Aufstieg ins Bodenlose

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Plötzlich war mein Führungsstil, der uns so große Erfolge gebracht hatte, nicht mehr geeignet. Und im Westen bin ich damit sowieso kläglich gescheitert. Die Mitarbeiter dort waren so an autoritäre Geschäftsführer gewohnt, dass sie gar nicht verstanden, wenn ich sie nach ihrer Meinung fragte und sie in Entscheidungen einbeziehen wollte. Ich wollte sie motivieren, indem ich sie informierte und ihnen Verantwortung gab, aber sie hielten mich für einen Schwachkopf. Also, Frau Wagner, ich habe meine Lehrjahre hinter mir. Wohl oder übel habe ich zur Kenntnis genommen, wie man sich heute verhalten muss, um anerkannt zu werden. Wenn es nötig ist, werde ich anders auftreten als früher, natürlich nicht immer so wie heute. Wenn ich z. B. die einzelnen Geschäftsführer besuche, werde ich wieder kooperativ sein.“

Die Nachricht über unseren Antrittsbesuch beim Vorstandsvorsitzenden verbreitete sich im Konzern blitzschnell. Deshalb hielt es Beyers Sekretärin nicht für notwendig, ihr privates Telefongespräch zu unterbrechen, als ein älterer Herr in Jeans, einem karierten Hemd und einem dunklen Parka, der einen gelben Arbeitsschutzhelm in den Händen hielt, ihr Büro betrat.

Erst nach einer Weile sagte sie ins Telefon: „Bitte warte einen Moment“, und wandte sich mir zu, „wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin Bernd Schröder. Ich habe einen Termin bei Herrn Beyer.“

„O!“ Sie wurde blass und legte den Hörer auf. „Bitte entschuldigen Sie vielmals. Ich konnte doch nicht ahnen, dass …“

„Schon gut, kein Problem“, unterbrach ich sie, lächelte freundlich, ging auf sie zu und schüttelte ihr die Hand.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Schließlich bin ich zum ersten Mal hier.“ Auch dem Geschäftsführer ging ich lächelnd entgegen: „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Herr Beyer. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Aber es ist auch schön, wieder einmal in der Bergstadt zu sein. Weil ich noch einige Minuten Zeit hatte, bin ich kurz durch die Altstadt gefahren. Sie hat sich richtig herausgeputzt. Die FAZ zählte sie ja sogar zu den schönsten Städten Deutschlands.“

Wir sprachen minutenlang über die Stadt und die Universität. Weil ich keinerlei Anstalten machte, auf den Anlass meines Besuches zu kommen, leitete er behutsam über: „Unsere Hütte ist auch ein wichtiger Arbeitgeber für die Stadt.“

„Nicht nur das, denke ich, sondern auch ein guter Steuerzahler.“

„Durchaus“, Beyer zögerte kurz, „wenn ich auch, Ihnen kann ich das ja sagen, Sie kennen sich hier ja aus, manchmal bedauere, dass wir unsere Perlen vor die Säue werfen müssen.“

Ich hatte nach der Wende lange genug in der Bergstadt gearbeitet und wusste sofort, was er meinte. Aber ich blickte ihn fragend an.

„Die Stadtverwaltung ist immer noch eins unserer Probleme. Um es kurz zu sagen, darin haben sich nach der Wende viele Unfähige verkrochen und die Bürgermeister taugten auch nichts. Die vergeuden das Geld gerne für sinnlose Prestigeobjekte.“

„Das ist nicht nur in hier so“, antwortete ich, „das habe ich auch woanders erlebt. Wer früher in großen Kombinaten gearbeitet hat, hat sich ja oft wundern, dass die größten Pfeifen von seinen ehemaligen Kollegen plötzlich in den Verwaltungen das Sagen hatten. Ich denke, wir brauchen noch eine ganze Generation oder sogar länger, bis wir diese Altlasten los sind. Aber Sie werden merken, Herr Freigang hat ganz hervorragende Anwälte.

