Vier Todesfälle und ein Tankstellenraub & Der tote Kapitän im Wald

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Vier Todesfälle und ein Tankstellenraub & Der tote Kapitän im Wald
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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

VIER TODESFÄLLE UND EIN TANKSTELLENRAUB

PROLOG

1.

2.

ERSTER TEIL - Die Ermittlungen

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

ZWEITER TEIL - Die Ermittlungsergebnisse

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

EPILOG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

DER TOTE KAPITÄN IM WALD

1

2

3

4

5

6

7

8

ANMERKUNGEN DES AUTORS

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE


PROLOG

1.

Oberhofberg, Tankstelle in der Fürstenfeldbrucker Straße

10. April 2013, 21:51 Uhr

Das Unheil begann in dieser mondlosen Nacht mit der Ankunft des Fahrradfahrers an der Tankstelle, aber das ahnte Fabian Becker zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und er wusste auch nicht, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, sonst hätte er sich in den letzten Minuten seines Lebens vermutlich ganz anders verhalten.

Fabian arbeitete gern in der Tankstelle. Vor allem in einer Nacht wie dieser. In exakt neun Minuten würde er die Tür verschließen und die Kunden nur noch über den Nachtschalter bedienen. Allerdings war momentan ohnehin nichts los. Fabian überlegte, ob er schon jetzt abschließen sollte, dann könnte er sich noch besser auf die zweite Halbzeit des Champions-League-Viertelfinales zwischen Juventus Turin und Bayern München konzentrieren, die vor zwei Minuten angepfiffen worden war. Wenn allerdings vor 22 Uhr doch noch ein Kunde kommen sollte und sich bei Fabians Chef beschwerte, würde es nur wieder Ärger geben. Darauf konnte Fabian aber gut und gerne verzichten, deshalb beschloss er, alles korrekt nach Vorschrift zu machen und die paar Minuten auch noch abzuwarten.

Wenigstens hatte er den Fernseher, um das Spiel nebenbei verfolgen zu können. Es handelte sich um ein kleines, tragbares Röhrengerät, das bestimmt schon mehr als fünfzehn Jahre alt war, damit gewissermaßen aus der Steinzeit des Fernsehzeitalters stammte und auf zwei aufeinandergestapelten, leeren Bierkästen hinter dem Verkaufstresen stand. Der Bildschirm war im Vergleich zu dem Flachbildgerät, das er zu Hause hatte, geradezu winzig, aber er funktionierte und erfüllte somit seinen wichtigsten Zweck. So konnte Fabian das wichtige Spiel seines Lieblingsvereins gegen Juve verfolgen, während er gleichzeitig arbeitete und Geld verdiente. Und falls tatsächlich ein Kunde kam, konnte er den Fernseher mit der Fernbedienung unter der Theke einfach stumm schalten.

Soeben, es war die 49. Minute des Spiels, schoss der Turiner Spieler Fabio Quagliarella aus 17 Metern aufs Tor der Bayern. Fabian, der rein zufällig die deutsche Version desselben Vornamens trug, beobachtete atemlos und mit offenem Mund, wie der Ball gegen den Außenpfosten knallte, und vergaß dabei ganz, den Bissen seines Salami-Baguettes weiter zu kauen, den er gerade im Mund hatte.

Puh, gerade noch mal gut gegangen. Er atmete erleichtert durch, kaute weiter und schluckte dann.

Aus den Augenwinkeln registrierte er eine Bewegung vor der Tankstelle. Obwohl er den Blick nur ungern vom Bildschirm abwandte, aus Angst, er könnte die nächste spannende Torszene oder unter Umständen sogar das erste Tor verpassen, hob er automatisch den Kopf und sah nach draußen.

