Tingeln durch das Land Danach – Band 1

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Tingeln durch das Land Danach – Band 1
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Inhalt

Impressum 2

Gliederung 3

Prolog 4

Teil I - In der Baracke 12

1 - Die Umsetzung 13

2 - Neue Spiele, neue Freunde 27

3 - Der Alte und sein Sohn 58

4 - Vater, Mutter, ich 115

5 - Wandertag in Kinderland 157

6 - Mein Ort: das Fenster am Fluss 202

7 - An der Laternengrenze 222

8 - Die Feuerschaukel 230

9 - Naturgewalten 237

10 - Sommersonnentage 248

11 - Die Krähe 285

Teil II - Zwischen Ruinen 293

1 - Abschied und Ankunft 294

2 - Ausschulung und Einschulung 310

3 - Prügelerotik 339

4 - … sondern für das Leben lernen wir 350

5 - Knabenführer und Kriegserzähler 366

6 - Einer wird vom Band genommen 399

7 - Der letzte Tango 424

8 - Der Pauker 446

9 - Das Varanasi-Sonett 484

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-742-8

ISBN e-book: 978-3-99107-743-5

Lektorat: Mag. Eva Zahnt

Umschlagfoto: Olgers1, Anna Artamonova, Marsia16, Rostislav Glinsky | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Gliederung

Band 1

Teil I - In der Baracke

Teil II - Zwischen Ruinen

Band 2

Teil III - Auf dem Bau und in Fabriken

Teil IV - Spuren und Erbschaften

Prolog

8. Mai 1945: Nazi-Deutschland – das war das Land Davor – kapitulierte bedingungslos. Gut zwölf Jahre hatten gereicht, um den Super-GAU der westlichen Zivilisation herbeizuführen. Jetzt war er gestoppt und unter Kontrolle gebracht. Aus dem Land Davor wurde an jenem Tag mit einem Schlag das Land Danach. In diesem Land wuchs ich auf.

Am 8. Mai 1945 war zwar Nazi-Deutschland zusammengebrochen, aber die Menschen, die Nazi-Deutschland geschaffen, getragen und erlitten hatten, waren noch da. Sie lebten neben mir, waren um mich herum, sie erzogen mich, sie verpassten mir meine Bildung und gestalteten insgesamt mein Leben. Das waren die „Erwachsenen“, mit denen ich als Kind zu tun hatte, die „Alten“ im Land meiner Kindheit.

Einführung

(1) Anmerkungen zum Text

„Tingeln“, ein Wort aus meiner Kindersprache, hieß für mich Umherstreifen in Landschaft und Natur oder auch Stromern durch Gassen und Straßen, über Plätze und Märkte. „Tingeln“ empfand ich immer als leichte und beschwingte und doch auch sehr wache und aufmerksame Form der Weltwahrnehmung. Einstmals war es das Fahrend Volk, das durch die Lande tingelte.

Die „verstörte Zeit“: Millionen deutscher Männer waren im Krieg umgekommen, Millionen kamen körperlich und psychisch verkrüppelt zurück. Hunderttausende waren in den Bombennächten getötet oder beschädigt worden. Es gab kaum eine Familie im Land Danach ohne Verlust, Leid und Trauer. Dass all das um mich war, war mir früh bewusst.

Beim Aufschreiben meiner Erinnerungen stellte ich mir Deutschland in der Gewalt der Nazis als einen monströsen Monolithen vor: alle Menschen in Nazi-Deutschland waren in ihn eingeschmolzen, waren Gefangene ihrer Zeit – als Täter wie als Opfer. Alle waren umschlossen von der harten, kalten Masse aus Terror, Mord und Krieg.

Der Hammer der Alliierten zertrümmerte die Monstrosität und legte alle Figuren aus dem Land Davor frei. In den Nazi-Scherben und -Splittern der Vierziger, Fünfziger und Sechziger Jahre waren sie alle noch da – die Mörder und Zerstörer, die Opportunisten und „Märzgefallenen“, die vielen, die litten, die Apathischen … aber auch die, die sich innerlich widersetzt oder gar aktiv Widerstand geleistet hatten. Dass sie unerkannt neben mir lebten, auch das war mir früh bewusst.