Steuern sparen ist deren Spezialität. Vielleicht müssen Sie Ihre Perlen nicht mehr lange vor die Säue werfen.“

Jetzt blickte Beyer fragend, aber ich beließ es bei dieser Andeutung und kam auf meinen Kontrollauftrag zu sprechen.

„Leider bin ich in den nächsten zwei Tagen auf einer Dienstreise“, bedauerte er, „die würde ich nicht gerne absagen.“

„Müssen Sie auch nicht. Ich komme alleine zurecht.

Nach Ihrer Rückkehr werde ich allerdings Ihre Zeit in Anspruch nehmen müssen. Aber heute habe ich noch eine andere Frage. Ich kenne Ihren Namen doch irgendwoher. Sind Sie politisch tätig?“

„Während der Wende war ich bei den Bürgerrechtlern, als einer der Ersten der Bergstadt. Aber ich bin nie in eine Partei eingetreten. Ich bin wohl nicht der Typ, der es in einer Partei lange aushalten könnte. Allerdings, und von daher haben Sie meinen Namen vielleicht schon einmal gehört, berate ich unseren stellvertretenden Ministerpräsidenten in Wirtschaftsfragen und habe ihn oft mit Wirtschaftsdelegationen begleitet.“

„Wie man hört, wird der ja bald aufsteigen. Können Sie sich vorstellen, dann doch wieder politisch tätig zu werden?“

Beyer zuckte mit den Achseln: „Sie wissen ja, man sollte niemals nie sagen.“

Später wunderte ich mich sehr, dass ich auf diese Frage gekommen war. An diesem Tag hatte Freigang seine verrückte Wette ja noch nicht abgeschlossen und hatte ich nicht ahnen können, dass Beyer einmal mein schärfster Widersacher werden sollte.

Während Beyers Dienstreise durchforstete ich die Geschäftsberichte und suchte Ansatzpunkte für neue, lukrative Projekte, denn in meinem Bericht wollte ich Freigang damit überraschen. Aber ich wusste schon, von wem die wichtigsten Idee dafür kommen konnten.

Nach seiner Rückkehr lud mich Beyer zum Mittagessen ein. Wir parkten auf dem Bergstädter Untermarkt und gingen zwischen dem Dom und dem ebenfalls spätgotischen Bergbaumuseum zu einer historischen Gaststätte in der Kirchgasse, die mit rustikaler Gastlichkeit warb.

Ein junger Kellner begrüßte Beyer mit Handschlag und platzierte uns an einem großen, runden Tisch am offenen Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte.

„Gemütlich hier,“ sagte ich, „sehr schön.“

„Ja, ich führe meine Gäste oft hierher.“

„Ich damals auch.“

Beyer blickte mich kurz an, aber offensichtlich wollte er nicht über meine langjährige Arbeit als Geschäftsführer in der Bergstadt sprechen. Ich nahm mir die altertümlich gestaltete Speisekarte und brauchte nicht lange darin zu blättern: „Ich nehme die Pfeffersuppe, die ist hier wirklich lecker, und danach das Dreierlei, die verschiedenen Steaks.“

„Okay, nehmen wir das. Möchten Sie Bier oder Rotwein?“

„Zuerst ein Bier, danach vielleicht einen Roten.“

Nachdem Beyer bestellt hatte, fragte er mich: „Wie war Ihr Eindruck von unserer Hütte?“

„Gut. Sehr gut. Überrascht war ich über die Ordnung und Sauberkeit.“

„Meine internationalen Gäste sagen immer zuerst: Very clean.“

„So ist es.“

Wir diskutierten eine Weile über die Technik und Technologie, und dann sagte Beyer: „Wenn Sie zu Ihrem Bericht noch Fragen haben, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

Ich wusste, was er meinte und lachte auf: „Entschuldigen Sie, aber ich denke gerade an die vielen Controller, die mich früher geprüft haben. Jedes Jahr hatte mir der Vorstand andere auf den Hals gehetzt. Das gehört zu der großen Show, die Vorstände für ihren Aufsichtsrat veranstalten müssen, wie viel das auch immer kostet.

