DAS BUCH ANDRAS I

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Aus der Reihe: DAS BUCH ANDRAS #1
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DAS BUCH ANDRAS I
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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

Prolog

TAG EINS

I. Das Erwachen im Sanatorium

II. Der Anschlag in der Villa

III. Die Besprechung in der geheimen Bibliothek

Erstes Zwischenspiel: Eine albtraumartige Begegnung

TAG ZWEI

IV. Die Beisetzung auf dem Waldfriedhof

V. Das Haus auf der Lichtung

VI. Die Hetzjagd durch den Wald

Zweites Zwischenspiel: Hinter Klostermauern

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

Prolog

Deine Augenlider klappen so ruckartig nach oben, als handle es sich um ein identisches Paar kleiner, mit Sprungfedern versehener Sargdeckel.

Die Rückkehr deines noch immer halb betäubten Bewusstseins in die Realität geschieht so unerwartet und abrupt, als seien in einem von der Außenwelt hermetisch abgeschlossenen, stockdunklen Zimmer soeben simultan die Beleuchtung angeschaltet und alle Geräusch- und Geruchsquellen aktiviert worden. Aus nahezu jeder denkbaren Richtung attackieren nun laute Geräusche, die im ersten Augenblick nicht voneinander zu unterscheiden, geschweige denn zu identifizieren sind, deine durch diese betäubende Kakophonie überforderten Ohren. Fremdartige Gerüche unterschiedlichster Herkunft und Stärke bilden eine einzigartige, ekelerregende Mischung, die deinen gerade erst wiedererwachten Geruchssinn auf eine harte Probe stellen und deinen leeren Magen reizen. Gleichzeitig werden deine nach der langen Ruhephase noch immer empfindlichen Augen von wild umhertanzenden Lichtern geblendet.

Ein vages Gefühl, dass hier etwas nicht so ist, wie es eigentlich sein soll, regt sich tief im Innern deines erwachenden Bewusstseins. Es ist jedoch noch immer zu schwach und unausgeprägt, um sich gegen die überwältigenden Eindrücke zu behaupten, die von außen auf dein dahindämmerndes Ich einstürzen. Der Gedanke vergeht daher so rasch und spurlos, wie er zuvor in dir aufgeblitzt ist, und hinterlässt eine spürbare Leere, ein Vakuum, das danach giert, gefüllt zu werden. Dein nur mühsam zu sich findender Verstand greift deshalb in seiner Verzweiflung nach allen Wahrnehmungen, die ihm deine überforderten Sinne bereitwillig und in großer Menge übermitteln, um die Unvollkommenheit in seiner Mitte mit neuem Leben zu erfüllen.

Der Untergrund, auf dem dein Körper ruht, ist hart und kalt, was nicht nur ein Frösteln auslöst, sondern seltsamerweise auch Ekel erzeugt. Doch dein Bewusstsein hat keine Gelegenheit, sich mit dieser Merkwürdigkeit oder anderen Sinneswahrnehmungen näher zu befassen, da es sofort von zahlreichen weiteren Eindrücken bestürmt wird. Jeder einzelne dieser Reize buhlt um die ungeteilte Aufmerksamkeit deines Verstandes, der aber noch immer nicht ganz wach ist, sondern benommen und schläfrig reagiert.

Eine finstere Silhouette erhebt sich bedrohlich in unmittelbarer Nähe.

Dein Herz schlägt sofort um einige Takte schneller. Der Schweiß bricht aus all deinen Poren.

Auch wenn deine Sinne pausenlos neue Eindrücke liefern, so arbeiten deine Sinnesorgane noch sehr unzuverlässig und nehmen die Umwelt nur undeutlich wahr. Dein Bewusstsein bemüht sich, seine Sinne zu schärfen, doch aufgrund deines benommenen Zustands ist es eine viel zu anstrengende und langwierige Arbeit, als dass sie rasch Wirkung zeigen kann.

Aus dem in seiner Gesamtheit überwältigenden Duftpotpourri kristallisiert sich allmählich der Geruch nach heißem Wachs heraus, worauf dein Verstand unwillkürlich eine Verbindung zur unbeständigen, sich ständig in Bewegung befindlichen Helligkeit zieht, die die Umgebung nicht nur erhellt, sondern große Teile des umgebenden Raumes gleichzeitig in Schatten hüllt.

