Tingeln durch das Land Danach – Band 1

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Schließlich geht der Russe zurück ins Treppenhaus. Als er zurückkommt, hält er in seinen Armen eine runde, glänzende, messingfarbene Dose, so groß wie ein kleiner Eimer. Er stellt sie mitten auf den Küchentisch, zwischen die Teller mit der fettlosen, wässrigen Mehlsuppe. Der GI und der Russe verabschieden sich. Die Schockstarre meiner Verwandten löst sich: nichts Schlimmes ist passiert, sie sind noch einmal davongekommen. Erleichtert begleiten sie die beiden Eindringlinge zurück ins dunkle Treppenhaus. Benommen stehen sie noch lange in der Küche herum.

Der Alte holt irgendwann ein Werkzeug, löst den Deckel von der Dose und öffnet sie. Sie ist bis zum Rand angefüllt mit Butterfett. Aus amerikanischen Heeresbeständen, versteht sich …

Es ist diese dritte „Heldengeschichte“ des Alten, die mich immer am stärksten angerührt und beeindruckt hat. Immerhin war ich ja selbst in die Geschichte eingewoben, hatte als einziger Zuschauer – aus der Töpfchenperspektive – den Schlüsselakt des Dramas gesehen, aus dem sich alles Weitere entwickelte – bis hin zum unerwarteten „Happy End“ mit einem „echten Neger“ in der dunklen Küche.

Wenn diese alte Geschichte in mir hochkam, sah ich vor meinem inneren Auge immer auch diesen Russen, den ausgehungerten Fremdarbeiter, den die Amis schließlich befreiten und wieder hochpäppelten – so, wie sie die vielen anderen Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter in Hameln und um Hameln herum befreiten und ihnen ihre Menschenwürde zurückgaben.

Dieser Russe, der sich mir einmal kurz gezeigt hatte, musste ja, so überlegte ich, systematisch Nachforschungen angestellt haben, um seinen Lebensretter ausfindig zu machen. Er wird mit amerikanischen Soldaten auf dem Hof in Klein-Hilligsfeld vorgefahren sein, sie haben den verängstigten Bauern unter Druck gesetzt und der nannte ihnen schließlich die Adresse des Alten.

Dieser Russe wird noch ein junger Mann gewesen sein, als die SS ihn in Russland aus seiner Familie, seiner Heimat, aus seinem normalen Leben ausrupfte und ihn zusammen mit Millionen anderer Arbeitssklaven ins „Reich“ verfrachtete – in den üblichen Viehwaggons vermutlich. Er wurde Sklave in der Landwirtschaft um Hameln herum und von dem Bauern, der uns Quartier gab, auch wie ein Sklave behandelt – wie es die Geschichte andeutet.

Ich bin mir sicher: als er dann blutend und mit Schmerzen im Heu lag, wird sich der Alte um ihn gekümmert haben. Irgendwann war ja wohl die braune Mörderkanaille vom Hof verschwunden. Da wird der Alte in die Scheune gegangen sein und den Russen beruhigt und – so gut er es vermochte – auch verarztet haben.

Die anderen Geschichten vom Alten

Außenwelt und Binnenwelt einer Person – ein Thema, das mich oft beschäftigte: Handeln in der „Außenwelt“ und Handeln in der „Binnenwelt“ – bei einem bestimmten Männertypus liegen beide Welten weit auseinander.

Da gibt es den klugen und verständnisvollen Lehrer, bei Schülern und Kollegen beliebt und bewundert, der zuhause, im Privatleben, zum Tyrannen wird und Frau und Kinder mit seinen Launen malträtiert.

Da gibt es den bewunderten Helden, der sich mutig und kühn für die Schwachen einsetzt – und der zuhause, im Privatleben, nämlich da, wo ihn die Welt nicht sieht – zum Schinder wird, auf die Schwachen einprügelt und ihre Seelen mit Angst füllt.

Mein „Oppa“ war eine „bipolare Persönlichkeit“ – bewunderter Retter in der Außenwelt seiner Heldendöntjes, gewalttätiger Wüterich in der Binnenwelt seines normalen Alltags.

***

Die alte Schatzkiste der Bilder liefert mir ein Foto meines Vaters, das vermutlich 1913 oder 1914 aufgenommen wurde. Ein kleiner drei-, höchstens vierjähriger Knabe – adrett und akkurat gekleidet, sorgfältig gekämmt – sitzt auf einem Stuhl und schaut in die Kamera. Er lächelt sanft und lieb. Das Foto lässt erkennen, dass er ein stilles, artiges und zurückhaltendes Kind gewesen sein muss.