Von Mc Kinsey bis zu Roland Berger waren alle bei mir.“

„Und? Wie ist es gelaufen?“

„Fast immer gleich. Zuerst waren die meisten überzeugt, dass ihnen keiner das Wasser reichen kann, und zum Schluss haben sie immer haargenau das berichtet, was ich wollte.“

„Sie haben die also genutzt, um beim Vorstand durchzusetzen, was Sie sowieso vorgeschlagen hätten?“

„Genau. Und das war für beide Seiten gut. Die Controller konnten einen brillanten Prüfbericht abgeben, und ich bekam meine Investitionen oder anderen Projekte genehmigt.“

„Sie kennen sich also aus?!“, antwortete Beyer zufrieden.

„Ja, ich denke schon.“

„Dann lassen Sie mich erläutern, was für mich wichtig ist.“

Später besuchte ich auch die anderen Gesellschaften, und zwischendurch ließ ich mich über Frau Wagners Ergebnisse informieren. Deren Prüfung der zustimmungspflichtigen Geschäfte brachte den erhofften Erfolg. Wie ich selbst als Geschäftsführer, hatte auch Schneider Investitionen begonnen, ohne die Zustimmung des Aufsichtsrates abzuwarten, genehmigte Investitionskosten weit überschritten, ohne den Aufsichtsrat zu informieren oder eigenmächtig wichtige oder langfristige Verträge abgeschlossen, die vorher dem Aufsichtsrat vorgelegt werden mussten.

Nach vier Wochen mailte ich einen Zwischenbericht nach Florida, und Freigang bestellte mich deshalb nach Florida.

Zu unserer Villa auf dem Weißen Hirsch führte eine breite, kiesbestreute Zufahrt. Rechts und links stand je eine prächtige, zweihundert Jahre alte Blutbuche mit weit ausladender Krone, vor der im Frühling viele Spaziergänger bewundernd stehen blieben. Mehr als die Hälfte der Hausfassade nahm ein breiter Erker ein, an dem vier schlichte, glatte Säulen einen hervorspringenden Balkon mit schmiedeeisernem Geländer trugen. Vor den drei hohen, breiten Erkerfenstern lagen winzige Balkons mit ähnlichen Brüstungen aus der Werkstatt eines bekannten Kunstschmieds. Über dem Balkon blickten ovale, von Weinreben und -trauben aus Sandstein umrankte Fenster wie zwei wachsame Augen zur Straße. Der Eingang führte in ein großes Foyer, gegenüber der Tür hing ein Gemälde der Fabrikantenfamilie, das Freigang von den Erben gekauft hatte. Von jedem Punkt des Foyers waren die arrogant blickenden Augen des Herrn Fabrikanten auf den Betrachter gerichtet, die seiner Frau sahen zu ihm auf. Zum Obergeschoss, in dem früher die herrschaftlichen Räume gelegen hatten, führte eine breite Marmortreppe. An der Hinterfront der Villa zum Elbtal und mit Blick auf das Blaue Wunder und auf ein kleines Wäldchen aus Kiefern und Laubbäumen lag eine breite Terrasse. Dort saßen Greta und ich, so oft es das Wetter erlaubte. In dem Wäldchen hatten Rabenkrähen genistet, in diesem Frühjahr waren sie jedoch von einem Falkenpaar vertrieben worden.

