TARZAN VON DEN AFFEN

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Aus der Reihe: TARZAN-Zyklus #1
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TARZAN VON DEN AFFEN
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EDGAR RICE BURROUGHS

Tarzan von den Affen

Erster Band des TARZAN-Zyklus

Roman

Impressum

Copyright 1912 © by Edgar Rice Burroughs.

Copyright dieser Ausgabe © by Apex-Verlag.

Deutsche Übersetzung aus dem öffentlich zugänglichen Rohtext des englischen Originals.

Übersetzung: Fritz Moeglich und Christian Dörge (OT: Tarzan Of The Apes).

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Cover: Christian Dörge/N. N.Apex-Graphixx.

Satz: Apex-Verlag.

Verlag: Apex-Verlag, Winthirstraße 11, 80639 München.

Verlags-Homepage: www.apex-verlag.de

E-Mail: webmaster@apex-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Das Buch

Der Autor

TARZAN VON DEN AFFEN

Erstes Kapitel: Aufs Meer hinaus

Zweites Kapitel: Das Zuhause in der Wildnis

Drittes Kapitel: Leben und Tod

Viertes Kapitel: Die Affen

Fünftes Kapitel: Der weiße Affe

Sechstes Kapitel: Kämpfe im Dschungel

Siebtes Kapitel: Das Licht der Erkenntnis

Achtes Kapitel: Der Jäger in den Baumwipfeln

Neuntes Kapitel: Mensch und Mann

Zehntes Kapitel: Das Angst-Phantom

Elftes Kapitel: König der Affen

Zwölftes Kapitel: Der Verstand eines Menschen

Dreizehntes Kapitel: Seinesgleichen

Vierzehntes Kapitel: Der Gnade des Dschungels ausgeliefert

Fünfzehntes Kapitel: Der Gott des Waldes

Sechzehntes Kapitel: »Höchst bemerkenswert!«

Siebzehntes Kapitel: Begräbnisse

Achtzehntes Kapitel: Tribut des Dschungels

Neunzehntes Kapitel: Der Ruf der Natur

Zwanzigstes Kapitel: Erbgut

Einundzwanzigstes Kapitel: Das Dorf der Qualen

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Der Suchtrupp

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Menschenbrüder

Vierundzwanzigstes Kapitel: Der verlorene Schatz

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Der Außenposten der Welt

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Der Gipfel der Zivilisation

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Wieder der Riese

Epilog

Das Buch


1888: Tief im Herzen des Kongo nimmt Kala, das wilde Gorilla-Weibchen vom Stamme Kerchaks, ein winziges menschliches Lebewesen an Kindes statt an. Hier lernt Tarzan, behütet von Kala, die Geheimnisse des Dschungellebens kennen. Er erwirbt die gleichen gewaltigen Kräfte wie die anderen Gorillas, ihre scharf ausgeprägten Sinne, die alle in freier Wildbahn lebenden Tiere brauchen, wenn sie überleben wollen. Hier wird auch Tarzans lebenslange Freundschaft mit dem Stamm Tantors, des großen grauen Elefanten, begründet. Und hier erringt er durch die menschliche Intelligenz, die ihm gegeben ist, die Führung über seinen eigenen Stamm.

Aber die Zivilisation macht auch vor dem Dschungel nicht halt, und es erweist sich, dass selbst ein Wesen wie Tarzan dem Geschick und der Verschlagenheit der Menschen nicht immer gewachsen ist...

Der Roman Tarzan von den Affen erschien erstmals im Oktober 1912 (unter dem Titel Tarzan Of The Apes) im The-All-Story-Magazin und ist der Auftakt einer 24teiligen Roman-Serie, die den literarischen Ruhm von Edgar Rice Burroughs begründete.

Der Apex-Verlag veröffentlicht Tarzan von den Affen in der deutschen Übersetzung von Fritz Moeglich, bearbeitet von Christian Dörge.