Er hatte mit einem Auto gerechnet, das an eine der vier Zapfsäulen gefahren war, doch es war nur ein Fahrradfahrer. Was wollte der denn hier? Allem Anschein nach war er kein Fußballfan, sonst säße er jetzt gemütlich zu Hause oder in seiner Stammkneipe vor der Glotze. So wie unzählige andere, die noch bis kurz vor dem Anpfiff hier gewesen waren, getankt hatten oder auf den letzten Drücker Getränke und Knabberzeug für einen spannenden Fernsehabend besorgt hatten. Zu der Zeit bis ungefähr fünf Minuten vor Spielbeginn war an der Tankstelle noch richtig viel los gewesen, beinahe schon Hochbetrieb, und Fabian war kaum mit dem Kassieren nachgekommen und gehörig ins Schwitzen geraten. Danach war aber kaum jemand gekommen, lediglich ein halbes Dutzend Kunden in der Halbzeitpause, sodass Fabian ganz ohne Störung die erste Halbzeit hatte verfolgen können.

Jetzt war es allerdings mit der Ruhe vorbei, denn der Radfahrer hatte mittlerweile sein Rad neben der Eingangstür abgestellt, marschierte zur Eingangstür und öffnete sie, sodass die Glocke läutete, die darüber angebracht war.

Fabian seufzte leise, als der Fahrradfahrer die Tankstelle betrat, und biss ein weiteres Stück von seinem Baguette ab. Er behielt den Kunden noch ein paar Sekunden im Auge, bis dieser, nachdem er sich kurz umgesehen und offenbar orientiert hatte, zum Zeitschriftenregal ging.

Der Radfahrer trug einen grünen Overall, wie ihn sonst nur Bundeswehrpiloten anhatten, allerdings ohne Rangabzeichen, und schwarze Stiefel. Er wirkte merkwürdig unförmig, so als trüge er unter dem Overall noch einen Pullover und ein zweites Paar Hosen, aber das war bei den derzeitigen niedrigen Temperaturen und der Tatsache, dass er nachts mit dem Fahrrad unterwegs war, nicht weiter verwunderlich. Darüber hinaus hatte er eine dunkelblaue Baseballkappe auf dem Kopf, deren langer Schirm die obere Hälfte seines Gesichts und seine Augen beschattete, und einen sehr dichten, schwarzen Vollbart.

Irgendetwas an der Art, wie sich der Typ bewegte und umsah, kam Fabian merkwürdig vor. Er kam jedoch nicht darauf, was ihn daran störte. Außerdem war das momentan auch nicht so wichtig. Wichtiger war das Fußballspiel, dem er nun schon zu lange keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Fabian biss vom Baguette ab, kaute mechanisch und richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. Es war die 52. Spielminute und stand zum Glück immer noch null zu null. Thomas Müller dribbelte in den gegnerischen Strafraum. Fabians Pulsfrequenz stieg, während er auf das erste Tor für die Münchener hoffte. Doch daraus wurde nichts, denn der Bayern-Spieler wurde abgeblockt.

Fabian sah rasch auf die Uhr. Es war bereits 21:55 Uhr, in 5 Minuten würde er die Eingangstür abschließen.

 

In diesem Moment fuhr draußen ein Auto an die Zapfsäule Nummer 2. Fabian bemerkte es erneut aus dem Augenwinkel und richtete den Blick nach draußen. Ein Mann, vermutlich ein paar Jahre älter als Fabian, stieg aus dem Wagen, umrundete den BMW und öffnete den Tankdeckel. Dann nahm er den Zapfhahn und steckte ihn in die Tanköffnung. Während das Benzin in den Tank floss, sah er sich aufmerksam um.

Fabian warf ganz automatisch einen Blick auf den Monitor der Überwachungskameras seitlich unter der Theke, doch der Bildschirm war dunkel. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass die Anlage defekt war und erst am folgenden Vormittag repariert werden sollte.

