, ihr den Rock hochzuschlagen. Sie zierte sich und stellte ihm in Aussicht, ihm alles gern zu geben, um den Preis, endlich seinem Vater vorgestellt zu werden. Daran zerbrach die Beziehung. Im Grunde war es eine lässliche Sünde. Sie verbrannten sich aneinander und wussten beide nicht recht damit umzugehen. Er blieb der Sohn eines Ministeralen, wie man es drehte. Ulrike ärgerte bloß, wie wenig er zu ihr stand. Eike war trotzdem in Ordnung. Lediglich Bolke gab sich so anders, unnahbar und erhaben wie ein Aristokrat. Unterdessen verteilte eine gutbeleibte Magd Steingutkrüge. Hausgebrautes Bier wurde ausgeschenkt. Die Bäuerin schöpfte mit einer Zinnkanne aus dem Fass, bald löste das Gebräu auch die verklemmten Zungen und witzige Trinksprüche der Männer riefen schallendes Gelächter hervor, während sich der Deichgraf in Richtung der Ställe absetzte, um bei Einbruch der Dämmerung in Berne zu sein. Es hielt den Sohn des Deichgrafen nicht ab, sich weiterhin als Hahn im Stall zu fühlen. „Sechzehn Leute aus Berne trugen zu diesem glücklichen Ende bei“, warf er den Mädchen aufmunternd zu. „Ein Zusammenhalt, auf den mein Vater stolz sein darf.“
Birte strahlte ihn mit rosa Wangen an. Ulrike gefiel Bolkes klare, tiefe und zugleich sanfte Stimme. „Dein Vater verfügt über eine Gabe, die wenigen eigen ist.“
Sie betrachtete den bartlosen jungen Mann mit dem kinnlangen Pagenschopf und dem sinnlichen Mund genauer. Offensichtlich warf er ein Auge auf Birte Aumund. In Dingen, die jeden angingen, kannte er sich außerordentlich gut aus und führte gern das erste Wort. „Weilt der Graf von Oldenburg in der Lechterburg, so bestimmt nicht grundlos“, stellte er fest. „Der wird auf seinen Vogt einwirken, hart durchzugreifen, der will Erträge aus dem Lehen ziehen. Unser Erzbischof ist krank, erzählen sich die Leute in Bremen… er leidet an andauerndem Geldmangel.“
„Oh“, seufzte Birte und strich sich über die Stirn, unschlüssig, was sie geistreiches erwidern sollte. Für solche Dinge fehlte Ulrikes neuer Freundin jedes Interesse. Oder es ging Birte wie ihr, sie fand schließlich auch keine Worte. „Ich bin übrigens Lüders Tochter“, brachte sie verlegenen lächelnd vor. „Und ich wüsste zu gern, um was er sich mit dem Grafen gestritten hat, heute Morgen.“
„Ah ja“, raunte Bolke und nickte verstehend. „Du hast einen mutigen Vater, Mädchen. „Er machte sich zum Sprachrohr aller und erinnerte den Grafen, durch das Aufwerfen des Deiches an der Olle wären wir nach Holler Recht für 7 Jahre vom Zehnten befreit.“
Ulrike spürte plötzlich ihren Herzschlag, so erschrak sie.
„Nun mach‘ dir mal keine Sorgen“, beruhigte Bolke sie. „Moritz von Oldenburg gehen andere Dinge im Kopf herum. Das hat der längst vergessen. Außerdem stimmt, was Lüder gesagt hat. Dafür kann man ihn schwerlich belangen.“
Sie äugte ihn ungläubig an. So leicht wollte sie sich nicht von ihren Ängsten lösen. Dann blinzelte sie einlenkend. „Man merkt, Bolke, dein Vater ist unser Deichgraf. Du weißt es ganz genau.“
„Nun ja, sagen wir, ich bekomme einiges mit. Damals beschlossen die Gemeinden der Brookseite und der Lechterseite, die drei Mündungsarme der Olle durchzudämmen. An den Mündungen wurden drei dicht beieinanderliegende Siele angelegt. Das machte die alten Deichabschnitte beidseitig der Olle zu Schlafdeichen und bedeutete eine erhebliche Verbesserung des Küstenschutzes, eigentlich genial. Wisst ihr, die Hunte verfügt in Sturmnächten über ungeheure Stoßkraft. Eine Sturmnacht überschwemmte gewöhnlich für Wochen das Hinterland. Früher mussten die Deiche durchstochen werden, sonst wäre das Wasser kaum abgelaufen.“ Er nickte bekräftigend. „Deswegen heißt die neue Ortschaft bei Bettingbühren Dreisielen.“
Ein verwundertes Lächeln spielte um Birte Lippen nach dieser erschöpfenden Auskunft, aber Ulrike reizte die Gelegenheit, sich in einer zuhause oft unter den Tisch gekehrten Angelegenheit schlau zu machen. Leise bemerkte sie: „Alle reden oft und gern vom Holler Recht. Was ist damit eigentlich gemeint? Mein Vater hat versucht, es mir zu erklären, aber ich glaube, der weiß es auch nicht richtig.“
Schmunzelnd erwiderte Bolke, „die erste Welle Einwanderer stammte aus Holland. Der damalige Erzbischof, ich weiß seinen Namen nicht mehr, holte sie wegen ihrer Erfahrung im Deichbau. Ihnen folgten Friesen, Flamen und Westfalen, aber für alle galt die Kolonisationsurkunde von 1106, und die steht für das Holler Recht. “
„Und…“, warf ihm Ulrike in fragendem Tonfall zu. „Stimmt es? Waren die ersten Siedler zeitlebens vom Zehnten befreit? Mein Vater lässt sich nicht beirren, es sei ein verbrieftes Recht. Man sollte darauf bestehen.“
Er strich sich amüsiert die Haare von der Wange und nickte anerkennend. „Na du weißt Fragen zu stellen. Alle Achtung. Aber egal, was unseren Vorvätern früher zugesichert wurde… das betraf sie, nicht ihre Kindeskinder.“