Der Autor


Edgar Rice Burroughs - * 01. September 1875, † 19. März 1950.

Edgar Rice Burroughs war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der bekannt wurde als Erzähler diverser Abenteuergeschichten, die sich vor allem dem frühen Fantasy- und Science-Fiction-Genre zuordnen lassen. Die bekanntesten von ihm eingeführten - und in der Folge von anderen in zahlreichen Filmen und Comics etablierten - Heldencharaktere sind Tarzan, John Carter, Carson Napier.

Der Sohn des Fabrikanten und Bürgerkriegsveteranen Major George Tyler Burroughs (1833–1913) und der Lehrerin Mary Evaline Zieger (1840–1920) verlebte nach dem Besuch mehrerer Privatschulen den Großteil seiner Jugend auf der Ranch seiner Brüder in Idaho.

Nach seinem Abschluss auf der Michigan Military Academy im Jahr 1895 trat Burroughs in die 7. US-Kavallerie ein. Als ein Armeearzt bei ihm einen Herzfehler diagnostizierte und er deshalb nicht Offizier werden konnte, verließ Burroughs die Armee vorzeitig im Jahr 1897 und arbeitete bis 1899 wieder auf der Ranch seines Bruders. Danach ging er zurück nach Chicago und arbeitete in der Firma seines Vaters.

Am 1. Januar 1900 heiratete Burroughs seine Jugendliebe Emma Centennia Hulbert. Das Paar bekam drei Kinder: Joan Burroughs Pierce (1908–1972), Hulbert Burroughs (1909–1991) und John Coleman Burroughs (1913–1979). Da die tägliche Routine in der Fabrik seines Vaters Burroughs nicht zufriedenstellte, verließ das Ehepaar 1904 Chicago, um abermals in Idaho zu leben. Mit seinen Brüdern, die inzwischen ihre Ranch aufgegeben hatten, versuchte er sich erfolglos als Goldgräber. Kurze Zeit später arbeitete er als Eisenbahnpolizist in Salt Lake City. Auch diesen Job gab Burroughs auf und zog mit seiner Frau wieder zurück nach Chicago, wo er eine Reihe Jobs annahm, unter anderem als Vertreter. 1911 investierte er sein letztes Geld in einer Handelsagentur für Bleistiftanspitzer und scheiterte.

Burroughs, der zu dieser Zeit an schweren Depressionen litt und, nach einigen seiner Biographen, an Selbstmord dachte, kam auf die Idee, eine Geschichte für ein Magazin zu schreiben, in dem er zuvor Anzeigen für seine Bleistiftanspitzer geschaltet hatte. Seine erste Erzählung Dejah Thoris, Princess of Mars (unter dem Pseudonym Normal Bean für das All-Story-Magazin von Thomas Metcalf geschrieben) wurde zwischen Februar und Juli 1912 als Fortsetzung veröffentlicht.

Metcalf hatte sein Pseudonym in Norman Bean geändert, und auch der Titel seiner Geschichte wurde zu Under the Moon of Mars abgewandelt. Auf Burroughs Beschwerde bezüglich der Änderungen, lenkte Metcalf ein und bot an, Burroughs nächste Geschichte unter seinem richtigen Namen zu drucken. Eine weitere Beschwerde Burroughs betraf den Zusatz For all Rights auf seinem Honorarscheck. Nach längerem Briefwechsel erreichte er, dass die 400 Dollar nur für den Erstabdruck galten.

Burroughs zweite Geschichte, The Outlaw of Torn, wurde jedoch von All-Story abgelehnt. Der große Erfolg kam mit Burroughs drittem Anlauf, Tarzan of the Apes.

Die Geschichte von Tarzan wurde ebenfalls 1912 von All-Story veröffentlicht. Burroughs schrieb in der Folgezeit immer wieder neue Tarzan-Geschichten und konnte sich - kaum zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Tarzan of the Apes - ein riesiges Stück Land in der Nähe von Los Angeles kaufen. Selbst nach Burroughs Tod im Jahr 1950 erschienen weitere Tarzan-Geschichten. Das Landstück bei Los Angeles ist heute die Gemeinde Tarzana.