Er sah stattdessen wieder zum Fahrradfahrer am Zeitschriftenregal, der die Ankunft des Autofahrers ebenfalls bemerkt hatte und in diesem Moment über die Schulter nach draußen blickte. Das Auftauchen eines weiteren Kunden schien ihn zu größerer Eile anzutreiben, denn er kam mit einer Zeitschrift in der Hand und zügigen Schritten durch den linken der beiden Gänge, die zwischen den Warenregalen entlangführten, auf die Kasse zumarschiert.

Fabian nahm noch einen Bissen von seinem verspäteten Abendessen, bevor er es in die Ablage unter dem Verkaufstresen legte. Dann griff er nach der Fernbedienung für den Fernseher, die direkt daneben lag, und stellte das Gerät mit einem Knopfdruck stumm. Er warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, aber es schien sich zwischenzeitlich nichts Dramatisches ereignet zu haben, denn die Partie war noch immer torlos.

Nachdem Fabian die Fernbedienung neben das Baguette gelegt und den Blick gehoben hatte, sah er, dass draußen ein Motorrad gehalten hatte. Allerdings stand es nicht an einer der Zapfsäulen, sondern zehn Meter vom Eingang entfernt bei den Münzstaubsaugern.

Verdammter Mist!, dachte Fabian verärgert. Da er erst den Radfahrer abkassieren musste und zwischenzeitlich vermutlich auch noch der Auto- und der Motorradfahrer in die Tankstelle kamen, würde er es wohl heute nicht schaffen, die Eingangstür pünktlich zu verriegeln.

Der Radfahrer war kurz stehengeblieben und hatte über die Schulter hinweg ebenfalls die Ankunft des Motorradfahrers verfolgt. Nun ging er rasch weiter.

Fabian hatte noch immer einen vollen Mund, als der Fahrradfahrer auch schon den Kassentresen erreichte, auf den er mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk die Zeitschrift warf, bevor er in den Overall griff, der vorne bis zur Höhe des Bauchnabels offen stand, und einen Gegenstand hervorholte, dessen glänzende Oberfläche das Licht der Leuchtstoffröhren unter der Decke reflektierte.

»Das ist ein Überfall!«, sagte der Fahrradfahrer mit tiefer, offenkundig verstellter Stimme. »Lass dir bloß keine Dummheiten einfallen, Freundchen …!«

Es war 21:57 Uhr, und Fabian hatte nur noch wenige Minuten zu leben.

2.

Sieben Schlagzeilen aus dem Lokalteil des Oberhofberger Kuriers vom 11. April 2013:

»Champions-League: Bayern gewinnt Viertelfinal-Rückspiel gegen Juventus Turin. Zwei Bundesligisten unter den letzten vier Mannschaften.«

»Tödlicher Tankstellenraub. Unbekannter Täter erschießt Kassierer und entkommt unerkannt mit Beute.«

»Autodieb fährt gestohlenen Wagen in Weiher und ertrinkt.«

»Fahrraddiebstahl in der Rosenstraße. Hochwertiges Trekking Bike aus offener Garage gestohlen.«

»Mord im Stadtpark. Erstochener Drogensüchtiger vermutlich Opfer eines misslungenen Drogendeals.«

»Unbekannte von ICE überrollt. Behörden gehen von Suizid aus.«

»Bürgermeister entsetzt über Häufung von Gewaltdelikten. Laut Polizei keine Verbindung zwischen den Ereignissen der letzten Nacht.«

ERSTER TEIL

Die Ermittlungen

1.

Fürstenfeldbruck, Büro der Mordkommission

11. April 2013, 8:58 Uhr

Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer von der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck nahm einen Kugelschreiber aus dem Stifthalter seines Schreibtischs und umrandete mehrere Schlagzeilen auf der ersten Seite des Lokalteils des Oberhofberger Kuriers, einer Lokalausgabe des Münchner Merkurs, vom heutigen Tag mehrmals.