Nach dem angenehmen Geruch brennender Kerzen werden nun auch andere, teilweise weniger wohlriechende Duftnoten fassbarer, als sei der Eifer deines Geruchssinnes nach diesem ersten Erfolgserlebnis angestachelt worden. Der Gestank nach altem, ranzig gewordenem Körperschweiß kontrastiert mit dem in seiner Penetranz nahezu alles überlagernden Geruch nach brennendem Weihrauch.

Gleichzeitig heben sich aus der zunächst ohrenbetäubenden, unentwirrbaren Geräuschkulisse einzelne Töne ab und werden dadurch für dein halb betäubtes Bewusstsein leichter identifizierbar. Eine Vielzahl menschlicher Stimmen ist zu hören, die im Gleichklang merkwürdige und unheimlich klingende Laute von sich geben, als würden sie etwas in einer fremdartigen Sprache rezitieren, die dein Bewusstsein nicht einmal ansatzweise beherrscht.

Die bedrohliche, dunkle Gestalt, die in unmittelbarer Nähe aufragt, nimmt nun ebenfalls konkretere Formen an. Aus dem Umriss, der von dir vorher allenfalls als dunkler Schemen wahrgenommen wurde, schälen sich konkrete Einzelheiten. Ein schwarzer Kapuzenmantel wird sichtbar, der jedoch keinen Blick auf das Gesicht oder die Hände der regungslos verharrenden Person erlaubt.

Aufgrund der jähen Erkenntnis, ein anderes körperliches Wesen in deiner Nähe zu wissen, bemüht sich dein Bewusstsein nun verstärkt darum, ebenfalls eine erhöhte Körperlichkeit zu erreichen, indem es Teile deines eigenen Leibes in Bewegung versetzt, ist dazu aber nicht in der Lage.

Panik breitet sich daraufhin in dir aus und versetzt deinen Verstand in Aufruhr.

Der disharmonische Sprechgesang wird in diesem Moment lauter und steigert sich zu schrillen Schreien, während gleichzeitig ein gefährlich wirkendes, tierisches Brüllen immer näher kommt.

Eine Spirale aus absoluter Dunkelheit breitet sich in der Luft über deinem Bewusstsein aus und dreht sich, immer schneller und schneller werdend, wirbelnd um sich selbst.

Da hebt die finstere Erscheinung die Arme, und das jähe Aufblitzen reflektierenden Kerzenlichtes in den Händen blendet deine Augen und jagt durch dein immer panischer werdendes Bewusstsein.

Der Lichtblitz saust rasend schnell herab.

Doch da findet dein Bewusstsein endlich seine Körperlichkeit wieder, nach der du dich sehntest, und reagiert ebenfalls gedankenschnell.

Das silbrig schimmernde Objekt mit den aufblitzenden scharfen Kanten wird vom vorbestimmten Kurs abgebracht und zur Seite gelenkt. Ein markerschütternder Schrei ertönt. Der Geruch frisch vergossenen Blutes liegt plötzlich in der Luft und breitet sich rasch aus.

Dein Bewusstsein realisiert, dass gerade etwas Furchtbares geschehen sein muss, kann jedoch in seinem Dämmerzustand die überwältigende Flut verschiedenartiger Wahrnehmungen zu keinem konkreten Bild formen, das für dich einen Sinn ergibt und die Ereignisse begreifbar macht.

Dein Gesicht dreht sich nur widerwillig in die Richtung, in die das scharfkantige, schimmernde Ding gelenkt wurde. Dein Bewusstsein blickt in einen Spiegel, der deine eigene Gestalt nur verzerrt wiedergibt. Eine schreckliche Wunde klafft in der Seite des Körpers, und der kostbare Lebenssaft pulsiert rot und reichhaltig aus der Öffnung, obwohl dein Verstand keinerlei Schmerz aufgrund der schwerwiegenden Verletzung fühlen kann.

Der Schrei aus dem weit aufgerissenen Mund inmitten des schmerzhaft verzerrten Spiegelgesichts geht in den schrillen Schreien und aufgeregten Rufen anderer unter.

Der kreiselnde Wirbel erstarrt zu schwarzem Eis. Ein ohrenbetäubendes Brüllen löscht jeden anderen Laut aus und lässt die Trommelfelle deines von den Ereignissen geschockten Bewusstseins vibrieren. Dein Verstand spürt den Schmerz und schreit ihn ebenfalls hinaus.