 

Wochenlang gaben die Krähen nicht auf, immer wieder griffen sie die Falken an, ohne ihr Nest zurückerobern zu können. Im Gegensatz zu Bussarden waren die Falken geschicktere Flieger. Zu Zweit fiel es ihnen leicht, die Krähen zu besiegen. Aber auch als die Falken bereits brüteten, waren die Krähen unterlegen. Ein Falke stieg immer blitzschnell auf, schoss von Oben wie ein Pfeil auf die Krähen herab, die sich dem Nest nähern wollten, und entschied den Kampf nach kurzer Zeit für sich. Einmal kamen fünf andere Rabenkrähen zufällig vorbeigeflogen und unterstützten ihre Artgenossen. Einer gegen Sieben hieß es jetzt. Der Falke blieb bei seiner Taktik, schoss hoch und runter, doch er wurde bald langsamer, und nun gelang es Krähen, ihn von hinten anzugreifen.

„Gegen diese Übermacht ist er chancenlos“, meinte Greta, aber plötzlich flogen die fünf fremdem Krähen weiter. Der Falke setzte sich völlig erschöpft auf einen Ast. Als die verbliebenden Krähen ihn dort bedrängten, reagierte er überhaupt nicht mehr.

„Jetzt muss der andere Falke eingreifen“, sagte ich, „sonst sieht es böse aus.“

Aber die Rabenkrähen wollten mit einem wehrlosen Gegner nicht kämpfen. Auch sie flogen davon.

Wenn die Falken nicht aktiv waren, genossen wir den Blick ins Elbtal mit den ruhig vorbeiziehenden Raddampfern. Dabei mussten wir nicht viel reden. Bereits früher hatte ich versucht, mit meinen Arbeitsproblemen nicht allzu oft unser Privatleben zu belasten. Auch jetzt sprach ich selten darüber, aber meine Dienstreise zu Freigang kündigte ich natürlich an: „Nächste Woche fliege ich nach Florida, Freigang will mit mir sprechen.“

„Nach Florida? Auf seine Insel? Da bin ich ja gespannt, was du mir danach erzählen kannst.“

„Ich auch. Mal sehen, wie der dort lebt. Ich stelle mir eine weiße Villa am weißen Strand vor. Aber was machst du in dieser Zeit?“

„Ich habe ja noch einiges im Büro zu erledigen. Aber ich werde auch mal nach Chemnitz fahren.“

„In die Sonderschule?“

„Ja, ich habe ein Angebot. Eine Stelle wird frei. Für drei Tage in der Woche, von Dienstag bis Donnerstag.“

Ich blickte in Gretas Augen, und die leuchteten wie nie in den letzten Jahren, in denen sie notgedrungen bei mir gearbeitet hatte. „Keine Frage, du wirst es annehmen.“

„Ich freue mich schon darauf.“

„Und an einem Hausfrauenjob in der Villa eines bald millionenschweren Topmanagers bist du immer noch nicht interessiert?“

„Nein“, Greta lachte hell auf, „das weißt du doch. Mit deinen Millionen kannst du mir nicht imponieren.“

Ich drückte sie an mich und küsste sie, aber dann konnte ich mir eine spöttische Bemerkung doch nicht verkneifen: „Aber auch du lebst in dieser Villa lieber als im Gorbitzer Plattenbau.“

„Das schon.“

„Wenn ich erst einmal Vorstandsvorsitzender bin, wirst du auch wieder zu vielen Veranstaltungen der Stadt oder der Arbeitgeber eingeladen werden. Die haben dir doch oft Spaß gemacht, und du hast dort auch Freundinnen gefunden.“

„Falsche Freundinnen, wie sich später herausgestellt hat.

Dieses Mal werde ich es wie du machen, ich werde Distanz wahren.“

Da musste ich ihr recht geben. Mit einem Sektglas in der Hand zwischen den Angehörigen der so genannten Oberschicht zu stehen, hatte mir selten Spaß gemacht.

Offensichtlich hatte mein Gesichtsausdruck aber die Beamten und andere auf Distanz gehalten. Ich lachte plötzlich auf.

„Woran denkst du?“, fragte Greta.

„An die Nutten in Bilbao. Du weißt ja, der spanische Geschäftsführer hatte uns überraschend für ein Bier in einen Puff geführt. Wir standen an der Theke, hinter uns saßen die Nutten, vor uns war eine große Spiegelwand. Wir waren sieben oder acht Männer. Alle anderen wurden von den Nutten angesprochen, nur ich nicht.