Es wunderte ihn nicht einmal, dass die Zeitung so flott gewesen war und noch alle Vorkommnisse der zurückliegenden Nacht in ihrer aktuellen Ausgabe untergebracht hatte, denn er hatte einen ihrer Reporter gesehen, den er von früheren Begegnungen kannte, als er selbst kurz vor Mitternacht am ersten Tatort in Oberhofberg eingetroffen war. Der Polizeireporter war vermutlich schon viel früher, wahrscheinlich sogar unmittelbar nach den alarmierten Streifenbeamten vor Ort gewesen, weil er entweder einen Informanten bei der Polizei hatte oder illegal den Polizeifunk abhörte. Schäringer hatte ihm grüßend zugenickt, während der Reporter mit seinem Handy am Ohr bereits die ersten Berichte an seine Zeitung durchgegeben hatte, die unmittelbar danach in Druck gegangen sein mussten, damit die Tageszeitung noch rechtzeitig fertig werden konnte.

Anwohner hatten nach einem Schuss in der Tankstelle in der Fürstenfeldbrucker Straße kurz nach 22 Uhr umgehend die Polizei alarmiert. Nachdem die Besatzung des Streifenwagens die Tankstelle überprüft und den toten Kassierer gefunden hatte, hatte sie sofort die Zentrale informiert und Verstärkung angefordert, um den Tatort zu sichern, die Umgebung abzusuchen und erste Fahndungsmaßnahmen einleiten zu lassen. Im Verlauf dieser Suche nach dem Täter oder den Tätern in Oberhofberg war dann auch der erstochene Motorradfahrer im öffentlichen Park entdeckt worden. Und nur kurze Zeit später hatte ein Anwohner, der mit seinem Hund Gassi gegangen war, einen Einsatzwagen angehalten und von einem Loch im Zaun, der den Weiher umgab, berichtet. Es sehe ganz so aus, als sei da ein Auto durchgebrettert, hatte er gesagt. Und tatsächlich war bei der anschließenden Überprüfung im Weiher ein versunkener BMW gefunden worden, der kurz zuvor 50 Kilometer entfernt gestohlen worden war. Der Fahrer und mutmaßliche Autodieb hatte noch immer am Steuer gesessen, offensichtlich ertrunken. Und als wäre das alles noch nicht genug für einen Ort und eine Nacht gewesen, war die Meldung von einem Selbstmord an den Bahngleisen eingegangen, wo sich eine junge Frau allem Anschein nach vor den ICE geworfen hatte, der gerade aus einem Tunnel gekommen war.

Nachdem Schäringer alle Artikel markiert hatte, die ihm interessant erschienen waren, las er sie noch einmal der Reihe nach durch, runzelte nachdenklich die Stirn und schüttelte dann den Kopf.

Die Tür zum Büro ging auf, und Kriminalkommissar Lutz Baum, Schäringers Mitarbeiter in der Mordkommission, trat ein. Er schlurfte zu seinem Schreibtisch und ließ sich dann auf den Drehstuhl fallen, als hätte er zu dieser frühen Stunde schon einen Marathonlauf hinter sich. Baum war mittelgroß, hatte kurzes, gelocktes Haar in der Farbe frisch geernteter Karotten und neigte zum Übergewicht, was sich allerdings noch nicht an seinem ganzen Körper, sondern momentan bevorzugt in den Regionen um Bauch und Hüften und im Gesicht zeigte und vermutlich auf seine Vorliebe für gutes, reichhaltiges Essen und Berge von Süßigkeiten zwischen den Mahlzeiten zurückzuführen war. Der 38-Jährige stöhnte, ehe er den Becher mit Automatenkaffee an die Lippen setzte und schlürfend einen großen Schluck nahm.