Ein glühend heißer Windstoß fährt von oben herab und presst deinen in Schweiß gebadeten Körper gegen den Untergrund. Er bringt den überwältigenden Gestank nach Schwefel, Moder, Fäulnis und Pestilenz mit sich, eine widerwärtige Mixtur, die deinen Würgereflex reizt.

Dann verstummt das unmenschliche Gebrüll gnädigerweise. Gleichzeitig löst sich der erstarrte Wirbel in der Luft auf und verschwindet spurlos.

Erneut dreht dein halb betäubtes Bewusstsein den Kopf und blickt in den Spiegel. Du hebst die Hand, um dein Ebenbild zu berühren, doch dieses entfernt sich plötzlich rasch.

Enttäuschung macht sich in dir breit, als deinem Bewusstsein das Spiegelbild genommen wird. Du willst einen Namen, möglicherweise deinen eigenen

(ANDRAS)

rufen. Doch ehe du dazu in der Lage bist und dein Verstand neue Informationen erhält, die dich unter Umständen in die Lage versetzen, die Ereignisse zu erfassen, versinkst du wieder in der Finsternis, aus der du erst kurz zuvor emporgestiegen bist.

 

Die aufgeregten Rufe zahlreicher Menschen und der alles übertünchende Gestank nach Blut begleiten dein Bewusstsein, als es wieder erlischt.

Dann ersterben jäh alle Geräusche und Gerüche, und die Dunkelheit kehrt schlagartig zurück, als habe jemand alle Aus-Schalter auf einmal betätigt.

Ganz am Ende schließen sich deine Augenlider, als würde sich der Deckel eines Sarges endgültig herabsenken.

TAG EINS

Donnerstag, 18. Juni

I. Das Erwachen im Sanatorium

Kapitel 1

Mein Erwachen war beileibe keine leichte Angelegenheit, sondern im Gegenteil mühsam und langwierig, denn ich musste mich an die Oberfläche meines Verstandes kämpfen wie ein Taucher aus den dunklen, bodenlos erscheinenden Tiefen des Ozeans. Gleichzeitig spürte ich, wie bleischwere Gewichte an meinem Verstand zerrten, um ihn sofort wieder nach unten in die Finsternis zu ziehen, sollte ich in meinem Bemühen, das Bewusstsein wiederzuerlangen, auch nur einen einzigen Augenblick nachlassen.

Währenddessen wirbelte eine unüberschaubare Vielzahl von Bildern durch meinen Kopf wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge. Entweder handelte es sich dabei um Erinnerungsfetzen oder wirre Sequenzen eines Traumes, die mich noch ein Stück des Weges aus dem Schlaf in den Wachzustand begleiteten. Die Bilder waren jedoch zu schnell und zu flüchtig für mein noch nicht vollständig erwachtes, zu träge reagierendes Bewusstsein, denn als ich sie zu fassen versuchte, vergingen sie und lösten sich einfach in nichts auf, bevor ich sie zu greifen bekam.

Ich stöhnte schwach und öffnete die Augen, doch alles, was ich von meiner Umgebung zu sehen bekam, war ein winziger, unendlich fern erscheinender Lichtpunkt, fast so, als würde ich alles nur durch eine lange, dünne Röhre wahrnehmen. Aber dann, mit jeder Sekunde, die ich mich weiter an die Oberfläche meines Verstandes kämpfte, wuchs der Lichtpunkt rasch an, als würde ich mit einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern im Führerhaus eines ICE durch einen Eisenbahntunnel rasen, bis er schließlich mein Gesichtsfeld vollständig ausfüllte und mir einen ersten, wenn auch noch völlig unscharfen Blick auf meine Umgebung erlaubte.

Noch ziemlich benommen, aber zumindest halbwegs wach, blinzelte ich einmal, dann in rascher Folge mehrmals hintereinander, um ein klareres, vor allem schärferes Bild zu bekommen. Und in diesem Augenblick wurde ich mir plötzlich – so als hätte ich erst durch die körperliche Tätigkeit des Blinzelns einen Körper erhalten und wäre vorher nur auf meinen Verstand reduziert gewesen – meines Körpers und seiner gegenwärtigen Bedürfnisse bewusst.