In den frühen 1930er Jahren wurde sein schriftstellerischer Erfolg allerdings immer mehr von privaten Problemen überschattet. 1934 ließ er sich scheiden und heiratete ein Jahr später Florence Dearholt. Doch schon 1942 wurde auch diese Ehe geschieden. Nach der Bombardierung von Pearl Harbor begab sich Burroughs 1941 als Kriegsreporter nach Hawaii. Nach dem Krieg kehrte er nach Kalifornien zurück, wo er, nach vielen gesundheitlichen Problemen, 1950 einem Herzanfall erlag.

 

In Burroughs Werk vermischen sich Science Fiction und Fantasy. Er etablierte Geschichten vor einem planetarischen Hintergrund in der Science Fiction. Dabei war Burroughs bewusst, dass seine Literatur bei den Kritikern nicht ankam. Er machte auch nie ein Hehl daraus, dass er schrieb, um Geld zu verdienen.

Die Helden seiner Romane und Erzählungen haben keine Alltagsprobleme. Bei den Charakterzeichnungen schwach, sprudeln Burroughs Geschichten über vor Ideen und Action. Die Helden seiner Romane haben verschiedene Merkmale gemeinsam, beispielsweise das Geheimnis um ihre Herkunft. Entweder haben die Helden nie eine Kindheit erlebt, oder können sich nicht daran erinnern, oder aber sie sind wie Tarzan und The Cave Girl Waisen. Ein weiteres Merkmal von Burroughs Geschichten ist der, wie Brian W. Aldiss es nennt, ausgeprägte sexuelle Dimorphismus. Das jeweils dominante Geschlecht ist hässlich.

Obwohl es in den Romanen und Geschichten Burroughs von schönen, nackten Frauen nur so wimmelt, werden sexuelle Beziehungen weder angedeutet noch erwähnt. Burroughs Welt scheint eine präpubertäre zu sein. Doch ist die Jungfräulichkeit immer in Gefahr (vgl. Aldiss). Fast schon zwanghaft mutet an, dass es in den Geschichten Burroughs, die zwischen 1911 und 1915 geschrieben wurden, nicht weniger als 76 Mal zu Vergewaltigungsdrohungen kommt, die natürlich alle abgewendet werden können. Zu den Bedrohern der weiblichen Unschuld gehören verschiedene Marsianer, Sultane, Höhlenmenschen, japanische Kopfjäger und Affen.

E. F. Bleiler schreibt über Burroughs, seine Texte seien „Fantasien von Erotik und Macht.“

Der Apex-Verlag veröffentlicht Burroughs' Venus-Romane (in der deutschen Übersetzung von Thomas Schlück), Neu-Übersetzungen des Tarzan- und des John Carter-Zyklus sowie als deutsche Erstveröffentlichung die Pellucidar-Serie.

TARZAN VON DEN AFFEN

Für Emma Hulbert Burroughs

Erstes Kapitel: Aufs Meer hinaus

Diese Geschichte beginnt (wie aus vergilbten Tagebuchblättern und den Akten des Britischen Kolonialamtes hervorgeht) mit dem Auftrag an einen jungen britischen Aristokraten - wir wollen ihn John Clayton, Lord Greystoke nennen - gewissen Gerüchten nachzugehen, die eine britische Kolonie an der westafrikanischen Küste betrafen. Diese Gerüchte besagten, dass ein anderer europäischer Staat Eingeborene rekrutierte, um mit deren Hilfe die wilden Stämme am Kongo und Aruwimi zur Lieferung von Kautschuk und Elfenbein zu zwingen. Die Eingeborenen klagten, dass viele ihrer jungen Männer durch großartige Versprechungen fortgelockt würden, aber nur in den seltensten Fällen zu ihren Familien in den heimatlichen Dörfern zurückkehrten.