Schäringer sah zu und verzog angewidert das Gesicht. Er konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie man die Brühe aus dem sogenannten »Kaffeeautomaten« im Aufenthaltsraum trinken konnte, ohne sich Mund, Speiseröhre und Magen zu verätzen. Er hatte ein einziges Mal vor vielen Jahren einen Schluck getrunken, aber sofort wieder ausgespuckt, weil der Geschmack ihn an viele andere eklige Dinge, nur nicht an Kaffee erinnert hatte. Sein jüngerer Kollege trank hingegen jeden Morgen seine zwei bis drei Tassen mit extra viel Zucker, ohne mit der Wimper zu zucken oder unter ernsthaften Folgen für seine Gesundheit zu leiden. Manchmal trank er auch mehr Automatenkaffee, wenn er, so wie es nach seinem Aussehen zu schließen auch heute Morgen wieder der Fall war, in der Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte und übermüdet war.

»Brauchst du eigentlich gar keinen Schlaf, Franz?«, fragte Baum, nachdem er seinen Kaffeebecher ächzend auf den Schreibtisch gestellt, vorsichtig ein tonnenschweres Augenlid gehoben und einen Blick auf Schäringer geworfen hatte. »Wahrscheinlich bist du schon seit Stunden hier und hast die beiden Mordfälle von letzter Nacht längst gelöst, habe ich recht?«

Schäringer schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Lutz. So lange bin ich auch noch nicht da. Allerdings habe ich schon allein durch das morgendliche Zeitungsstudium genügend Ideen gesammelt, wo ich heute mit meinen Ermittlungen ansetzen werde. Übrigens brauche ich sehr wohl meinen Schlaf, vielleicht nur ein bisschen weniger als du.«

Im Gegensatz zu seinem jüngeren Kollegen war Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer sehr schlank und mit seinen ein Meter neunzig um mehr als einen Kopf größer. Obwohl er schon deutlich auf die Sechzig zusteuerte – es waren gerade mal zweieinhalb Jahre bis dahin –, war in seinem aschblonden Haar mit Ausnahme der Schläfen nur wenig Grau zu entdecken. Wie immer trug er einen der 2-teiligen Anzüge, die er vor ein paar Jahren im Katalog eines Versandhandels gesehen und der Einfachheit halber gleich in den Farben braun, mittelgrau, mitternachtsblau und schwarz bestellt hatte – am heutigen Tag war der mittelgraue an der Reihe –, ein weißes Hemd und eine Krawatte.

Lutz Baum war in der letzten Nacht ebenfalls über die Morde informiert und zu den Tatorten gerufen worden. Zum Glück war das Spiel der Bayern gegen Juve schon vorbei gewesen, als sein Telefon geklingelt hatte, sonst wäre er vermutlich ziemlich sauer und unausstehlich gewesen. Nach zweieinhalb Stunden in der Tankstelle und im Stadtpark, wo sich die beiden Kriminalbeamten einen ersten Eindruck von den Mordopfern, Tatorten und Tatumständen verschafft und erste, noch sehr vage und vorsichtige Informationen von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin erhalten hatten, waren Schäringer und Baum wieder nach Hause gefahren – es war mittlerweile zwanzig nach zwei –, um in dieser Nacht wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, bevor sie heute Vormittag mit vollem Elan in die Ermittlungen der beiden Morde einstiegen. Baum ließ von diesem Elan momentan allerdings wenig erkennen.

»Selbst heute schon Zeitung gelesen?«, fragte Schäringer.

Baum schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf, nahm den Kaffeebecher und trank ihn leer. »Steht heute etwa etwas Interessantes drin?«

»Kann man so sagen. Es gibt zum Beispiel schon erste Berichte über unsere beiden Morde.«

Baum hob die Augenbrauen und machte ein überraschtes Gesicht. »Das ging aber schnell. Allerdings weiß ich über die Morde schon Bescheid, weil ich persönlich an den Tatorten war und mir dort die halbe Nacht um die Ohren schlagen musste. Da muss ich also nichts mehr in der Zeitung darüber lesen. Sonst noch was?«

Schäringer wiegte den Kopf hin und her. »Kommt ganz drauf an. Was hältst du davon, wenn ich dir sieben Schlagzeilen vorlese, die ich ausgewählt habe. Mal sehen, was du darüber denkst. Pass auf!«