Auch wenn ich soeben erst erwacht war, fühlte ich mich müde und zerschlagen, als hätte ich in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen, auch wenn ich aufgrund des mühsamen Erwachens eher vermutete, dass ich sehr lange und besonders tief geschlafen hatte. Ein Widerspruch, den ich im Augenblick nicht klären konnte. Mein Mund und meine Kehle fühlten sich staubtrocken und wund an, und ich litt unter schrecklichem Durst. Und in meinem Kopf fühlte ich ein leichtes, aber unangenehmes Pochen, das mir bereits jetzt in Aussicht stellte, im Laufe der nächsten Stunde zu hämmernden Kopfschmerzen heranzuwachsen. Ich wusste zwar nicht, welchem berauschenden Mittel ich diesen Kater zu verdanken hatte, hoffte aber, dass ich wenigstens meinen Spaß gehabt hatte, wenn ich jetzt auch die Folgen zu erdulden hatte.

Nach dieser kurzen, aber schmerzhaften Bestandsaufnahme meines körperlichen Befindens richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Umgebung, die nur langsam klarere Konturen annahm, während mein Blick sich allmählich fokussierte. Allerdings gab es nur wenige Konturen, an denen meine Augen ihre wiedererwachte Sehschärfe trainieren konnten, denn der Raum, in dem ich zu mir gekommen war, war klein und in seiner Ausstattung karg und trostlos. Eierschalenfarbene Wände, eine ebenfalls eierschalenfarbene Decke und eine Tür, die nur unwesentlich heller war, umgaben mich. Möbel gab es, soweit ich sehen konnte, mit Ausnahme des Bettes, auf dem ich lag, keine. Dass es sich um ein Bett handeln musste, schloss ich allein aufgrund der weichen Oberfläche unter meinem ausgestreckt daliegenden Körper, denn als ich meinen Kopf zur Seite bewegen wollte, um mich zu vergewissern, schoss ein schmerzhaftes Ziehen von meiner Nackenmuskulatur bis in mein Gehirn und gesellte sich dort zu seinem entfernten Verwandten, dem heranwachsenden Kopfschmerz.

Wenigstens gelang es mir ohne größere Beschwerden, eine kleine rechteckige Scheibe in der oberen Hälfte der Tür zu entdecken, durch die man einen Blick in dieses Zimmer werfen konnte, ohne die Tür öffnen zu müssen. Allerdings war die Sicht durch das Fenster im Augenblick durch eine Klappe versperrt.

Mein umherwandernder Blick verharrte jedoch nicht, sondern huschte weiter durch den Raum. Er blieb schließlich am letzten Gegenstand hängen, der sich noch im Raum befand. An einem Gestell in einer Ecke des Raumes hing eine Kamera von der Decke. Und das schimmernde Objektiv war genau auf meine auf dem Bett liegende Gestalt gerichtet.

Ich riss schockiert die Augen auf und stöhnte erneut, dieses Mal etwas lauter. Zu differenzierteren verbalen Äußerungen war ich im Moment ohnehin noch nicht in der Lage.

Mein Verstand fühlte sich noch immer so an, als wäre er zuerst in eine dicke Schicht Watte gehüllt und dann in einen zu kleinen Karton gepackt worden, um demnächst per Luftfracht nach Kalkutta oder irgendeinen anderen weit entfernten Ort verschickt zu werden. Meine Gedanken rollten daher so langsam und schwerfällig wie tonnenschwere Bowlingkugeln durch meinen Verstand.

Wer beobachtet mich im Schlaf? Und was noch viel wichtiger war: Aus welchem Grund werde ich im Schlaf beobachtet?

Die dumpf klingenden Worte hörten sich an wie eine Tonbandaufnahme, die mit zu geringer Geschwindigkeit abgespielt wurde, und rollten zunächst ziellos und scheinbar auch sinnlos wie die durcheinanderkullernden Perlen einer zerrissenen Kette durch meinen Kopf, um sich dann doch noch zu vernünftigen Sätzen aneinanderzureihen. Erleichtert erkannte ich, dass es nur meine eigene innere Stimme war, die zu mir sprach.