Britische Gewährsleute in Afrika gingen noch weiter. Nach ihren Behauptungen wurden die rekrutierten Eingeborenen praktisch in Sklaverei gehalten, denn die weißen Offiziere ließen die Schwarzen in Unkenntnis über das Erlöschen ihrer Verpflichtungen und erweckten so in ihnen den Glauben, sie hätten noch mehrere Jahre Dienst zu leisten.

Aus diesem Grund wurde John Clayton vom Kolonialamt offiziell auf einen Posten in Britisch-Westafrika berufen; sein eigentlicher Auftrag bestand jedoch darin, eine sorgfältige Untersuchung dahingehend durchzuführen, ob tatsächlich schwarze britische Untertanen in die Dienste eines befreundeten europäischen Staates gepresst würden.

John Clayton sollte es nie gelingen, diese Untersuchung durchzuführen – er erreichte nicht einmal seinen Bestimmungsort. Clayton war durch und durch ein typischer Brite von durchschnittlicher Größe, hatte graue Augen und ein energisches, wohlgeschnittenes Gesicht. Er erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit, wozu jahrelanger Dienst in der Armee, der er vor dem Obertritt ins Kolonialamt angehörte, beigetragen hatte.

Die Erteilung eines so wichtigen und delikaten Auftrags schmeichelte ihm und bestürzte ihn zugleich. Sah er sie einerseits als Anerkennung für die bisher geleistete Arbeit und als weiteren Schritt auf der diplomatischen Erfolgsleiter an, so bedrückte ihn andererseits die Tatsache, dass er erst seit drei Monaten mit Alice Rutherford verheiratet war und sich eine Trennung von seiner jungen Frau nicht vorzustellen vermochte. Durfte er sie den Gefahren und der Einsamkeit der afrikanischen Tropen aussetzen? Um ihretwillen erwog er Verzicht, aber sie wollte nichts davon wissen, sondern bestand darauf, dass er den Auftrag annehmen und gemeinsam mit ihr die weite Reise antreten würde.

So gingen an einem sonnigen Maimorgen des Jahres 1888 Lord Greystoke und Lady Alice in Dover an Bord des Schiffes, das sie nach Afrika bringen sollte. Vier Wochen später kamen sie in Freetown an. Dort charterten sie den kleinen Segler Fuwalda, um zu ihrem endgültigen Bestimmungsort zu gelangen. Von dem Augenblick an, als die Fuwalda in Freetown Anker lichtete, blieb sie, samt allen Menschen an Bord, für die Nachwelt verschwunden. Ein halbes Dutzend britischer Kriegsschiffe durchforschte den Südatlantik, doch als an der Küste von St. Helena Trümmer der Fuwalda entdeckt wurden, brach die Admiralität die Suche in der Überzeugung ab, dass das Schiff mit Mann und Maus untergegangen sei.

Die Fuwalda, eine Bark von etwa hundert Tonnen, war ein Schiff jenes Typs, den man im Küstendienst des Südatlantiks oft findet - ein halber Totenkahn mit einer Besatzung, die aus dem Abschaum aller Rassen und Nationen bestand. Ihre Offiziere waren dunkelhäutige Tyrannen, die mit Verachtung auf die Mannschaft herabsahen und von dieser mit teuflischem Hass verfolgt wurden. An der Tüchtigkeit des Kapitäns als Seemann bestand kein Zweifel, aber im Umgang mit der Besatzung kannte er nur zwei Argumente: den Revolver und eine schwere Vorsteckpinne. Es war also kein Wunder, dass John Clayton und seine junge Frau schon am zweiten Tag Zeugen von Szenen wurden, die sie nie für möglich gehalten hätten.