Mein Gesichtsausdruck genügte auch dort.“

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen.“

„Also wahre auch du den nötigen Abstand.“

Karol Pawelka holte mich mit dem Wasserflugzeug in Miami ab. Dienstlich war ich nur einmal in den USA gewesen. In Pennsylvania gab es eine Firma, deren Geschäftsführer meine neuen Technologien übernommen hatte. Meine leise Hoffnung, zu einem Abstecher nach New York oder wenigstens zu einer Wanderung durch die Blauen Berge eingeladen zu werden, war damals schnell erloschen. Mein Tagesprogramm hatte aus dem Frühstück mit den Gastgebern, endlosen Meetings während des Tages, einem schnellen Umkleiden am späten Abend und einem langen Dinner bis in die Nacht bestanden. Einmal war ich eine Stunde vor dem Frühstück aufgestanden und auf dem Hotelparkplatz, von dem kein Fußweg zur Stadt führte, spazieren gegangen. Ein anderes Mal hatte ich gebeten, Bethlehem besichtigen zu können, und die Gastgeber hatten mich im Auto langsam durchgefahren.

„So war das“, sagte ich jetzt zu Pawelka, „die hatten nicht verstanden, dass ich zu Fuß gehen wollte. Von selbst wären die nie auf diese Idee gekommen. Aber mit meiner Frau habe ich dann eine Rundreise durch den Westen gemacht – San Francisco, Yosemite Nationalpark, Death Valley, Las Vegas, Grand Canyon, Bryce Canyon, Lake Tahoe und zurück nach San Francisco.

Mehr als 8.000 Kilometer sind wir gefahren. Toll, einfach toll war das.“

„Was war für Sie das Schönste?“

„Die Mammutbäume und der Bryce Canyon. Obwohl ich in dem fast gestorben wäre, weil wir die Hitze unterschätzt und nicht so viel Wasser wie in den Gran Canyon mitgenommen hatten. Ein Bekannter hatte uns oft etwas von dem herrlichen Grün der Pflanzen im Bryce Canyon vorgeschwärmt. Erst als wir sie selbst sahen, konnten wir ihn verstehen. Dieses satte, kräftige Grün vor den ockerfarbenen Felsen gibt es vielleicht nur dort.“

„Pardon“, sagte Pawelka, „wenn meine Leute mich fragen, wie es in den USA ist, erzähle ich zuerst etwas über die Menschen.“

„Verstehe. Ich kann mir schon denken, was Sie meinen.

Deren unglaubliche Disziplin, deren Ordnung und Sauberkeit und vor allem deren Respekt vor der Polizei.

Ich denke gerade an einen Vergnügungspark in Santa Cruz. Dort waren Zehntausende. Wenn bei uns Zehntausende ein Volksfest besuchen, watet man nach einem Tag durch den Müll. Dort wagte niemand, eine Kippe oder ein Papierschnipsel fallen zu lassen. Das konnte bis 2.000 Dollar Strafe kosten. Und wenn der Wind mal etwas wegwehte, wurde es sofort aufgehoben.“ Ich blickte zu Pawelka: „Stellen Sie sich einen Autoskooter in Deutschland vor – jeder stürzt sich auf die haltenden Autos, alle fahren wild durcheinander und versuchen, andere zu rammen. In Santa Cruz bestimmten die Trillerpfeife des Verantwortlichen sowie Sirenen- und Leuchtsignale das Geschehen. Die Fahrgäste warteten geduldig in Reih und Glied am Eingang. Ein Mann öffnete die Schranke davor, aber immer noch betrat keiner die Fahrbahn. Ein Pfiff, und alle gingen ruhig und gesittet zu den Autos. Ein zweiter Pfiff, und der Eingang wurde wieder verschlossen. Zwei Männer gingen von Auto zu Auto und prüften, ob jeder angeschnallt war. Ein erstes Sirenen- und Leuchtsignal, ein zweites, und nun setzten sich die Autos endlich in Bewegung. Alle fuhren am Fahrbahnrand im Kreis.