Dieses Bild hat mich jedes Mal, wenn ich es in den Händen hielt, auf eine seltsame Art angezogen und zugleich nachdenklich gestimmt. Dieses allzu sanfte, allzu liebe, freundliche Gesicht, das da ruhig und verhalten in die Kamera schaut, hatte etwas unkindlich Rätselhaftes, das ich nicht deuten konnte, etwas irritierend Unwirkliches.

Einmal betrachtete ich das Bildnis zusammen mit meiner Mutter. Sie empfand wie ich.

„Dein Vater soll ein sehr sanftes, liebes, überaus braves Kind gewesen sein, erzählte die Oma immer. Er war nie widerborstig oder aufmüpfig!“

Meine Mutter lachte mich an:

„Anders als du!“

Sie nahm das Bild in die Hand. Ihr Gesicht wurde sehr nachdenklich.

„Die Oma hat erzählt: wenn man ihn auf einen Stuhl setzte und ihn anwies, sich ruhig zu verhalten, dann saß er mucksmäuschenstill da und rührte sich nicht. Manchmal stundenlang, wenn er die Erwachsenen nicht stören durfte.“

„Hältst du das für normal?“

„NEIN!“

Sie sagte es so entschieden, dass ich genau wusste, was sie meinte.

„Ich auch nicht“, sagte ich daher und fügte hinzu: „Der Alte hat sich also schon an ihm vergriffen, als er noch ein Kleinkind war!“

Ich erinnerte mich an die sadistische Tracht Prügel, die er mir verabreicht hatte, als ich vier Jahre alt war. Meine Mutter schwieg und ich fühlte: in ihrem Schweigen stimmte sie mir zu. Ich bemerkte einen Schimmer von Abscheu und Traurigkeit in ihrem Gesicht und so schob ich nach:

„Wahrscheinlich hat er schon das Baby misshandelt.“

Sie schwieg auch dazu, zuckte mit den Schultern und ihr Gesicht bekam nun selbst einen gequälten Ausdruck. Sie gab mir das Bild zurück und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

***

Die Bilderkiste liefert mir weitere Fotos von meinem Vater und immer sehe ich die sanfte Freundlichkeit in seinem Gesicht, die mich schon an dem Kinderporträt so anrührte. Ein Bild aus seiner Jugend zeigt ihn als Sportler. Drei Jungen hocken und liegen lässig im Gras. Hinter ihnen sehe ich zwei Pfähle in die Luft ragen und zwischen denen liegt die Hochsprungstange. Ziemlich hoch, denke ich bewundernd. Die Jungs haben gerade trainiert und neben ihnen liegen ihre Stangen. Mein Vater ist ein gutaussehender junger Bursche: schlank, durchtrainiert und wie immer sanft lächelnd. Er ist – so schätze ich – sechzehn Jahre alt. Das Bild wäre dann im Jahr 1926 aufgenommen worden.

Wenn er selber überhaupt etwas aus seiner Jugendzeit in den Zwanziger Jahren erzählte, kannte er nur ein Thema: Sport. Er erzählte nie etwas von „zuhause“, seiner Familie: Vater, Mutter, Schwester – sein Thema war „Sport“. Er war Mitglied im Hamelner Ruderverein und erzählte noch im Alter begeistert von zwei bewunderten Trainern, die ihn und seine Kameraden zu Wettkampfsiegern machten. Einen dieser Trainer nannte er stets seinen „Sportsmäzen“, denn er hatte ein besonderes Verhältnis zu diesem Mann, er schwärmte für ihn.

Er war natürlich auch im Schwimmverein und erinnerte sich später gern an das „Bodenwerder-Schwimmen“, ca. zwanzig Kilometer weserabwärts, von Bodenwerder bis Hameln. Er turnte und betrieb Leichtathletik und wenige Jahre später schwebte er gar im Segelflugzeug über das Lipperland.

Sport, Wandern, Körperertüchtigung, Freikörperkultur – raus aus dem Mief der Städte, der Büros, der Fließbandfabriken, raus aus der bedrückenden Enge der Familie – rein in die Natur, an die frische Luft –, all das wurde zur Massenbewegung in den Zwanziger Jahren. Die Menschen litten unter der Vermassung und Gleichschaltung in den aufkommenden „modernen Zeiten“ der Büro- und Fabrikarbeit, sie litten unter der muffigen Enge ihrer Wohnungen und suchten nach einer neuen Identität draußen, außerhalb der Zivilisation der Massengesellschaft, in der sie sich bedeutungslos vorkamen. Sport, „in die Sommerfrische“ und „zurück zur Natur“: die Fluchtbewegung der Zwanziger Jahre.