***

Als ich die Muße fand zu schreiben, saß ich erst einmal vor dem leeren Blatt, das des ersten Satzes harrte. Ich wollte möglichst spontan und ungeplant in meine Erinnerungen eintauchen und „wartete“ auf die erste Eingebung, denn genau damit wollte ich beginnen.

Die erste Erinnerung, die mir kam, war meine Fahrt als fünfzehnjähriger Schüler zum Arbeitsamt Dortmund. Damit war zugleich der gesamte erste Erzählstrang vorgegeben: meine lange „Malocherzeit“ in den Bierfabriken und auf dem Bau in der ramponierten Kohlenpottstadt. („Auf dem Bau und in Fabriken“)

Auf die „Malocherzeit“ folgte der Erzählstrang mit den Erinnerungen an meine Schülerzeit im zertrümmerten Dortmund. („Zwischen Ruinen“)

Die Kernzeit meiner Kindheit ist ohne Zweifel die „Barackenzeit“. Hier stoße ich durch zu meinen Anfängen. Das war einerseits eine dunkle und schwere Zeit – und andererseits eine besonnte, lichte Epoche meiner Kindheit, die bis heute in mir nachglüht. („In der Baracke“)

In meiner Studienzeit im ramponierten West-Berlin folge ich den Spuren meiner Mutter und entschlüssele die leidvolle Geschichte meiner mütterlichen Familie („Spuren und Erbschaften“).

Durch alle Erzählstränge zieht sich ein Thema, das mich in der Zeit meines Aufwachsens immer begleitete: das Lebensrätsel meines Vaters, seine Geschichte, die er vor seinen Kindern geheim hielt. Ich entschlüsselte das Rätsel erst spät, in meinen Zwanzigern. Danach lag seine Geschichte eingekapselt in einer unterirdischen Kammer meines Bewusstseins, ich mochte sie über sehr lange Zeit nicht nach „oben“ holen.

Allerdings: ohne Kenntnis dieser zentralen Geschichte wären viele meiner Erzählungen unvollständig und unverständlich geblieben. Ganz am Ende meines langen Erinnerungsprotokolls traue ich mich dann doch noch, die Geschichte, die uns Kindern nie erzählt werden durfte, aus der Tabuzone meines Gedächtnisses zu befreien und dem Sauerstoff meines vollen Wachbewusstseins auszusetzen. Das aktivierte allerdings noch einmal das Entsetzen, den Schmerz und die Trauer, die ich empfand, als sie mir zum ersten Mal erzählt wurde. („Spuren und Erbschaften“).

Berlin, Sommer 2020

(2) Über Erinnerungen

Irgendwann, wenn sich das Wagenrad des Lebens schon ziemlich weit abgerollt hat und wieder seinem Ausgangspunkt zustrebt, von der anderen Seite gewissermaßen, beginnt für viele die Lust an der Erinnerung.

Die Geschichten unserer Kindheit mit ihren goldenen Sonnen und unverstandenen Schatten fangen an, sich selbst zu erzählen und drängen sich in unsere Träume und Tagträume. Was da alles in dem großen Topf der Erinnerungen gelandet ist, was wir immer mal wieder erzählt oder uns heimlich selbst zugewispert haben – manchmal gerne, manchmal auch mit einem untergründigen Schrecken – gewinnt an Bedeutung und Gewicht.

Unser Leben lang sind wir getrimmt worden, kausal zu denken, und so geschieht es uns im Alter, auch unser eigenes Leben als eine plausible, logische Kette von Ereignissen zu sehen. In unseren Erinnerungen und den daraus folgenden Deutungen der Gegenwart sind wir nur zu gerne – wie es scheint – Anhänger der alten indischen Karmalehre und sehen das Leben als Gewebe aus Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion, Tat und Vergeltung.

Den Geschichten der frühen Jahre messen wir dabei – so haben wir es gelernt – ganz besondere Bedeutung für das Spätere, für die Gegenwart bei, den Rang von Prägungen und Tätowierungen, von Schicksal, das unsere Muster webte und wirkte und uns schließlich so bewirkt hat, wie wir nun einmal geworden sind. Das Brot der frühen Jahre, die Nahrung, die man uns damals gab, gut oder schlecht, ärmlich oder reichlich, baute uns auf – so oder so –, ließ uns wachsen und werden, gab uns Gestalt und Geist. So haben wir es gelernt.