»Ich bin ganz Ohr. Die Augen muss ich dazu ja nicht unbedingt offen haben, oder?«

»Hauptsache, du spitzt die Ohren, der Rest deines Körpers interessiert mich nicht. Also, hier kommt die erste Schlagzeile: Champions-League: Bayern gewinnt Viertelfinal-Rückspiel gegen Juventus Turin. Zwei Bundesligisten unter den letzten vier Mannschaften. Was sagst du dazu!«

»Das finde ich als Roter natürlich super«, sagte Baum, der von einer Sekunde zur anderen viel aufgeweckter wirkte, als das Gespräch auf seinen Lieblingsverein kam. »Die Bayern haben verdient gewonnen und sind völlig zu Recht weitergekommen, findest du nicht auch? Aber seit wann interessierst du dich eigentlich für Fußball?«

»Ich habe mich noch nie für Fußball interessiert und interessiere mich auch jetzt nicht besonders dafür. Allerdings steht es in Zusammenhang mit dem Tankstellenüberfall und dem Mord am Kassierer.«

»Ach ja? Inwiefern das?«

»Als wir am Tatort waren, lief auf dem kleinen Fernseher hinter der Verkaufstheke noch immer der Sender, der zuvor das Spiel übertragen hatte. Der Kassierer, sein Name war, Moment, …« Schäringer beugte sich nach vorn, schlug eine der beiden dünnen Akten auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, und las auf der ersten Seite den Namen des Opfers. »… genau, Fabian Becker verfolgte also während der Arbeit das Champions-League-Viertelfinale, als er erschossen wurde. Allerdings war der Ton stumm geschaltet, vermutlich, weil ein Kunde – höchstwahrscheinlich sogar der Mörder – zur Theke gekommen war.«

 

»Okay. Aber ist das überhaupt von Bedeutung?«

Schäringer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. In einem Mordfall weiß man am Anfang nie, was später noch wichtig werden kann.«

Baum seufzte und verdrehte die Augen. »Du denkst mal wieder viel zu kompliziert und um tausend Ecken herum, Franz. Aber wenn du dich unbedingt wieder in solchen Kleinigkeiten verrennen willst, die mit dem Fall ohnehin nichts zu tun haben, von mir aus. Ich ziehe es stattdessen vor, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und kläre damit unsere beiden Fälle in der Hälfte der Zeit. Aber du hast von sieben Schlagzeilen gesprochen. Lies doch mal die nächste vor!«

»Gut. Hör zu! Tödlicher Tankstellenraub. Unbekannter Täter erschießt Kassierer und entkommt unerkannt mit Beute.«

»Jetzt beginnt es endlich, interessant zu werden, denn das ist unser Fall Numero Uno. Allerdings können es auch durchaus mehrere Täter gewesen sein. Schade, dass die Überwachungsanlage defekt war, dann wären wir jetzt schon erheblich schlauer. Meinst du, da hat jemand absichtlich dran gedreht oder nur die Gunst des Augenblicks genutzt?«

»Es schadet zumindest nichts, die anderen Beschäftigten des Tankstellenpächters und die Firma zu überprüfen, die sich um die Überwachungsanlage kümmert. Das kannst ja du heute Vormittag übernehmen.«

»Hatte ich ohnehin vor. Wie gesagt, ich konzentriere mich aufs Wesentliche. Ich kann mir allerdings schon denken, wie deine dritte Schlagzeile lautet.«

»Ach ja. Und wie?«

»Junkie im Park erstochen! Hab ich recht?«

»Leider nicht. Die kommt erst später und hört sich im Original auch ein bisschen eleganter an.«

»Aha. Und was kommt dann an dritter Stelle? Und wieso eigentlich nicht der Mord im Park, schließlich ist das unser zweiter Fall? Alles andere geht uns doch gar nichts an.«

»Ich hab mir erlaubt, die Schlagzeilen der letzten Nacht, die ich hinsichtlich unserer Ermittlungen für bedeutsam halte, in eine eigene, sinnvolle Reihenfolge zu bringen.«