Keiner rammte oder überholte andere. Ein drittes Signal, die Autos blieben stehen und alle Fahrgäste sitzen. Ein Mann ging zum Ausgang und öffnete die Schranke. Der letzte Pfiff ertönte, alle stiegen aus und gingen ruhig zum Ausgang. Für uns war diese Disziplin einfach unfassbar, wir mussten es uns mehrmals angucken, um es begreifen zu können.“

„So sind die Amis“, bestätigte Pawelka, „aber nicht überall. In jeder größeren Stadt gibt es Bezirke, die Fremde lieber nicht betreten sollten. Da ist der Teufel los, und da lässt sich auch keine Polizei und keine Müllabfuhr mehr sehen.“

Südlich von Miami folgte er dem Overas Highway. Ich schwieg nun und drückte mir wie ein kleiner Junge vor einem Schaufenster mit der Weihnachtsdekoration die Nase an der Scheibe platt. Wie auf einer Perlenschnur waren die Inseln auf dem Highway aufgefädelt. Die blendendweißen Strandvillen überstrahlten die ebenfalls in der gleißenden Sonne leuchtenden Strände der Kalkstein- und Koralleninseln. Auf dem Highway herrschte wieder reger Autoverkehr, aber unterspülte Häuser und zerstörte Anlegestege kündeten noch von der Gewalt des letzten Hurrikans. Das Flugzeug bog nach Westen ab.

„Sehen Sie nach rechts.” Der Pilot deutete auf Freigangs Insel, die keine Straßenanbindung besaß.

Ich blickte hinüber und wäre vor Überraschung aufgesprungen, wenn mich der Sitzgurt nicht festgehalten hätte. „Da…, da…, das ist doch nicht zu glauben!“

„Sie träumen nicht. Das Schloss steht wirklich dort!“

„Mein Gott, wie viele Millionen besitzt Freigang denn?“

„Millionen? Milliarden müssten Sie fragen.“

„Woher hat er die? Von seinen Eltern, die mit dem, was sie tragen konnten, aus Stolpen geflüchtet sind, kann er ja nicht viel geerbt haben.“

„Hat er auch nicht. Sein Vater war ein kleiner Angestellter. Sie wohnten in der Schlossstraße, und Freigang hatte tagtäglich die Burg Stolpen vor Augen. Während eines Fluges erzählte er einmal Gästen, viele Touristen hätten sich nur für die Gräfin Cosel interessiert, die August der Starke auf die Burg verbannt hatte. Aber ihn hätte August der Starke beeindruckt, dessen Reichtum und dessen Macht.“ Pawelka drehte eine Runde um die Insel. Ein dichter und hoher Palmenhain am Ufer verwehrte fremden Bootsfahren den Einblick. Mitten auf der Insel stand in Originalgröße ein Nachbau der unteren Hauptburg der Burg Stolpen mit dem Johannis-oder Coselturm, dem Seigerturm, dem Untergeschoss des Wehrganges mit uralten Kanonen in den fünf Schießscharten, sowie mit dem Schösserturm rechts neben dem Hauptportal. Ich hatte die achthundertjährige Burg auf dem Basaltberg in Stolpen oft besucht und glaubte immer noch, meinen Augen nicht trauen zu können – sogar die Basaltsäulen am Johannisturm und unterhalb der östlichen Burgmauer waren vorhanden.