Doch meine Erleichterung währte nur den Bruchteil eines Augenblicks, denn meine Empörung darüber, dass mich jemand mithilfe dieser Kamera mehr oder weniger heimlich beobachtete, steigerte sich mit jeder Sekunde. Direkt unter der Linse leuchtete eine kleine grüne Diode und bewies mir, dass die Kamera in diesem Augenblick in Betrieb war und die Aufnahmen an einen anderen Ort übertrug, wo sie entweder unmittelbar über einen Monitor angesehen oder zumindest aufgezeichnet wurden.

Zornig stemmte ich meinen Oberkörper empor und wollte mich im Bett aufrichten. Doch ich fiel sofort wieder auf die Matratze zurück, als ich mit dem Brustkorb auf Widerstand stieß und meine Brüste schmerzhaft zusammengequetscht wurden. Ich schluckte die wenig damenhafte Verwünschung, die mir auf der Zunge lag, hinunter – vorwiegend, weil ich meiner Stimme noch nicht traute – und stieß stattdessen erneut ein gequältes Stöhnen aus. Dann richtete ich meinen Blick nach unten, sah auf meinen Körper, und entdeckte einen breiten, brauen Ledergurt, der von einer Seite des Bettes zur anderen verlief und über meinen sich rasch hebenden und senkenden Brustkorb gespannt war. Ähnliche, wenngleich etwas schmalere und kürzere Gurte fesselten sowohl meine Hand- als auch meine Fußgelenke an den metallenen Rahmen des Bettes. Nur am Rande nahm ich außerdem wahr, dass ich einen hellblauen Pyjama trug und von den Schienbeinen bis zum Bauch von einer leichten weißen Decke verhüllt wurde.

Eine weitere, wesentlich schrecklichere Verwünschung bildete sich in dem Teil meines Verstandes, in dem die Niedertracht das Zepter schwingt und in dem derartige verbale Widerwärtigkeiten geboren werden. Ein Ort, der möglicherweise an einen stinkenden, sumpfigen Pfuhl erinnert, an dessen Oberfläche übel riechende Fluchblasen zerplatzen, prall gefüllt mit Obszönitäten und Gemeinheiten. Und dieses Mal, das wusste ich instinktiv, würde es mir nicht mehr gelingen, die Worte zu unterdrücken, ob meine Stimme nun mitmachte oder nicht. Dieses Mal musste ich meinem Ärger über die Behandlung, die mir hier widerfuhr – heimlich observiert und ans Bett gegurtet wie der übelste Schwerkriminelle –, Ausdruck verleihen.

Ich hatte bereits den Mund geöffnet, doch noch bevor ich den ersten Ton des üblen Wortschwalls über die Lippen bringen konnte, hörte ich ein schrilles, durch Mark und Bein gehendes Quietschen wie von einem nicht geölten Scharnier, das schätzungsweise die letzten 184 Jahre nicht in Gebrauch gewesen war, und unmittelbar darauf ein hölzernes Klappern.

Mein wüster Fluch blieb mir förmlich in der Kehle stecken. Ich sah erschrocken zur Tür, dem Ursprung der plötzlichen Geräusche, und bemerkte, dass die Klappe hinter der gläsernen Scheibe geöffnet worden war. Ein Paar leuchtend blauer Augen sah mich durch das nicht ganz saubere Glas aufmerksam an und verschwand wieder, ehe die Klappe kreischend und klappernd geschlossen wurde. Gedämpft hörte ich das Klirren von Schlüsseln, bis einer davon ins Schloss geschoben und rasselnd gedreht wurde, bevor sich die Tür schließlich leise knarrend öffnete.

Kapitel 2

An dem Mann, der durch die offene Tür trat, fiel mir zuallererst die Größe auf, denn er musste sich leicht bücken und den Kopf einziehen, um nicht am oberen Türrahmen anzustoßen. Ich schätzte seine Körpergröße daher auf eins fünfundneunzig, obwohl er mir in diesem Moment aus meiner Perspektive noch gigantischer, ja geradezu wie ein Riese erschien.