»Und wieso das?«

»Das verrate ich dir, wenn ich die Fälle aufgeklärt habe.«

»Ach so«, sagte Baum und grinste, als hätte er andere Vorstellungen, wer von ihnen als Erster die richtigen Antworten auf die Fragen nach den Mördern finden würde. »Na gut. Aber verrätst du mir dann wenigstens jetzt schon, wie Schlagzeile Nummer drei nun lautet?«

»Nichts lieber als das. Hier kommt sie: Autodieb fährt gestohlenen Wagen in Weiher und ertrinkt.«

»Ach ja. Davon hab ich letzte Nacht auch gehört. Aber was hat das mit unserem Fall zu tun?«

Schäringer zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber findest du es nicht auch merkwürdig, dass in derselben Nacht, in der ein Tankstellenkassierer bei einem Raub erschossen und ein Junkie im Park erstochen wird, ganz in der Nähe jemand mit einem gestohlenen Wagen in einen Weiher rast und anschließend ertrinkt?«

»Purer Zufall, würde ich mal sagen. Kommt immer wieder mal vor. Wahrscheinlich hatte der Idiot nur zu viel getrunken. Oder hast du irgendwelche Informationen, dass diese drei Vorfälle etwas miteinander zu tun haben?«

»Bisher noch nicht. Die Kriminaltechnik hat allerdings noch nicht alle Spuren auswerten und untersuchen können. Ich hoffe, dass wir da im Laufe des Tages nähere Informationen bekommen, und behalte es trotzdem für meine eigenen Ermittlungen im Auge.«

»Mach, was du ohnehin nicht lassen kannst, Franz. Kommt jetzt wenigstens die Schlagzeile mit dem toten Junkie?«

»Nein. Erst kommt noch die hier: Fahrraddiebstahl in der Rosenstraße. Hochwertiges Trekking Bike aus offener Garage gestohlen.«

Baum sah Schäringer mit einem Blick an, als zweifelte er nun doch ernsthafter am Verstand des älteren Kollegen. »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?«

»Was ist nicht mein Ernst?«

»Du willst jetzt nicht auch noch ernsthaft behaupten, dass zwischen einem ordinären Fahrraddiebstahl und zwei vorsätzlichen Morden ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen könnte, oder?«

»Wieso denn nicht? Die Rosenstraße ist von beiden Tatorten nicht weit entfernt, und der Diebstahl erfolgte vermutlich kurz vor dem Überfall.«

»Wahrscheinlich hat der Eigentümer erst zu dem Zeitpunkt bemerkt, dass sein Drahtesel weg ist, und das Ding wurde schon viel früher von irgendeinem übermütigen Rotzlöffel gemopst. Glaubst du etwa, jemand, der eine Tankstelle ausrauben will, fährt mit dem Fahrrad dorthin, wenn er hinterher schnell flüchten muss?«

Schäringer zuckte erneut mit den Schultern. »Möglich wäre das doch, oder?«

»Möglich ist alles. Aber ob es auch wahrscheinlich ist, das ist doch die große Frage. Und ich halte es eben für sehr unwahrscheinlich. Aber lass uns lieber mit deiner Schlagzeilengeschichte weitermachen. Ich hoffe, jetzt kommt endlich unser zweiter Mordfall.«

»Wenn ich dir damit eine Freude machen kann. Hier ist sie: Mord im Stadtpark. Erstochener Drogensüchtiger vermutlich Opfer eines misslungenen Drogendeals.«

»Da könnten die Jungs von der Zeitung sogar recht haben. Wir sollten das Umfeld des Opfers … Wie war noch mal sein Name?«

Schäringer beugte sich erneut nach vorn, schob die obere Akte zur Seite und öffnete die zweite. »Lukas Lang«, sagte er dann, nachdem er den Eintrag gefunden hatte.