 

***

„Aufwachsen“ ist eine Zeit des schnellen Wandels und der großen Umbrüche. Das Leben bebt und schwankt immer wieder. Die Erwachsenenwelt schiebt sich über die Kindheit, die Zivilisation über die Wildnis, die Pflicht über den Traum. In solchen Wendezeiten entsteht Druck. Heikle, unsichere Lebenspassagen folgen aufeinander mit einer Fülle von Initiationen und Irritationen. Triumphe und Niederlagen, Freude und Scham folgen in stetem Wechsel.

Diese Umbruchphasen sind es, die ich jetzt klarer sehen möchte. Denn das waren Zeiten, in denen ich anfing, selber Entscheidungen für mein Leben zu treffen, grobe, unklare Ziele abzustecken und Wege zu gehen, die zu diesen Zielen führen sollten. Heute kann ich sagen: es waren Zeiten wichtiger „Alleingänge“, denn da war in den entscheidenden Momenten niemand, bei dem ich Rat einholte oder Hilfe suchte, mit dem ich über das, was ich tat und vorhatte, redete. Oft wollte ich das auch gar nicht. Zwar waren immer Menschen um mich herum, mit denen ich lebte und lachte, die ich liebte. Doch viele Entscheidungen traf ich allein, und auch die Wege, die ich dann einschlug, ging ich allein. Die Zeit meines Aufwachsens war wirr und kaputt und voller Widersprüche und ich wusste immer, dass ich mich letztlich allein durch all die Widrigkeiten auf meinen Wegen hindurchwursteln musste.

***

Wenn geotektonische Platten gegeneinander drücken, entsteht meist ein tiefer Bruchgraben. Auch psychotektonische Verschiebungen hinterlassen Spuren:

Irgendwo da unten, ganz tief unten, na sagen wir vielleicht vierhundertachtunddreißig Meter unter dem Meeresspiegel meines alltäglichen Bewusstseinszustandes, gibt es so einen Graben. Er führt in mein „Totes Meer“, das Meer, das keinen Abfluss hat.

Ich habe viele Schiffchen ausgesetzt auf die Wellen meines Jordans. Sie trugen all das, womit ich mich nicht beschäftigen konnte oder wollte damals – und was ich daher über eine lange Zeit liegen ließ, unberührt und „unbegrübelt“. Sie trugen Rätsel, die ich nicht gelöst hatte, sie trugen Bilder und Gefühle, die ich erst einmal loswerden wollte. Die Schiffchen sind abgedriftet, haben Fahrt aufgenommen und sind schließlich dort gelandet, wo sie nicht mehr weiter konnten – in meinem „Toten Meer“. Da dümpeln sie nun: mit Bildern, die ich „eigentlich“ nicht aufbewahren wollte, mit Geschichten, die ich „eigentlich“ hinter mir lassen wollte und auf die Reise ins Vergessen schickte. Damals, in der Ursituation, ließ ich die Schiffchen fahren und fühlte mich freier.

Sie waren aber nicht weg.

Sie kamen zurück und mit ihnen die Bilder von Menschen und ihren Geschichten. Manchmal kamen sie in meinen Träumen und oft in Tagträumereien. Sie kamen in Filmen, die in bestimmten Situationen des Lebens plötzlich nebenher liefen. Da gab es „Déjà-vus“, die sich wie ein feiner Firnis über Erlebnisse der Gegenwart legten. Schließlich entstand der Wunsch, hinunter zu steigen und die ganze Flottille genauer zu betrachten.

***

Allerdings: die Beschäftigung mit den eigenen Erinnerungen, den abgedrängten, ins „Tote Meer“ verschobenen, das Niederschreiben des „eigenen Lebens“ oder eines Teils davon, steht unter einem großen, unauslöschlichen Vorbehalt.

Die Situation, die einstmals war, existiert nicht mehr: sie ist nicht identisch mit der Situation, die erinnert wird. Ich kann sie nur unvollkommen rekonstruieren. Denn was ich heute tue, ist, eine Geschichte erzählen: fiction – faction. Das heißt aber: ich schaffe etwas Neues, etwas anderes.

Ich kann die Lebewesen, denen ich in vergangenen Bewusstseinsaugenblicken begegnete, nicht wieder lebendig machen. So wie sie damals waren, haben sie gelebt, so leben sie nicht mehr und so werden sie nie wieder leben.