Die übrigen Proportionen seines komplett in Weiß gekleideten Körpers passten zu seiner imposanten Größe. Sein Brustkorb war eindrucksvoll, wirkte dabei aber keineswegs zu breit, und er machte auch sonst einen sehr kräftigen, durchtrainierten Eindruck, ohne dick oder aufgeschwemmt zu sein. Das leicht gelockte, blonde Haar war schulterlang und zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Seine Kleidung – kurzärmliges Hemd und Leinenhose – erinnerte mich unwillkürlich an einen Pfleger in einem Krankenhaus und gab mir damit, verbunden mit der Tatsache, dass ich mit Gurten ans Bett gefesselt war, eine erste, wenn auch nicht sehr angenehme Vorstellung von dem Ort, an dem ich mich gegenwärtig befand. Doch fürs Erste verdrängte ich die langsam und bedrohlich in mir heraufdämmernde Erkenntnis, um mich stattdessen voll und ganz auf meinen Besucher zu konzentrieren, der nun unmittelbar neben dem Bett stand, an das ich geschnallt war, und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck und der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen auf mich herabsah. Über dem linken Unterarm trug er, wie ich erst jetzt bemerkte, ein Bündel zusammengelegter Kleidungsstücke, das in seinen riesigen Armen geradezu winzig wirkte.

»Mein Name ist Gabriel. Wie geht es Ihnen?«

Seine Stimme klang tief und grollend, gleichzeitig aber auch sehr angenehm. Sie wirkte – ebenso wie seine ganze Erscheinung – beruhigend auf mich. Die Verärgerung über die Fesselung und die Kamera, die noch kurz zuvor in mir gekocht hatte, war seit seinem Erscheinen immer mehr in sich zusammengesunken wie eine aufblasbare Gummifigur, aus der zischend die Luft entwich, und verebbte nun nahezu vollkommen. Anstatt meiner Erregung also lautstark Luft zu machen, wie ich es vor seinem überraschenden Auftauchen eigentlich vorgehabt hatte, dachte ich stattdessen über seine Frage und insbesondere eine passende Antwort darauf nach.

Ich zuckte mit den Schultern, was mir trotz der Gurte möglich war, räusperte mich und sagte dann mit erstaunlich klarer, wenn auch schwacher Stimme: »Es geht so. Ich habe leichte Kopfschmerzen, aber die sind noch zu ertragen. Viel schlimmer ist der Durst. Könnte ich vielleicht etwas Wasser bekommen?« Sobald ich diesen Wunsch geäußert hatte, fiel mir ein, dass ich im Zimmer weder ein Waschbecken noch ein Wasserglas gesehen hatte. Wahrscheinlich musste ich mich also noch etwas gedulden, bevor ich meinen Durst stillen konnte.

Gabriel bestätigte meine Einschätzung auch sogleich. »Sie bekommen etwas zu trinken, sobald ich Sie zum Doktor gebracht habe.«

»Doktor?«, fragte ich, während das Wort in meinem Verstand widerhallte wie die Glocke einer Friedhofskapelle. Die düsteren Ahnungen über meinen Aufenthaltsort kehrten mit Macht zurück, und mir brach der Schweiß aus. Gleichzeitig blitzten in meinem Kopf in rasender Folge Fragen auf, schneller noch, als ich sie zu stellen vermochte. Während ich sprach, überschlug sich meine Stimme und wurde vor Verzweiflung immer schriller. »Von welchem Doktor sprechen Sie? Wo bin ich? Und warum bin ich überhaupt hier? Warum werde ich beobachtet? Wer hat das angeordnet? Und wieso wurde ich festgeschnallt? Wer ist für all das verantwortlich? Wo …?«

 

Ich verstummte abrupt, als Gabriel die rechte Hand hob, als wollte er damit wie mit einem Schutzschild die auf ihn einprasselnden Fragen abwehren, und mir Einhalt gebot. Doch anstatt auf meine Fragen zu antworten, stellte er selbst eine Frage an mich. »Erinnern Sie sich denn nicht?«

Die Frage klang auf den ersten Blick einfach, doch sie brachte mich dennoch aus dem Konzept. Natürlich erinnere ich mich!, dachte ich fast trotzig und begann, in meinem Gedächtnis nach den entsprechenden Erinnerungen zu suchen, da sie nicht sofort präsent waren. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich wurde nicht fündig. Dies erschien mir auch logisch, denn warum hätte ich ihm sonst all diese Fragen stellen sollen, wenn ich die Antworten darauf selbst gekannt hätte.