Mein Vater, so denke ich, floh vor allem wegen der Enge seines Elternhauses, der Enge der Kleinfamilie jener Zeit mit einem despotischen, prügelnden Vater, der ihm Angst einflößte, und einer unglücklichen und gedemütigten Mutter, die er über alles liebte.

Im Jahr 1926, mit sechzehn Jahren, haute er ab von seinen Eltern, er floh aus seinem Elternhaus, er „büxte aus“, wie er das später neckisch umschrieb. Er hat uns Kindern nie etwas erzählt über seine Flucht, seine Motive, seine Nöte. Einmal fragte ich ihn direkt danach, denn ein Junge aus meiner Schulklasse war wochenlang verschwunden, unauffindbar, von zuhause „ausgebüxt“. Das beschäftigte mich und all meine Schulfreunde sehr.

„Warum haut man von zuhause ab?“, fragte ich meinen Vater in einem ruhigen, abendlichen Gespräch in unserem kleinen Garten. „Du bist doch auch mal abgehauen. Warum? Was hat dich dazu gebracht wegzulaufen? Das macht man doch nicht einfach so aus Jux.“

Mein Vater schwieg lange. Dann schaute er mich voll an, sehr ernst. Ich spürte die Blockade. Schließlich sagte er:

„Ach, lass mal, Junge. Es ist doch schon so lange her. Lassen wir es ruhen.“

Das war seine Art: er redete nie über das, was ihn in seinem Leben verwundet hatte. Alles Üble, das ihm widerfahren war, hielt er peinlich versteckt vor uns Kindern. Andererseits konnte er ausschweifende, sentimentale Geschichten erzählen, wenn es um die schönen und glücklichen Momente in seinem Leben ging. Wenn er dann so schwärmerisch erzählte, kam es mir vor, als wollte er die dunklen Geschichten, die ihm widerfahren waren, übertünchen und die Verletzungen in seiner Seele zudecken. Ich ahnte früh, dass er mehrfach Schlimmes erlebt hatte und schlimme Geschichten in ihm wühlten. Ich vermutete schon früh, dass sein seltsames Verhalten seiner Frau und seinen Kindern gegenüber irgendetwas mit diesen Geschichten zu tun hatte. Immer wieder einmal wollte ich das Eine oder Andere aus seinem Leben genauer wissen. Ich begann dann nachzuforschen und es gab immer nur die eine Person, von der ich annahm, dass sie um seine Schattengeschichten wusste.

 

„Was war denn der Grund dafür, dass er damals abhaute?“, fragte ich irgendwann einmal meine Mutter, „Dir wird er es doch wohl erzählt haben. Was war denn da los? Warum erzählt er eigentlich nie etwas davon?“

Sie reagierte wie immer, wenn ich sie so direkt nach seinen Geheimnissen ausfragte:

„Er will darüber nicht reden und er hat mich gebeten, euch nichts zu erzählen, das weißt du doch!“

Ich gab mich diesmal damit nicht zufrieden und wartete. Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht, ihre Augen schauten irgendwo hin und nirgendwo hin, in eine vage Ferne, durch mich hindurch. Sie sah die inneren Bilder. Sie gab sich schließlich einen Ruck und dann kam es stockend aus ihr heraus:

„Er konnte es zuhause nicht mehr aushalten. Es muss furchtbar gewesen sein, was sich da damals abspielte. Er setzte sich in den Zug nach Kiel. Dort wohnte sein Sportsmäzen wie er den nannte, sein Rudertrainer, den er sehr verehrte. Der war Sportlehrer an einem Gymnasium in Kiel. Der nahm ihn auch sehr freundlich auf, der war sehr hilfsbereit, sprach mit ihm und beruhigte ihn. Und der setzte sich schließlich telefonisch mit seinem Vater in Verbindung. Er nahm ihm das Versprechen ab, den Jungen auf keinen Fall zu bestrafen. Der Opa gab ihm sein heiliges Ehrenwort, dem Jungen nichts zu tun.“

Meine Mutter schaute mich voll an. Ihr Gesicht wurde sehr ernst.