„Das ist doch nicht zu fassen“, sagte ich. „Woher hat er denn das Baumaterial?“

„Aus Ihrer Sächsischen Schweiz sind nur die Sandsteine für die Torbögen, der Basalt soll aus Amerika kommen.“

„Ich habe schon viel über die strengen Bauvorschriften der USA gehört. Ist es denn erlaubt, auf den Keys solche Protzbauten zu errichten?“

„Erlaubt?“ Pawelkas Stimme klang erstaunt. „Kennen Sie ein Land, dessen Gesetze für Milliardäre gelten?“

„Okay, okay.“ Ich wechselte das Thema. „Sagen Sie mal, wenn Freigang nichts geerbt hat, woher kommen seine Milliarden?“

„Das frage ich mich auch, aber darüber erfahre ich wenig. Er redet nur über seine Ausbildung als Kaufmann und über seine erste Arbeitsstelle im Großhandel.

Nach der Wende ist er in Immobiliengeschäfte eingestiegen, dann auch bei einer Großbank. Keine Ahnung, wie es dann weiterging. Jetzt sagt er oft, dass er eine abgeschlossene Vermögensbildung hätte. Um den größten Teil kümmert er sich nicht persönlich. Dafür hat er eine Heerschar von Beratern oder wie die sich auch immer nennen. Wenn ich die fliege, brauche ich erst gar nicht zu versuchen, ein Gespräch zu beginnen.

Erst vor 2 oder 3 Jahren wurde es Freigang wohl zu langweilig. Er sagte einmal zu Gästen, er hätte ein paar hundert Millionen für Industriebeteiligungen abgezweigt, und seine Frau spottete: ‚Und mit denen spielst du wie ein Kind im Sandkasten.‘ Aber er hat nur gelacht und geantwortet: ‚Wenn ich die verlieren würde, wäre das ja auch nicht tragisch.‘“

Pawelka beendete den Rundflug und landete in Richtung des kleinen Strandes. Auch hier hatte der Hurrikan deutliche Spuren hinterlassen. Zwischen Palmen war Freigangs Sportboot eingeklemmt.

„To je škoda“, murmelte Pawelka. Er war auch für das Boot zuständig.

Als sich das Flugzeug dem Landungssteg näherte, kamen uns zwei schwarz uniformierte, muskulöse junge Männer entgegen.

„Wer sind die denn?“, fragte ich.

„Die gehören zu Freigangs privater Schutzstaffel. So nennt er sie, allerdings ohne die alte Abkürzung zu verwenden.“

„Private Söldner? Gibt es denn so etwas in den USA?“

Pawelka blickte mich kurz aus den Augenwinkeln an: „Entschuldigen Sie bitte, ich will Sie nicht auslachen.

Aber diese Frage ist einfach zu naiv. Glauben Sie denn, die reichen Amerikaner würden sich auf den Schutz des Staates verlassen? Die doch nicht! Jeder hat seinen eigene Sicherheitsdienst. Und reicht der mal nicht, können sie zusätzliche Söldner anfordern. Überall gibt es Mercenary Companies.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Hier, am Ufer, endet der Einfluss des Staates. Kein Polizist würde einen Fuß auf die Insel setzen.“

 

Die Söldner warteten auf dem Bootssteg. Dem Piloten winkten sie lässig zu, aber mir stellten sie sich in den Weg: „Ihren Pass bitte.“

Ich blickte den Piloten fragend an.

„Hier herrscht deutsche Ordnung“, sagte der spöttisch.

Erst nachdem die Söldner mich auch nach Waffen untersucht hatten, durfte ich die Insel betreten. Pawelka wurde wieder zum Kraftfahrer und fuhr mich mit einem Golfcar bis zum Hauptportal der Burg. Wie in Stolpen war hier das kursächsische Wappen eingefügt, auf dem zwei Ritter mit Wappenschildern die Vereinigung des Hauses Wettin mit dem dänischen Königshaus symbolisierten. Ich las die Inschrift ‚BENEDICTUS : QUI : VENIT : IN NOMINE DOMINI’ und sagte: „Wenn ich hier gesegnet werde, komme ich auch im Namen des Herrn.“

Wir betraten den Burghof, dessen Wege und Rasenflächen genauso wie in Stolpen angeordnet waren, nur die Wald-Kiefer neben den Basaltsäulen am Johannisturm fehlte.