Zwei Matrosen schrubbten das Deck der Fuwalda, der Steuermann versah seinen Dienst, und der Kapitän hatte sich zu John Clayton und Lady Alice gesellt, um mit ihnen zu plaudern. Die beiden Matrosen arbeiteten sich rückwärts auf die Gruppe zu, ohne ihrer gewahr zu werden. Sie kamen näher und näher. Einer der beiden langte gerade in dem Augenblick hinter dem Kapitän an, als dieser weggehen wollte. Der Kapitän stolperte über den hinter ihm Kauernden, stürzte und fiel der Länge nach in die schmutzige Brühe des umgekippten Eimers.

Schreckliche Flüche ausstoßend und mit hochrotem Gesicht erhob sich der Kapitän und schmetterte den Matrosen, einen kleinen, älteren Mann, mit einem fürchterlichen Faustschlag zu Boden. Der zweite Matrose indes war weder klein noch alt, sondern ein Bär von einem Mann mit schwarzem Schnurrbart und einem massigen Schädel auf muskulösen Schultern, Als er seinen Kameraden reglos daliegen sah, stieß er einen heiseren Schrei aus und schlug seinerseits den Kapitän mit einem einzigen Hieb nieder,

Der Kapitän verlor nicht das Bewusstsein, aber sein Gesicht wurde kalkweiß. Dies war Meuterei, und damit war er in seiner langen Laufbahn immer fertig geworden. Ohne sich aufzurichten, riss er den Revolver aus der Tasche und feuerte auf den Berg aus Fleisch und Muskeln, der vor ihm aufragte. Aber so schnell er reagierte, John Clayton war noch schneller. Kaum sah er die Waffe in der Hand des Kapitäns blitzen, als er ihm auch schon den Arm niederschlug, so dass die Kugel sich nicht ins Herz des Matrosen, sondern in sein Bein bohrte.

Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Clayton und dem Kapitän, der sich jedoch bald eines Besseren besann und wortlos davonging. Es schien ihm nicht angebracht, einen britischen Beamten herauszufordern, denn der Arm der Königin reichte weit und niemand legte sich gern mit der gefürchteten britischen Kriegsmarine an.

Der ältere Matrose hatte inzwischen das Bewusstsein wiedererlangt und half seinem verwundeten Kameraden auf die Beine. Der, von der Besatzung Schwarzer Michael genannte Riese machte zwei tastende Schritte, und als er fand, dass das verletzte Bein seinen Körper trug, wandte er sich um und bedankte sich mit ein paar brummigen Worten bei Clayton. Dann humpelte er zum Vorschiff, offensichtlich wollte er es zu keiner Unterhaltung kommen lassen. Am folgenden Tag sahen Clayton und Alice ihn nicht. Auch der Kapitän ging ihnen tunlichst aus dem Weg und sprach nur das Notwendigste mit ihnen. Obwohl sie in der Offiziersmesse aßen, blieben sie meist sich selbst überlassen, denn die anderen Offiziere - raue, ungebildete Burschen - legten keinen Wert darauf, Kontakt zu ihnen zu gewinnen.

Deshalb bemerkten John und Alice nicht, dass die Atmosphäre auf dem kleinen Schiff sich immer mehr verdüsterte und eine Stimmung herrschte, die auf eine Katastrophe hindeutete. Zwei Tage nach der Verwundung des Schwarzen Michaels durch den Kapitän kam Clayton gerade rechtzeitig an Deck, um zu sehen, wie ein bewusstloser Matrose von vier Kameraden davongetragen wurde. Der Steuermann, eine schwere Vorsteckpinne in der Rechten, musterte eine kleine Gruppe mürrischer Matrosen mit funkelnden Augen.

Clayton stellte keine Fragen, das war nicht nötig. Als aber am nächsten Tag die massigen Rümpfe britischer Kriegsschiffe am Horizont auftauchten, erwog er, sich und Alice von ihnen übernehmen zu lassen. Aber dann kam ihm das Lächerliche seines Vorhabens zu Bewusstsein; man würde hinter seinem Rücken lachen, wenn er zurückkehrte, ohne seinen Auftrag ausgeführt zu haben, man würde ihn vielleicht sogar der Feigheit bezichtigen.