„Er hat sein Ehrenwort gebrochen. Er sperrte ihn in den Holzschuppen ein, in seine Werkstatt in der Ohsener Straße. Dort verprügelte er ihn. Das war an einem Sonntagmorgen. Alle paar Stunden ging er in den Schuppen und prügelte auf ihn ein, mit seinen Fäusten. Den ganzen Tag über, bis in den späten Abend. Er wollte ihn brechen.“

Wenn meine Mutter erschüttert war, wurden ihre großen runden Augen hart. Sie presste ihre Lippen aneinander und zog sie nach innen.

„Du kennst doch die kaputten Ohren deines Vaters. Schau sie dir doch mal genau an!“

Ja. Mein Vater hatte „zerfledderte“ Ohren. Die Knorpelmasse war an vielen Stellen eingerissen und schief und krumm wieder zusammengewachsen. Das war mir immer seltsam vorgekommen – dieses Rätsel war also jetzt gelöst. Der Alte hatte mit Fäusten auf den Schädel seines Kindes eingeschlagen, auf die Ohren –, links, rechts, links, rechts – immer wieder. Einen ganzen heiligen Sonntag lang zertrümmerte er das sanfte Gesicht seines Sohnes.

Ich ging nach draußen in unseren Garten und machte mir das Gehörte klar. Jetzt wusste ich, ohne dass sie es mir erzählt hatte, warum mein Vater „ausgebüxt“ war. Er konnte es nicht mehr ertragen mit anzusehen, wie sein Vater in seinen Gewaltexzessen auf seine Mutter einschlug – und auf ihn selbst, wenn er dazwischen ging.

1926, als er seinen Sohn zu „brechen“ versuchte, war der Alte achtundvierzig Jahre alt. Aus jener Zeit, der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre, gibt es etliche Anekdoten über seine exzessiven Trinkgelage mit seinen Kumpanen. Er steckte – so schließe ich daraus – insgesamt in einer Krise. Vielleicht liefen die Geschäfte nicht gut in jenen wackeligen Zeiten, vielleicht sah er damals schon klar, dass wirtschaftlich und politisch langsam alles den Bach hinunterging in Deutschland. Als politisch wacher Zeitgenosse sah er die wachsende Zahl der braunen Horden, die überall aktiv wurden, als das Verbot der NSDAP aufgehoben worden war. In jener krisenhaften Zeit wird er es – so schätze ich ihn ein – bedauert haben, dass er einstmals, um 1900 herum, nicht in die USA ausgewandert war. Die Person, die ihn daran gehindert hatte, war ständig neben ihm, seine Frau, die Mutter seiner Kinder – ewige Erinnerung an sein „Versagen“. In seinem armen Gehirn – so denke ich – war sie die „Schuldige“.

In den Familienkrächen kam es in ihm hoch: sein Hass und seine Wut auf die Welt, die er sich doch selbst geschaffen hatte und in der er sich wie ein Gefangener vorkam. Er kannte nur den einen Modus, um sich in seiner Wut Erleichterung zu verschaffen: zuschlagen. Zuschlagen in der abgeschirmten Binnenwelt seiner Familie. Die Schwachen, die ihm am nächsten standen, waren seine Opfer.

Diese „anderen“ Geschichten des Alten, seine Gewaltexzesse in seinem Privatleben, zeigten mir das Vollbild seiner Persönlichkeit. Sie waren die Ergänzung zu seinen „Heldendöntjes“ in der Außenwelt. Eine dieser „anderen“ Geschichten, das sollte ich dann selber miterleben, endete fatal. Sein letzter unbeherrschter Gewaltakt gegen seinen Sohn endete in der schlimmsten Katastrophe seines Lebens.

Die letzte Geschäftsidee

In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg, als er schon auf die Siebzig zuging, entwickelte der Alte noch einmal eine Geschäftsidee. Er realisierte sie auch konsequent und am Anfang sogar mit einigem Erfolg. Er fing also an, sein Leben noch einmal ganz neu zu organisieren.