Das Ich, das damals handelte, existiert nicht mehr: es ist nicht identisch mit dem Ich, das sich jetzt erinnert. Es ist nicht rekonstruierbar. Manch einer glaubt ja, er sei immer „derselbe“ geblieben, sich selbst immer gleich, sich selbst immer treu, immer das gleiche Ich. Das ist eine Illusion. Wenn ich heute von meinem fünfzehnjährigen „Ich“ erzähle, so ist das ein ferner Bursche, eine historische Gestalt. Nie kann ich ihn „ganz“ sehen, so wie er damals war. Ich erzähle von einem anderen.

Die Leiden und Schmerzen, die Freuden, Triumphe und Glücksgefühle, die in den Erinnerungen hochgespült werden, waren einmal wirklich, waren echt, sind es aber nicht mehr. Sie sind heute Phantomgefühle: Phantomschmerzen und Phantomfreuden. Sie hatten ihre Zeit und ihre Berechtigung und es besteht kein Grund, dass ich sie noch einmal so fühle wie einst. Das ist unmöglich und das ist auch gut so.

Alle Erinnerung reduziert das Gewesene. Die Lichter und Schatten, das Vogelgezwitscher und Hundegebell jenes Sommertages in meiner Kindheit, an dessen Morgen das furchtbare Ereignis geschah, sind „dahin“. Was bleibt, sind Worte. Das Ereignis selbst ist „dahin“. Was geblieben ist, sind Gefühle, die nicht zu löschen sind.

Was ich erinnere, kleide ich neu ein – und zwar immer und immer wieder neu und noch einmal neu. Meine heutigen Gedanken ummanteln die Erinnerungen – aber auch meine heutigen Gedanken haben keinen Bestand, sind flüchtig und wandelbar. Was ich erinnere – das ist mir klar –, unterfüttere ich mit dem, was ich später dazu hörte, las und lernte – aber ich höre, lese und lerne weiter. Neues kommt hinzu.

Ich vergleiche mit den Erlebnissen anderer, ich relativiere, verschlucke dies und gebe jenem einen edlen Glanz. Was ist „Schreiben“? Urteilen, bügeln und glätten, schleifen, schmirgeln und polieren …

***

So viele Fallstricke.

Was war denn nun wirklich? Was ist die Wahrheit? Die „historische“ Wahrheit? Ich weiß es nicht. Doch was soll’s? Die Erinnerungsschatten sind da, die Erinnerungen kommen hoch. Sie sind ein Bedürfnis, oft eine Sucht der gnadenlos alternden Alten. Sie sind Lust und Last zugleich. Sie werden zu Erzählungen, sie füllen Bücher, sie sind nie vollständig, sie sind nicht wahr und nicht falsch. Erzählungen von einem gelebten Leben: „Autobiografie“, ein literarisches Genre.

***

So sollten wir sie sehen und so können wir sie lieben, unsere Erinnerungen:

Als Romane und Traumgeschichten unseres „Selbst“, das immer in Bewegung ist, als Traumgeschichten der vielen, vielen Egos, die einander gebaren und wieder starben, bis hin zu dem Ich, das jetzt und hier an dieser Tastatur sitzt, an diesem Schreibgerät, und das nachher schon nicht mehr sein wird – und schon längst nicht mehr dann, wenn du das liest …

Alle Egos schwinden dahin – und was von ihnen bleibt, sind Döntjes von einer einstmals agierenden Gestalt … und noch einer und noch einer. Vertraute Geschöpfe und doch Phantasiegestalten aus bunter Knete, die ich aus dem Heute heraus knödle und forme.

Machte es nicht immer einen Heidenspaß mit bunter Knete zu spielen, damals, als wir Kinder waren – und wenn wir mal welche hatten in jenen knappen Zeiten? Formen und modellieren: eine hübsche oder hässliche Gestalt, eine komische Figur – groß oder klein, dick oder dünn, Mann oder Frau … Hatten sie nicht „Charakter“, unsere bunten Kneteknubbel?

Da liegen viele Knollen bunter Knete in meinem Topf. Ich kenne sie alle, sie sind mir vertraut und fremd. Vage Gestalten, verschwommene Physiognomien und doch alte Bekannte. Auf eines werde ich achten, wenn ich jetzt zugreife, sie modelliere und ziseliere mit der Wärme meines Intellekts und dem Bewusstsein des Heute: dass ich sie nicht verbiege und verforme und ihren ursprünglichen Ausdruck vernichte. Das nehme ich mir vor.