Es war früher Nachmittag, als Clayton und Alice an der Reling standen und den verschwindenden Schlachtschiffen nachblickten. Der alte Matrose, der vom Kapitän zusammengeschlagen worden war, putzte die Messingbeschläge und kam ihnen langsam näher. Als er neben Clayton angelangt war, sagte er leise, ohne den Kopf zu wenden: »Der Teufel wird diesen Kahn holen, Sir! Denken Sie an meine Worte.«

»Was meinen Sie damit, guter Mann?«, fragte Clayton.

»Das fragen Sie noch? Haben Sie nicht gesehen, was hier an Bord vorgeht? Dass der Käpt'n und seine Genossen uns wie Tiere prügeln? Gestern zwei Matrosen zu halben Krüppeln geschlagen und heute schon drei. Der Schwarze Michael ist wieder auf den Beinen, und er ist nicht der Mann, sich das länger anzusehen. Denken Sie an meine Worte, Sir.«

»Wollen Sie damit sagen, dass die Besatzung Meuterei plant?«

»Meuterei!«, wiederholte der Alte verächtlich. »Mord, Sir, Mord! Denken Sie an meine Worte.«

»Wann?«, fragte Clayton.

»Es wird kommen, Sir, es wird kommen, aber ich sage nicht, wann. Hab' überhaupt schon verdammt zu viel gesagt, aber Sie waren anständig neulich, und es ist nicht mehr als recht, dass ich Sie warne. Schweigen Sie darüber, und wenn Sie es knallen hören, gehen Sie unter Deck, damit Sie nicht eine Pille zwischen die Rippen bekommen. Das ist alles, Sir, und denken Sie an meine Worte.«

Der Alte beugte sich tiefer über die Messingbeschläge und entfernte sich von Clayton und Alice.

»Verteufelt angenehme Aussichten«, brummte Clayton.

»Du musst sofort den Kapitän warnen, John«, sagte Alice. »Dann lässt sich vielleicht noch vermeiden, dass es zum Schlimmsten kommt.«

»Wahrscheinlich sollte ich es tun, aber aus eigennützigen Motiven möchte ich darauf verzichten«, meinte Clayton nachdenklich.

»Wegen meines Eingreifens neulich werden sie uns wahrscheinlich verschonen. Finden sie aber heraus, dass ich sie verraten habe, dürfen wir keine Gnade erwarten, Alice.«

»Wenn du es nicht tust, wirst du zum Mitverschwörer«, warnte Alice.

»Du verstehst mich nicht, meine Liebe«, erwiderte Clayton. »Mein Verhalten wird nur durch den Gedanken an dich bestimmt. Der Kapitän ist selbst schuld an der Lage der Dinge. Soll er doch die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat.«

Sie schüttelte den Kopf. »Pflicht bleibt Pflicht«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich wäre einem britischen Lord eine schlechte Frau, wenn ich zuließe, dass er seine Pflicht versäumt, um mir Gefahren zu ersparen.«

Clayton legte den Arm um die Schultern seiner jungen Frau. »Gut, Alice, ich beuge mich deinem Wunsch. Vielleicht sehe ich die Dinge auch zu schwarz, vielleicht wollte der alte Matrose nur seinem Herzen Luft machen. Dort ist übrigens der Kapitän, sicher geht er in seine Kabine. Bringen wir die Sache also hinter uns.«

 

Sekunden später klopfte er an die Tür der Kapitänskajüte.

»Herein!«, rief eine grollende Stimme.

Clayton trat ein und schloss die Tür.

»Nun?«, fragte der Kapitän unwirsch, als er Clayton erkannte.