Eigentlich war er längst im Rentenalter, aber ein „Ruhestand“ kam für ihn nicht in Frage. Er konnte sich keine Ruhe gönnen, denn er war seit Jahrzehnten „Selfmademan“ und selbstständig gewesen und er wird – wie ich ihn einschätze – nichts oder nicht viel für die Altersversorgung auf die hohe Kante gelegt haben. Er musste also weitermachen, Geld verdienen durch eigene Arbeit als selbstständiger Handwerker, um sich und vor allem seine lebensängstliche Frau davor zu bewahren, der „Fürsorge“ anheim zu fallen. Die „Fürsorge“ war ein Horrorbegriff für meine sanfte Oma. „Stempeln gehen“ zu müssen empfand sie als das Schlimmste, was ihr im Alter widerfahren konnte. Sie hatte große Angst vor der Altersarmut – und nicht zu Unrecht: die Existenzgrundlage der beiden Alten war äußerst wackelig und ihr gutbürgerliches Überleben hing davon ab, wie lange der Alte in seiner Werkstatt noch durchhielt – und vor allem auch davon, ob es einen kontinuierlichen Strom von Aufträgen gab, die ein Überleben in der Selbstständigkeit ermöglichten.

***

„Ehe ich mich so zum Bettler mache, nehme ich mir lieber den Strick.“

Ich war fünf Jahre alt, als ich diesen Satz aus dem Mund meiner Großmutter hörte und ich empfand ihn als so merkwürdig und auch so unverständlich in der Ursituation, dass ich ihn nie vergaß. Wir standen beide vor dem Lebensmittelgeschäft des Kaufmanns Thomas in der Zentralstraße, gleich neben dem Haus mit jener Wohnung im zweiten Stock, die mein erstes Heim auf diesem Planeten war. Die alte Frau holte mich des Öfteren zu sich, meist am frühen Vormittag, vermutlich um meine Mutter ein wenig zu entlasten, die vier Kinder zu versorgen und bei Laune zu halten hatte.

Beim Kaufmann Thomas hatte sie noch einiges für das Mittagessen eingekauft und nun standen wir vor dem Geschäft und sie unterhielt sich mit einer Nachbarin über die vielen Menschen auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig vor dem großen Gebäude der AOK. Dort hatte sich eine lange Menschenschlange gebildet, die sich bis in die Bennigsenstraße hinein um das AOK-Gebäude herumringelte. Die Schlange verschwand auf dem Hof des großen Gebäudes und landete vermutlich vor irgendeinem Schalter. Ich wusste schon als kleines aufgeklärtes Straßenkind, dass diese Menschen „stempeln gingen“, d. h. sie bekamen Geld von der „Fürsorge“, weil sie arbeitslos waren und auch keine Arbeit finden konnten. Die hatten alle ein kleines Büchlein bei sich und in dieses Büchlein wurde Woche für Woche ein Stempel hineingedrückt als Beweis dafür, dass sie ihre Wochenration „Fürsorge“ erhalten hatten. Ich wusste auch schon, dass die meisten dieser Menschen „Flüchtlinge“ waren, ohne dass mir auch nur annähernd klar war, was es mit diesen „Flüchtlingen“ eigentlich auf sich hatte.

Ich war verwundert, als meine Oma im Gespräch mit der Nachbarin diesen verqueren Satz von sich gab. Hielt sie all diese Menschen da für „Bettler“? Verachtete sie diese Menschen gar? Zog sie – wie etliche der Erwachsenen um mich herum – über diese Menschen her, weil sie „Flüchtlinge“ waren? Die brauchten doch das Geld zum Überleben, das wusste ich. Ich spürte: diese Bemerkung passte so gar nicht zu ihrer sonst so sanften und verständnisvollen Art.

Erst nach ihrem Tod – nur wenige Jahre später – begriff ich, was sie gemeint hatte.

***

Die „letzte Geschäftsidee“ des Alten war gar nicht so schlecht ausgedacht.

In der weiten Landschaft um Hameln herum, im Weserbergland und in der flacher werdenden Landschaft nach Norden hin, gab es zahlreiche Holzbetriebe, Forstbetriebe, Mühlenbetriebe, Bauernhöfe – und sie alle verfügten über Werkzeugmaschinen – vor allem Sägeböcke, und sie alle brauchten intakte Sägen, Kreissägen vor allem. Nach dem Krieg war vieles verschlissen, die Sägeblätter flatterten, wenn man sie rotieren ließ, die Zähne waren stumpf geworden. Diese reparaturbedürftigen Sägen wollte der Alte einsammeln und reparieren. Das war der „Markt“, den er sich vorstellte. Man musste also mit einem Auto in der Gegend herumfahren, die Höfe und Betriebe abklappern und die Reparaturaufträge einsammeln. Nach der Reparatur wurden sie den Kunden zurückgebracht – und gleichzeitig konnten neue Aufträge eingesammelt werden. Das war die Idee: aktiv werden, rangehen an die Kunden in der Umgebung, nicht nur passiv auf Aufträge warten, sondern einen Markt erschließen.