Ich grapsche hinein in den Topf. Ich nehme sie in die Hand, die alten Klumpen. Ich lüpfe sie Schicht um Schicht und stelle fest, dass es immer mehr werden, dass immer noch weitere auftauchen. Also muss ich wählen. Wie ich auswähle und was ich weglasse, ist selbst wieder eine Geschichte, die erzählt werden könnte …

So viele Wirren, so viele Fallstricke, so viele Vorbehalte. Sei’s drum. Schluss mit der Vorrede, Schluss mit den Skrupeln. Vorhang auf! Her mit euren Döntjes, ihr vielen Iche.

Berlin, Sommer 2013

Teil I

In der Baracke

1 Die Umsetzung

2 Neue Spiele, neue Freunde

3 Der Alte und sein Sohn

4 Vater, Mutter, ich

5 Wandertag in Kinderland

6 Mein Ort: das Fenster am Fluss

7 An der Laternengrenze

8 Die Feuerschaukel

9 Naturgewalten

10 Sommersonnentage

11 Die Krähe

1 Die Umsetzung

Kindheit hat zwei Dimensionen.

Dass man das Kind seiner Eltern ist und dass man Vater und Mutter und alles, was daran hängt, sein Lebtag mit sich trägt, ist die eine Seite des Kindseins. Jedes Kind trappelt allerdings auf zwei Beinen in die Welt hinaus, es ist auch Kind für sich. Das ist die andere Seite. Die zweite Dimension der Kindheit hat ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit, eine Phase des Lebens, die unweigerlich an ein Ende kommt.

Die vier „Barackenjahre“, die Zeitspanne zwischen meinem siebten und elften Lebensjahr, habe ich immer als die intensivste und wachste Zeit meiner Kindheit empfunden. Ich war bereits in einem Alter, in dem ich anfing, die Welt um mich herum auf eine neue Art wahrzunehmen – und zu deuten. Ich ging bereits in die Schule, neuartige Lernprozesse hatten begonnen und damit auch das Nachdenken über die Zustände und Ereignisse in der Welt um mich herum – das Grübeln über das, was geschah und was ich sah. Ich war aus dem Kleinkindalter heraus, ich war „reifer“ geworden. Das sind allerdings zivilisatorische Prozesse, die jedes normale Kind durchläuft.

Ich sah das Drama meiner Eltern, das Drama meiner Großeltern, ich erlebte ihre Katastrophen. Ich war hineingeboren in ihre Geschichte und die färbte meine Kindheit. Das war die Schattenseite jener Jahre.

Andererseits gab es die eigene Qualität meines ganz persönlichen Kinderlebens an jenem Ort und in jener Zeit: meine kindliche Eigenzeit. In ihr brannte ein Feuer, das mein Leben lang nicht erlöschte: Neugier und Abenteuer, das Gefühl von Autonomie jenseits der Erwachsenenwelt, das Erleben von Wildnis und Freiheit: das war die Sonnenseite.

Das Nest

All ihre Kinder brachte meine Mutter in einem warmen und freundlichen Milieu zur Welt: in der Kinder- und Säuglingsstation des Stadtkrankenhauses in Hameln, in der sie bis zu ihrer Hochzeit als „Stationsschwester“, also als Leiterin und Organisatorin des Pflegedienstes, gearbeitet hatte. „Schwester Nelly“, wie sie dort genannt wurde, gebar uns vier also in vertrauter, angenehmer Atmosphäre, unter Freundinnen und Freunden, denn sie war bei ihren Kolleginnen und Kollegen, den Schwestern, Pflegern und Ärzten des Krankenhauses, geschätzt und beliebt.

Drei ihrer Kinder waren „Kriegskinder“, 1941, 1943, 1944, ihr Jüngster wurde 1947 geboren. Vier Schwangerschaften in gut sechs Jahren – dazu ihr Adoptivsohn, Jahrgang 1939, den mein Vater aus seiner ersten Ehe, die nur sehr kurz gehalten hatte, in die Familie einbrachte. An all der vielen Haus- und Kinderarbeit, die auf meine Mutter zukam und mit jedem Kind anschwoll, beteiligte sich mein Vater nur sehr wenig. Dass der Vater sich als Vater „einbrachte“, das lag einerseits nicht im Geist der Zeit – Kinderkram war Frauenkram – und andererseits auch nicht in seinem Naturell. Wahrscheinlich erwartete meine Mutter das auch gar nicht von ihm. Sie war Arbeit gewöhnt und es gehörte zu ihren Maximen, dass man „sich nicht gehen lassen dürfe“ und dass man das, was einem aufgegeben war, zu bewältigen habe ohne zu schwanken. Und zur Not auch allein.