»Ich bin gekommen, um Ihnen von einer Unterredung zu berichten, deren Zeuge ich zufällig wurde«, sagte Clayton. »Mag sein, dass nichts daran ist, aber man spricht unter der Besatzung von Meuterei und Mordplänen.«

»Das ist eine Lüge!«, schrie der Kapitän wütend. »Und wenn Sie wieder einmal versuchen, sich in die Disziplin dieses Schiffes zu mischen, so haben Sie die Folgen zu tragen. Es kümmert mich nicht, ob Sie ein britischer Lord sind oder nicht. Kapitän dieses Schiffes bin ich, und ich verlange, dass Sie aufhören, Ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken.«

Der Kapitän sprang auf. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen, mit der geballten Rechten fuchtelte er Clayton vor der Nase herum. Greystoke hielt dem Blick des Tobenden ruhig stand.

»Captain Billings«, sprach er schließlich langsam und betont, »verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich muss Ihnen sagen, dass Sie ein Esel sind, falls Sie das noch nicht wissen.«

Er wandte sich um, verließ die Kabine und kehrte an Deck zurück. »Nun, Alice«, sagte er zu seiner jungen Frau, »ich hätte mir den Weg sparen können. Der alte Narr war nicht im Geringsten dankbar, sondern knurrte mich an wie ein bissiger Hund. Von nun an interessiert mich nur noch unser eigenes Wohlergehen, und als erstes werde ich jetzt in unsere Kabine gehen und meine Pistole überprüfen. Es tut mir nur leid, dass die schwereren Waffen und die Munition bei unserem Gepäck im Laderaum liegen.«

Als sie die Kabine betraten, blieben sie überrascht stehen. Der kleine Raum befand sich in schrecklicher Unordnung. Der Inhalt der Schubladen und Kästen lag am Boden verstreut, selbst die Letten waren durchsucht worden.

»Offensichtlich hat sich jemand für unseren Besitz interessiert«, bemerkte Clayton. »Ich möchte bei Gott wissen, hinter was er her war. Schaffen wir Ordnung, Alice, und stellen wir fest, was fehlt.«

Sie brauchten nicht lange, die Sachen wieder einzuräumen. Nur die beiden Pistolen und eine kleine Schachtel Munition fehlten.

»Gerade die Dinge, die mir im Augenblick am wichtigsten scheinen«, sagte Clayton unbehaglich.

»Was sollen wir tun, John?«, fragte seine Frau. »Ein erneuter Gang zum Kapitän kommt nicht in Frage. Ich will nicht, dass er dich wieder beleidigt. Vielleicht ist es am besten, wenn wir uns neutral verhalten. Sind die Offiziere in der Lage, die Meuterei zu verhindern, so haben wir nichts zu fürchten. Sollten die Meuterer siegen, dann können wir nur auf Nachsicht hoffen, wenn wir sie nicht herausfordern.«

»Du hast recht, Alice, der goldene Mittelweg scheint für uns das einzig Richtige.«

Sie räumten die letzten Dinge auf. Als Clayton sich der Tür näherte, sah er, wie ein Stück Papier darunter durchgeschoben wurde. Er wollte schon den Türgriff packen, als Alice ihn aufhielt.

»Nicht, John«, flüsterte sie. »Sie wollen nicht gesehen werden, also dürfen wir sie nicht sehen. Vergiss nicht, dass wir uns für den goldenen Mittelweg entschieden haben.«

Lächelnd ließ Clayton die Hand sinken. Er wartete eine Minute, dann öffnete er die Tür, hob den Zettel auf und entfaltete ihn. In ungelenker Schrift warnte man sie davor, dem Kapitän den Verlust der Waffen zu melden und über das zu sprechen, was sie von dem alten Matrosen gehört hatten. Für den Fall, dass sie die Warnung nicht befolgten, drohte man ihnen den Tod an.

Achselzuckend zerknüllte Clayton den Zettel und schob ihn in die Tasche. »Eine Warnung, die nicht misszuverstehen ist«, sagte er leise. »Ich denke, wir müssen sie befolgen. Von nun an können wir nur abwarten und der Dinge harren, die da kommen werden.«