Gabriel hatte mich währenddessen aufmerksam beobachtet. Ich hatte das unangenehme Gefühl, er würde in diesem Moment bis tief in meine Seele blicken und dort erkennen, dass ich mich nicht erinnern konnte. Ohne meine Antwort abzuwarten, die mir unter Umständen ohnehin vom Gesicht abzulesen war, fuhr er fort: »Wissen Sie denn wenigstens, wie Sie heißen? Können Sie mir Ihren Namen nennen?«

Diese Fragen erschienen mir schon wesentlich einfacher. Ich öffnete den Mund, und eigentlich hätte die Antwort darauf, nämlich die Nennung meines Namens, wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Doch als nichts dergleichen geschah, und ich stattdessen stumm wie ein Fisch blieb und immer angestrengter nachdenken musste, wurde mir schlagartig und mit erschreckender Gewissheit bewusst, dass es gar keine einfachen Fragen waren. Zumindest nicht für mich und nicht in diesem Augenblick. Gleichzeitig wurde für mich deutlich, dass ich wohl ein wesentlich größeres Problem hatte, als ich zunächst angenommen hatte.

Dennoch ließ ich mich nicht so schnell entmutigen. Ich schloss die Augen, um jede Ablenkung durch die Außenwelt auf ein Minimum zu reduzieren, und forschte noch intensiver in den Tiefen meines bodenlos wirkenden Verstandes. Das gibt es doch nicht, dass ich mich nicht mehr an meinen eigenen Namen, nicht einmal mehr an mich selbst erinnern kann, dachte ich grimmig. Natürlich hatte ich von derartigen Fällen bereits gehört oder gelesen – Amnesie wurde dieser Zustand genannt –, aber das konnte doch nicht mir widerfahren sein. Mein Name ist … Ich bin … Doch an diesem Punkt kam ich einfach nicht weiter.

Meine Gedanken stießen immer tiefer in mein Gedächtnis wie bohrende, tastende, suchende Finger und forschten dort geradezu fieberhaft – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn mir wurde schlagartig heiß und der Schweiß brach mir aus, obwohl ich diese körperlichen Empfindungen nur am Rande wahrnahm – nach jedem noch so winzigen Fetzen einer Information, die mir einen Anhaltspunkt für die Antworten auf Gabriels Fragen geben könnte. Plötzlich hatte ich das starke Empfinden, ganz nah dran zu sein, so als würde mir der Name gleich auf der Zunge liegen, sodass ich ihn nur noch aussprechen musste. Doch dann stießen meine Gedankenfinger unvermittelt ins Leere. Sie tasteten umher wie der Stock eines Blinden, trafen jedoch nirgends in ihrer unmittelbaren Umgebung auf den geringsten Widerstand. Ein ziemlich ausgedehnter Bereich aus absolutem Nichts schien sich an dieser Stelle meines Gedächtnisses zu befinden, an der eigentlich Tausende von Erinnerungen zu finden sein müssten. Wie eine ausgedehnte Fläche Ödland inmitten eines grünen, wuchernden Regenwaldes, auf der absolut nichts, nicht einmal ein winziger Grashalm wuchs.

Ich glaubte, einen schwachen Sog wahrzunehmen, der von dieser unheimlichen Leere in meinem Gedächtnis ausging, nach meinem tastenden Verstand griff und ihn in das unheimliche Nichts zerren wollte wie in ein schwarzes Loch. Ich zog meine Gedankenfinger daher so schnell wie möglich wieder etwas zurück, konnte es jedoch nicht lassen, weiterhin die Ränder dieses Leerraums prüfend abzutasten, so wie man mit der Zunge immer wieder ungewollt über eine wunde Stelle im Zahnfleisch streicht, obwohl man genau weiß, dass man das besser bleiben lassen sollte. Ich stellte dabei fest, dass es im Grunde keinen gleitenden Übergang gab, sondern der Bereich mit intakten Erinnerungen – die allerdings nur allgemeine und keine persönlichen Dinge betrafen – schlagartig endete, so als wäre mit einem scharfen Skalpell ein bestimmter Bereich meines Gehirns herausgeschnitten worden. Das war natürlich absoluter Blödsinn, wie selbst mir als Laie im Bereich der Gehirnchirurgie klar war.