Sie war auf ihre Aufgabe als Mutter einer wachsenden Kinderschar allerdings auch bestens vorbereitet, sie war ja mehrere Jahre Säuglings- und Kinderschwester gewesen. Sie war auch ihrer Rolle als Hausfrau gewachsen: bevor sie ihre Ausbildung als Krankenschwester begann, absolvierte sie eine Hauswirtschaftslehre beim Gräfin-Rittberg-Verein in Berlin, wovon sie uns manchmal erzählte. Heilerin und Köchin, das war sie immer für mich, nachdem ich angefangen hatte, die Welt um mich herum zu erkunden und wahrzunehmen. Wenn ich als Kind krank wurde und mit Mumps, Scharlach oder Masern im Bett lag, wenn ich meine Kopfschmerzanfälle bekam oder wenn ich mich beim Spielen verletzt hatte, vertraute ich voll ihren Künsten und ihrer Pflege – und was sie uns kochte, aß ich mit Lust und Appetit.

 

Genau an jenem Ort, an dem sie ihre Kinder ins Leben brachte, in „ihrer“ Station im Stadtkrankenhaus, hatte sie sich in den hilflosen Mann verliebt, den sie aus seiner Paralyse zurück ins Leben geholt hat. Gelähmt, bewegungs- und sprachlos war er aus einem Wehrmachtslazarett ausgelagert und in ihre Station abgeschoben worden, nur noch ein Pflegefall, aussichtslos, nicht weiter therapierbar. Unter ihrer Obhut, ihrer resoluten und fordernden Pflege, fand er zurück aus seiner Dunkelheit. Sie verliebten sich ineinander und heirateten.

Als ihr erstes Kind geboren wurde – im Oktober 1941 – hatten die beiden vermutlich schon längst ihr Nest fertig eingerichtet. Meine Mutter hatte sich zu ihrer Hochzeit ihren Erbteil auszahlen lassen. Da gab es noch ein größeres Restvermögen aus dem Verkauf des Gutshofes ihrer Vorfahren, das an sie und ihre Geschwister ausgezahlt wurde, sobald sie heirateten. Meine Eltern fanden eine behagliche und komfortable Wohnung in der friedlichen Zentralstraße in der Hamelner Innenstadt und meine Mutter hinterlegte aus ihrem Erbe die happige Kaution, die damals vom Vermieter gefordert werden konnte. Wohnraum war knapp im Krieg und wurde knapper, als auch in Hameln die Bomben fielen. Die Hausbesitzer profitierten von der Situation und verlangten viel Geld als zinslose Darlehen, die erst beim Auszug aus der Wohnung zurückgezahlt werden mussten.

Ich stelle mir vor, wie die beiden – mit dem Geld aus meiner Mutters Erbe gut gepolstert – loszogen, um sich für ihr gemeinsames Leben einzurichten. Sie bezahlte alles: die Kücheneinrichtung mit dem großen elfenbeinfarbenen Küchenschrank, einem Klassiker der Zeit, der mich durch meine ganze Kindheit begleitet hat; Küchentisch und Küchenstühle; die Schlafzimmereinrichtung aus heller Eiche in einem angenehm schnörkellosen Stil; die Einrichtung des Kinderzimmers: Kinderbetten, Schrank, Kommode. Das Wohnzimmer wurde aus Erbstücken meines Vaters eingerichtet: schwarz gebeizte, von Hamelner Tischlermeistern hergestellte Eichenmöbel, ergänzt durch ein Ensemble aus zwei Sesseln und einem niedrigen „Rauchtisch“, das meine Mutter beisteuerte. Sie kaufte Vorhänge und Gardinen, Matratzen, Bettzeug, Überdecken, Geschirr und Besteck, Töpfe und Pfannen – alles, was ihr Nest, in das sie ihr neues Leben hinein träumte und das sie mit ihren Kindern füllte, behaglich und gemütlich machen sollte.