Es traf sich gut, dass die Stadt Hameln in ihrem Industrie- und Gewerbegebiet neue Gewerberäume für einen sehr geringen Pachtzins anzubieten hatte. Das waren die Baracken an der Kuhbrückenstraße und an der Werftstraße, die nicht mehr gebraucht wurden.

Der Alte schaute sich um. Er wollte aus dem engen Holzschuppen, in dem seine Werkstatt untergebracht war, endlich heraus und fand auch eine stabile, aus Ziegelsteinen gebaute Baracke, die ihm zusagte. Er pachtete sie zur Hälfte, ca. dreihundert Quadratmeter, und war sicherlich lange damit beschäftigt, all seine Maschinen und Werkzeuge, seine Werkbänke, seine Esse usw. in dem neuen Gehäuse unterzubringen. Abbau, Transport, Wiederaufbau – der alte Mann meisterte das alles in den Jahren 1946 und 1947. Es blieb noch genug Platz für einen Bürobereich und Aufenthalts- und Pausenräume für ihn selbst und seine Leute. Das war jener Bereich seines Pachtareals, der später in unsere Wohnung umgewandelt wurde.

Das Geschäft lief gut an. Er beschäftigte einen Fahrer, der die Aufträge hereinholte, er konnte einen Gesellen, einen Lehrling und sogar eine junge Sekretärin für den Schriftkram bezahlen. Ich denke, dass sein Projekt im Jahre 1948 Gestalt annahm und dass sein Unternehmen in den ersten Jahren auch wirklich Fahrt aufnahm.

Es gehörte zu seinem Plan, auf jeden Fall seinen Sohn, meinen Vater also, mit ins Boot zu holen – und er hatte offenbar leichtes Spiel damit. Ich kann nur vermuten, was meinen Vater bewogen hat, seine sichere Stelle als Sparkassenangestellter aufzugeben und das Risiko einzugehen, in das Projekt des Alten als Transportfahrer und Auftragseinsammler einzusteigen.

Einerseits wirkte in ihm die Sorge um seine Mutter, die nicht in Altersarmut enden sollte. Der Alte wird diesen Punkt ganz besonders herausgestellt haben, als er ihn für sein Projekt köderte, denn er wusste um das innige Verhältnis seines Sohnes zu seiner Mutter. „Ich lasse meine Mutter nicht im Stich“ – diesen Satz kannte ich aus den hitzigen Gesprächen zwischen meinen Eltern.

Dann war da mit Sicherheit der Wunsch, aus der Routine und Langeweile der Büroarbeit auszusteigen und in den Autofahrten durch Niedersachsen Freiheiten wiederzugewinnen und Abenteuer zu erleben, die er als junger Mann hatte und nach denen er sich zurücksehnte. Was mir als Kind schon deutlich wurde: er kam mit seiner Rolle als Ehemann und Familienvater einer wachsenden Kinderschar nicht klar. Er wollte, so denke ich, seine Familie „neutralisieren“ und in eine Zeit zurücktauchen, die passé war. Zu Beginn des Jahres 1949 schmiss er seinen sicheren Job und stieg in den Betrieb seines Vaters ein. Der Alte und sein Sohn schafften einen robusten Opel an und er fuhr los. Er suchte seine Abenteuer draußen, außerhalb seiner Familie – on the road – und fand sie dort auch.

Später, als ich mehr über ihn wusste, deutete ich seine „Familienflucht“ als einen hilf- und nutzlosen Versuch, noch einmal hineinzutauchen in die Traumzeit seiner Jahre als junger, charmanter, gutaussehender und viriler Mann – eine Traumzeit, die durch das körperliche und psychische Trauma in der Linsingen-Kaserne zu Hameln schlagartig beendet wurde. Ich deutete seine egoistische Flucht vor der Verantwortung uns gegenüber als Regression in eine frühere Stufe seiner Persönlichkeitsentwicklung, in die Zeit vor dem brutalen Schock, von dem er sich lange nicht – vermutlich nie – erholte; als Rückfall in eine Epoche seines Lebens, in der er noch „ungebrochen“ war.

 

Die Kostensenkungsmaßnahme

Nachdem das Geschäftsmodell meines Großvaters anfänglich ganz gut funktionierte, stellte sich wohl schon im Laufe des Jahres 1949 heraus, dass es auf tönernen Füßen stand. Da war mein Vater allerdings schon etliche Monate auf Tour.