»Danke. Wir sollten das Umfeld von Lukas Lang überprüfen. Vielleicht erfahren wir ja, von wem er üblicherweise seinen Stoff bezog. Und Bingo, haben wir schon einen Hauptverdächtigen.«

»Das kannst ebenfalls du erledigen. Nimm dir am besten gleich alle drei männlichen Todesopfer Lukas Lang, Tim Bloch – das ist der ertrunkene Autodieb – und Fabian Becker vor. Durchsuch ihre Wohnungen und befrag die Eltern, Bekannten, Arbeitskollegen und jeden, der sie sonst noch kannte.«

»Gut. Und was machst du so lange?«

»Ich kümmere mich um die Spuren, die Gerichtsmedizin und die anderen Fälle.«

»Welche anderen Fälle meinst du? Wenn ich dich daran erinnern darf: Wir sind die Mordkommission, und es gab letzte Nacht nur zwei Mordfälle. Alles andere, was in Oberhofberg passierte, hat mit unseren Ermittlungen vermutlich überhaupt nichts zu tun und führt uns nur auf falsche Fährten.«

»Mal sehen. Pass auf, ich schlage dir eine Wette vor. Wenn ich mich tatsächlich täusche und die anderen Vorfälle gar nichts mit den Morden zu tun haben, kaufe ich dir eine Eintrittskarte für das nächste Spiel der Bayern.«

»Aber das muss mindestens ein Champions-League-Spiel sein. Bin schon gespannt, gegen wen sie in der nächsten Runde spielen, Barcelona, Real oder Dortmund. Eine Karte für ein Auswärtsspiel wäre echt geil.«

»Aber nur die Karte. Die Fahrtkosten kannst du selber zahlen.«

»Abgemacht.«

»Okay. Aber wenn ich doch recht habe, bekomme ich auch etwas von dir, Lutz!«

»Und was? Eine Eintrittskarte für die Oper, Opa?«

Schäringer grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, wenn ich recht habe, wirst du in diesem Büro nie wieder über Fußball reden, verstanden?«

Baum überlegte nur kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Von mir aus. Du hast sowieso unrecht. Aber von welchen anderen Fällen sprichst du eigentlich genau? Meinst du den ertrunkenen Autodieb und den Fahrraddiebstahl?«

»Auch, aber nicht nur. Du hast die Schlagzeile Nummer sechs noch nicht gehört.«

»Dann lass mal hören.«

»Unbekannte von ICE überrollt. Behörden gehen von Suizid aus.«

»Ein Selbstmord? Da glaube ich ja noch eher, dass unser Tankstellenräuber tatsächlich das Fahrrad geklaut hat. Aber wenn du meinst. Ich wünsche dir auf jeden Fall schon mal viel Spaß bei deinen überflüssigen Ermittlungen, denn ich muss jetzt gehen. Da ich mich auf das Wesentliche, nämlich auf unsere beiden Mordfälle, konzentriere und dabei fast alles allein machen muss, hab ich heute nämlich noch eine Menge Arbeit vor mir.« Er stand auf, warf den leeren Kaffeebecher in den Papierkorb und schlenderte langsam zur Tür. »Wir sehen uns vermutlich erst heute Abend wieder, um unsere Ermittlungsergebnisse auszutauschen. Ach ja, wie lautet eigentlich die siebte Schlagzeile? Das ist bestimmt der Knaller, oder?«

»Wie man’s nimmt. Die letzte Schlagzeile, die mir bedeutsam erschien, lautet: Bürgermeister entsetzt über Häufung von Gewaltdelikten. Laut Polizei keine Verbindung zwischen den Ereignissen der letzten Nacht.«

»Da siehst du’s, Franz. Es gibt keine Verbindung!«

»Vielleicht täusche ich mich ja tatsächlich. Aber irgendwie hab ich trotzdem das Gefühl, dass all diese Dinge zusammenhängen.«

»Tsss!«, machte Baum nur, winkte Schäringer zum Abschied zu und verließ das Büro.