Meine Mutter gönnte sich gar einen kleinen Luxus, eine Reminiszenz – so vermute ich – an ihre frühe Kindheit auf dem Gutshof, an die prächtigen Feste, bei denen ihr geliebter Vater jene eindrucksvollen Tischreden hielt, an die sie sich ihr Leben lang erinnerte. Meine Mutter stattete einen kleinen Raum, der der Küche direkt gegenüber lag, als besonderes „Esszimmer“ aus. Ich erinnere mich an eine lange schwarze Anrichte, hochglänzender Schleiflack, in dem ich mich als Kind spiegeln konnte. Die Anrichte hatte abgerundete Ecken und wirkte sehr elegant. In ihr war das „feine“ Geschirr untergebracht: Erbstücke vom Gutshof ihrer frühen Kindheit. Da gab es einen großen Esstisch und sechs Stühle im gleichen Stil: schwarzer Glanzlack, einfach und schön im Design. Meine Mutter liebte das Klare: alles, was sie angeschafft hatte, war einfach, glatt und schnörkellos.

Ich liebte diese Wohnung meiner ersten Jahre. Ich fühlte mich sicher und geborgen, wenn unsere Mutter abends, wenn es dunkel wurde, in unserem Kinderzimmer saß, inmitten der vielen Kinderbetten, und uns unser Schlaflied vorsang. Sobald ich es vermochte, sang ich es mit ihr mit, jenes weltberühmte Lullaby, und als wir größer wurden und alleine einschlafen mussten, sang ich es mir und meinen Geschwistern selber laut vor. „Guten Abend, gute Nacht …“ Diese herrliche Melodie war mit Sicherheit die erste Musik, die mein Gehirn in seinen Musikspeicher aufnahm, der heute überquillt mit Musik aus der ganzen Welt …

Der Zauber der ersten Jahre, der Zauber des ersten Ortes, die Magie des Erwachens in die Welt: das war das von ihr geschaffene kleine Nest mitten in Hameln, ihr Traum vom gemeinsamen Glück.

Kleine, eigentlich banale Dinge sind es oft, die uns Urgeschichten erzählen. Da hing ein Vorhang vor dem großen Glasfenster zwischen Küche und Wintergarten, rohweiß, bedruckt mit tiefblauen Blättern, Farnen, Blüten und Schmetterlingen. Oft saß ich lange davor und träumte mich in ihn hinein. Ich sah schließlich nicht mehr nur die Ornamente, sondern auch die Zwischenräume zwischen den Ornamenten, auf die vermutlich kein Erwachsener achtete. Auch die weißen Zwischenräume erzählten mir ihre Geschichten: da gab es Drachen und Schlangen, Lemuren und Chimären, seltsame Wesen, die nur für mich über den Vorhang huschten und ihre phantastischen Spiele spielten …

Mein vierter Geburtstag

In dieser warmen, behaglichen Welt erlebte ich das eindrucksvollste Fest meiner frühen Jahre. Es wurde an meinem vierten Geburtstag gefeiert, im Januar 1947.

Den ganzen Nachmittag klingelte es an der Wohnungstür und da ich Geburtstag hatte, durfte ich hinrennen und die Tür aufmachen. Fast immer stand dort ein unbekannter Mann, etwa im Alter meines Vaters, der mich hochhob, hin und her schwenkte, mir zum Geburtstag gratulierte und mich herzte. Danach holte er irgendein kleines Geschenk aus den Taschen seines Wintermantels, das ich anfangs noch hocherfreut, später dann fast routinemäßig in Empfang nahm. Am Ende des langen Korridors stand mein Gabentisch. Ich rannte mit meiner Beute den Korridor entlang und lagerte alles ab, was ich bekommen hatte. Glücklich und stolz sah ich, wie der Gabenberg immer mehr anschwoll.

Die Erwachsenen waren fröhlich. Sie erzählten sich ihre Döntjes, sie lachten, schwelgten in Erinnerungen und manchmal gab es auch ernsthafte und traurige Momente, in denen lange geschwiegen wurde.