Betriebswirtschaftlich betrachtet ist die Sache eigentlich klar: nachdem man den ersten Kreis der Holzbetriebe um Hameln herum abgeklappert und mit perfekt reparierten Sägen und Werkzeugen versorgt hatte, musste man neue Kundenkreise erobern, neue Kreise um Hameln herumziehen. Die Touren wurden länger: mehr Arbeit, mehr Zeit, mehr Benzin, mehr Pannen … die Kosten stiegen, die Auftragseingänge wurden unsicher und spärlicher, die Erträge sanken. Man trennte sich von dem Mann, der neben meinem Vater noch Aufträge hereinholte, man trennte sich von der Sekretärin: mein Vater übernahm den Schriftkram.

Doch der größte Kostenblock des Betriebes blieb: das war mein Vater selbst –genau genommen seine große Familie, die in einer recht komfortablen, nicht eben billigen Wohnung untergebracht war. Anfang Dezember 1947 war seine Kinderzahl gar auf fünf angewachsen: meine Mutter gebar ihren zweiten Sohn, ihr viertes Kind.

Eines war mir immer klar: der Alte mochte meine Mutter, seine Schwiegertochter, nicht. Ganz und gar nicht. Die vielen Kämpfe zwischen den beiden, deren Zeuge ich wurde, zeigten mir das deutlich. Meine Mutter war nicht der Typus Frau, der einem Mann wie ihm behagte. Sie unterwarf sich nicht, sie war nicht die Frau, die Despoten wie ihm um den Bart strich. Sie war klar in ihrem Urteil über ihn und ich denke sogar: sie verachtete ihn, so wie auch ich ihn schon als Kind verachtete. Seine verbalen Attacken parierte sie mit wirkungsvollen Gegenangriffen, denn sie kannte seine schwachen Seiten und offenen Flanken und ließ sich von ihm nichts bieten.

Und etwas anderes war mir ebenfalls schon früh klar: vor allem ihre wachsende „Brut“ (so bezeichnete er uns, seine Enkelkinder, in seinen verbalen Exzessen) war ihm ein Dorn im Auge: zu viele „Fresser“, die nur Kosten verursachten. So verfiel er auf die Idee, diesen Kostenblock radikal zu vermindern und sie mit ihrer gesamten „Brut“ aus ihrem warmen Habitat herauszurupfen und in die Baracke zu verpflanzen. Dass mein Vater mitmachte und diese Aktion mittrug, ist eines der Rätsel um seine Person, das ich nie vollständig gelöst habe.

In jenem unglücklichen Jahr 1949, in dem unsere „Umsetzung“ erfolgte, wird es – da bin ich mir heute sicher – sehr viele Kräche und hitzige Diskussionen, sehr viel Lärm und Krieg zwischen meinen Eltern gegeben haben. Sie trennten sich nicht, das war keine Option für die beiden, doch ihre Beziehung ging damals – und dann über viele Jahre – in die Brüche. Eine lange Leidenszeit begann. Der immer wieder aufflackernde Krieg zwischen meinen Eltern begleitete mich durch meine ganze Kindheit.

Unsere Umsetzung an den Rand der Stadt, unsere Marginalisierung, erfolgte also aus einem „betriebswirtschaftlichen“ Kalkül heraus: Kostensenkung. Kostensenkung war aber nicht alles. Der Alte und sein Sohn kassierten auch noch einen „Sonderertrag“ aus dieser Aktion: die happige Kaution, die meine Mutter aus ihrem Erbe bei der Anmietung der Wohnung hinterlegt hatte, wurde frei. Das Geld floss in den Betrieb. Der Alte und sein Sohn steckten es in ihre Taschen.

Meine sanfte Oma

Jeden Tag stand sie am Krankenbett ihres Sohnes, der still und bewegungslos unter der weißen Bettdecke lag. Jeden Tag sah sie die schmale, weiß verhüllte Wölbung seines steif gewordenen Körpers, der nicht mehr funktionierte. Sie sah sein vertrautes, sanftes, stilles Gesicht, in dem nur noch die Augen lebendig waren und mit ihr und der Welt Kontakt hielten. Da lag das Kind, das sie geboren, großgezogen und in die Welt geführt hatte: stumm und verkrüppelt.

Sie sah Ärzte kommen und gehen, die ihn abhörten, untersuchten und kleine therapeutische Experimente mit ihm machten. Sie sah seine apathische Hilflosigkeit und spürte in sich eine große Angst – die Angst davor, dass er womöglich nicht mehr zurückfinden würde in die Normalität, dass sein Körper und seine Seele womöglich für immer zerstört sein könnten.