Ich testete Erinnerungen und Fähigkeiten, die in den unbeschädigten Bereichen meines Verstandes gespeichert waren. Ich konnte mich an zahlreiche Personen der Zeitgeschichte, Orte, geschichtliche Ereignisse und eine Unmenge anderer Dinge erinnern. Ich war problemlos in der Lage, einfache und sogar kompliziertere Rechenaufgaben zu lösen und ganze, willkürlich gewählte Sätze ins Englische, ins Französische und teilweise sogar ins Lateinische zu übersetzen, obwohl ich bei Letzterem schon größere Schwierigkeiten hatte.

Insgesamt betrachtet machte es mir also keine besondere Mühe, mich innerhalb kurzer Zeit an all diese eher allgemeinen Informationen zu erinnern. Doch sobald ich wieder in den Bereich vorstieß, in dem sich die persönlichen Erinnerungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens in seinem Gedächtnis abspeichert, hätten befinden müssen, fand ich nichts anderes als die schrecklich gähnende Leere. Alles, was mich persönlich betraf – mein Name, meine gesamte Vergangenheit, im Grunde mein komplettes bisheriges Leben –, war wie ausgelöscht. Beinahe kam es mir so vor, als hätte ich vor meinem Erwachen überhaupt nicht existiert.

Ein furchtbarer Gedanke, der mir Angst machte.

Kapitel 3

Schließlich gab ich auf, zog meine gedanklichen Finger aus den Tiefen meines Verstandes und öffnete die Augen.

Es waren scheinbar nur wenige Sekunden vergangen, obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, denn Gabriels Gesichtsausdruck hatte sich nicht im Geringsten verändert. Immer noch sah er interessiert und freundlich auf mich herab und wartete auf eine Antwort, ohne zu ahnen, welches Drama sich soeben in meinem Verstand abgespielt hatte.

Ich spürte den Schweiß, der mir unter anderem in Form unzähliger kleiner Perlen auf der Stirn stand, und hatte plötzlich Mühe, ein Schluchzen und die Tränen zurückzuhalten, die meine Augen zu überschwemmen drohten. Zu groß war in diesem Moment die Enttäuschung über die niederschmetternde Erkenntnis, dass ich eine Frau ohne Namen und Vergangenheit war.

Da ich befürchtete, in lautes, unkontrollierbares Schluchzen auszubrechen, sollte ich versuchen, auch nur ein einziges Wort zu äußern, beschränkte ich mich darauf, den Kopf zu schütteln. Dabei lösten sich zahlreiche Schweißtropfen von meiner Stirn, liefen mir übers Gesicht und vermischten sich mit ein paar Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte und die mir aus den Augenwinkeln rannen.

Gabriel verstand, was ich damit ausdrücken wollte. Er nickte, während sich ein mitfühlender Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete. In diesem Moment glaubte ich zu erkennen, dass in der breiten Brust dieses im wahrsten Sinne des Wortes großen Mannes auch ein mindestens ebenso großes Herz schlagen musste.

»Das haben wir befürchtet!« Gabriel runzelte nachdenklich die Stirn, ließ aber offen, wen er mit wir meinte. »Aber wenigstens kann ich Ihnen in einer Sache weiterhelfen: Ihr Name ist Sandra Dorn.«

Sandra Dorn – Sandra Dorn – Sandra … Dorn – Sandra … Dorn – San…dra … Dorn – Sa…n…d…ra … D…or…n …

Der Name wirbelte durch meinen Kopf wie eine aufgeregte Fliege in einem verschlossenen Marmeladenglas, erzeugte immer wieder neue Echos, die von den Innenwänden meines Schädels abprallten wie verbale Querschläger, sich überlagerten und in ihre Einzelteile, ihre Silben, ja sogar ihre einzelnen Buchstaben zersplitterten, bis die beiden Worte jegliche Bedeutung verloren hatten, ohne während all dessen auch nur einmal ein Gefühl von Vertrautheit oder Wiedererkennen in mir auszulösen.

Zunächst hatte ich noch gehofft, die Nennung meines Namens würde, einer Initialzündung gleich, eine Flut weiterer Erinnerungen auslösen, die aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hervorströmten und meinen Verstand überschwemmten, doch nichts dergleichen geschah. Es schienen nur zwei einfache Worte zu sein, die Bezeichnung einer Person zwar, aber ohne eine besondere Beziehung zu mir oder eine tiefere Bedeutung für mich persönlich.