An jenem Tag erstrahlte auch unser schwarzes Esszimmer, das nur selten genutzt wurde, in festlichem Glanz. Auf der auf Hochglanz polierten Anrichte standen zur Feier des Tages die beiden silberbeschichteten dreiarmigen Porzellanleuchter, die mich durch mein ganzes Leben begleitet haben. Auch sie stammten von dem Gutshof, in den meine Mutter einst hineingeboren worden war. Die Kerzen brannten. Der große schwarze Esstisch war zur Kaffeetafel geworden. Hier hatte meine Mutter ihre Erbstücke aufgestellt: die große silberbeschichtete Porzellankaffeekanne, dazu die passenden silbernen Milchkännchen und Zuckerdosen, das alte Kaffeegeschirr, eine glänzend-weiße Damasttischdecke, dazu die passenden Damastservietten aus der noblen Zeit ihrer Kindheit.

Es gab den berühmten Hamelner „Zuckerkuchen“, einen Blechkuchen aus Hefeteig, beschichtet mit einer krossen Schicht aus Zucker und Butter. Ich liebte ihn, weil er so intensiv nach Hefe roch und weil die krosse Zuckerschicht so herrlich knirschte, wenn man hinein biss. Meine Oma hatte ihn hergestellt und zum Ausbacken ins Backhaus von Bäcker Habermann getragen, der die Zuckerkuchenbleche in seinen Ofen schob und den Backvorgang überwachte. So machten das damals die meisten Hamelner Hausfrauen: sie belegten ihre Kuchenbleche zuhause, Backofenwärme und Erfahrung im Ausbacken lieferte der Bäcker in seiner Backstube …

Jahre später erst habe ich herausgefunden, was da an meinem vierten Geburtstag im Januar 1947, knapp zwanzig Monate nach dem Kriegsende, eigentlich gefeiert worden war:

Mein vierter Geburtstag war ein Fest des Friedens und des Aufatmens nach den Schrecknissen des Nazi-Terrors und des Krieges, ein Fest des Wiedersehens, der Freude und Erleichterung, davongekommen zu sein. Aber auch ein Tag der Trauer um die Freunde meines Vaters, die „gefallen“ waren, wie man sagte – getötet im „Blitzkrieg“ gegen Frankreich …

Meinen vierten Geburtstag hatte mein Vater zum Anlass genommen, seine alten „Sportsfreunde“ (so nannte er sie meist) einzuladen. Anfang 1940, kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, wurde sein „Jahrgang“ eingezogen. Er und viele seiner Schul- und Sportkameraden wurden in die Hamelner Kaserne an der Süntelstraße beordert, wo sie für das Schlachten und Abgeschlachtetwerden auf den Schlachtfeldern des Frankreich-Feldzugs abgerichtet wurden. Vier seiner Freunde sind nicht wieder zurückgekommen, erzählte er mir später einmal, andere kamen verletzt und verkrüppelt zurück. Mein Vater war davongekommen.

Denn er selbst musste nie an die Front, er musste nie einen Schuss abgeben, er geriet nie in die Gefahr im Kampf getötet zu werden. Und er mochte nie erzählen, warum und wie er davongekommen war. Ich erinnere mich allerdings, dass er, als er einmal von seinen gefallenen Freunden erzählte, die Formulierung gebrauchte, er selbst habe nie „an die Front“ gemusst, er habe „Glück im Unglück“ gehabt. Darüber hinaus war nichts aus ihm herauszubekommen. Um ihn war ein Geheimnis, an dem wir Kinder nicht rühren durften. Was das für ein „Unglück“ war, das in jener Wehrmachtskaserne geschah, in der er nur ein paar Wochen zugebracht hatte, hat er nie erzählt.

***

Das also war mein erstes Nest: eine gemütliche und für die damalige Zeit recht komfortable Mietwohnung in einem braven, bürgerlichen Viertel in der Innenstadt von Hameln.

Hier wuchs ich heran und sechseinhalb Jahre fühlte ich mich wohl und geborgen in der warmen Welt, die unsere Mutter so schön und so praktisch für uns geschaffen hatte. Hier lernte ich laufen, sprechen und singen, von hier aus wurde ich flügge. Von hier aus purzelte ich in die Welt hinaus und die Eroberung und Erforschung der Straßen und Plätze um unser Nest wurden zum großen Abenteuer meiner frühen Kindheit. Kaum dass ich auf eigenen Beinen stehen und laufen gelernt hatte, wurde ich zum „Draußen-Kind“, zum typischen Straßenkind der Vierziger Jahre.