Sie sah die junge Krankenschwester, die sich über das übliche Maß hinaus um ihren Sohn bemühte, die anfing mit ihm Bewegungen zu trainieren, um ihn aus seiner Totenstarre zu erlösen, die ihm Flüssigkeit einflößte, ihn fütterte, ihn wusch, reinigte und windelte wie ein Baby. Die ließ nicht nach in ihrem Bemühen, ihn ins Leben zurückzuholen. Die Alte erkannte die Energie, die unbeirrbare Entschlossenheit, mit der sich die junge Frau an ihr Werk machte. Sie spürte, dass da mehr im Spiel war als nur die praktische Professionalität einer Pflegerin, sie spürte die Liebe dieser Frau zu dem hilflosen Mann und nahm Kontakt mit ihr auf.

Sie erzählte aus seinem Leben – erzählte, dass er gerade erst geheiratet habe, dass er Vater eines kleinen Jungen sei, nicht einmal ein Jahr alt, der nun aber bei ihr und ihrem Mann aufwachse. Ihr Sohn lebe nämlich „in Scheidung“ mit seiner Frau, da diese ihn kurz nach der Hochzeit „böswillig verlassen“ habe, wie man damals sagte.

Die Geschichte nahm ihren Lauf. Nachdem sie ihn körperlich einigermaßen wieder hergestellt hatte, nachdem er seine „Kur“ (Reha) in Bad Eilsen hinter sich hatte, nachdem seine Scheidung „durch“ war, heirateten Patient und Krankenschwester. Sie gab ihren Beruf auf und gebar in schneller Folge ihre vier Kinder. Ihr Leben veränderte sich total. Von nun an war sie nur noch Mutter. Sie ging in ihrer neuen Rolle voll auf, von Anfang an, ihr Leben lang. Und sie blieb seine Krankenschwester ihr Leben lang, denn seine seelischen Verletzungen heilten viel langsamer als seine körperlichen.

Die alte Frau schätzte und bewunderte die junge Frau, die so rigoros und sicher ihr Kind ins Leben zurückgeholt hatte, und als die Enkelkinder kamen, machte sie sich an die Arbeit. Sie entlastete und unterstützte die junge Mutter, wo sie nur konnte. Sie nähte, flickte und stopfte, sie strickte und häkelte. Als mein Leben sich entwickelt hatte und ich anfing, sie wahrzunehmen und langsam kennen zu lernen, meine sanfte Großmutter, sah ich sie oft bei ihrer Arbeit. Sie saß an der Nähmaschine und nähte Windeln, Höschen, Kleidchen und Jäckchen für die wachsende Kinderschar, sie strickte Socken und Handschuhe aus der Wolle, die sie aus aufgeribbelten alten Pullovern gewonnen hatte. Woche für Woche kam sie zu uns und lieferte ihre Arbeit ab. Sie war gern bei ihrer Schwiegertochter und ihren Enkelkindern. Ich erinnere mich, wie sie immer mal wieder an mir Maß nahm und dass sie dann später eine neue Hose oder einen neuen Pullover für mich mitbrachte.

Sie entlastete meine Mutter aber auch noch auf eine besondere Art, sie nahm ihr eines ihrer Kinder für ein paar Stunden ab: mich. Ich muss wohl, so habe ich es aus den Erzählungen meiner Mutter später herausgehört, ein motorisch aktiver, unruhiger Junge gewesen sein und wenn ich weg war – sicher aufgehoben bei der Oma – konnte sie sich entspannter der Kleinen und ihrem Neugeborenen widmen, konnte ihre Hausarbeit erledigen, ohne ständig ihren Unruhegeist beschäftigen zu müssen.

***

An die stillen, friedlichen Tage bei der alten Frau erinnere ich mich gerne, denn sie ging auf eine kluge Art mit mir um. Sie gab mir nicht irgendwelches Spielzeug, um mich irgendwie zu beschäftigen und zu bespaßen – nein, sie gab mir stets etwas Sinnvolles zu tun, sie ließ mich arbeiten. Ich konnte mich für sie nützlich machen. Das machte mir nicht nur Spaß, das schenkte mir eine Ruhe und einen inneren Frieden, den ich sehr genoss – und am Ende, wenn sie sich für das, was ich für sie geleistet hatte, bedankte, war ich stolz.