„Können Sie mich gleich bei Herrn Freigang anmelden?“

„Der erwartet Sie vor der Teestunde“, antwortete ein Söldner und begleitete mich zum Johannisturm. Die mittleren Turmzimmer, in denen sich in Stolpen eine Ausstellung über das Leben und die Gefangenschaft der Gräfin Cosel befand, wurden hier als Gästezimmer genutzt.

Erst am späten Nachmittag empfing mich Freigang in seinem Büro im Schösserturm. Er saß hinter einem breiten, modernen Schreibtisch, auf dem mehrere Telefone und Computer standen und nahm sich keine Zeit für die Begrüßung: „Setzen Sie sich.“ Er blickte mich prüfend an: „Glückwunsch. Vor Ihnen hat mir noch keiner in so kurzer Zeit einen so guten Bericht geliefert. Wie sind Sie denn so schnell auf so viele Projektvorschläge gekommen?“

„Sie wissen doch, ich habe meine Erfahrungen“, antwortete ich ausweichend. Dass die meisten Ideen von den verantwortlichen Geschäftsführern stammten, wollte ich ihm nicht verraten.

„Na gut, darüber reden wir später ausführlich. Vorab nur eins: Ihre Angaben über Schneiders Fehlverhalten sind verlässlich und gerichtssicher?“

„Absolut.“

Freigang nickte zufrieden und drückte auf eine Telefontaste. „Geben Sie mir Naumann.“ Eine kurze Pause folgte. „Ja, gleichfalls. Wie ist das Wetter in Düsseldorf?

Was, so kalt? Wir haben hier über dreißig Grad und keine Wolke am Himmel. Na gut, hör zu, ich habe keine Zeit. Du trittst den Vorstandsjob in zwei Wochen an.

Das mit diesem Schneider regeln vorher meine Anwälte.

Beschäftige dich jetzt schon mit dem Verkauf der Auslandsbeteiligung. Ich muss hundert Millionen flüssig machen. Was? Ja, du hast recht, die Metallpreise steigen und steigen, dafür sorgen die Chinesen mit ihrem unersättlichen Bedarf. Aber du kennst mich doch, ich will mehrere Standbeine haben. In Kalifornien gibt es ein neues Projekt zur Sonnenenergienutzung. Riesig, sage ich dir, die kleckern wieder einmal nicht, die klotzen.

Da will ich einsteigen.“ Er hörte kurz zu, unterbrach aber seinen Gesprächspartner sofort: „Was heißt, dafür gibt es hier keinen Markt? Ihr werdet euch noch wundern. Wenn die Amis erst einmal richtig Gas geben, seid ihr die längste Zeit Weltmarktführer gewesen. Also mach bei den Bietern Druck. Aber nicht so offensichtlich, dass du den Preis gleich mit drückst. Alles klar?

Also viel Erfolg.“

Freigang legte den Telefonhörer auf und lehnte sich zufrieden zurück. „Mit Einem hat Naumann recht“, er drehte einen Bildschirm zu mir und tippte einen Suchbegriff ein. „Das ist die Preisentwicklungen für Metalle, alle ziehen an. Das sind Selbstläufer. Auch die Aktienkurse der Hütten steigen und steigen, die leiden nicht einmal unter Gewinnmitnahmen. Zum Glück bin ich rechtzeitig eingestiegen. Damit mache ich wieder richtig Kasse. Die Frage ist aber wirklich, wie Sie schon angedeutet haben, was wird, wenn die chinesische Blase platzt? Ich habe mein Ohr an der Masse. Ausgerechnet die Chinesen selbst reden davon, dass ihre Konjunktur überhitzt ist. Und gute Freunde sind überzeugt, dass sich die amerikanische Energiepolitik bald ändern wird.

Heute sind die Aktien der Solarenergiefirmen nichts wert, aber ich denke, die werden eines Tages hochschießen. Wer von Anfang an dabei ist, verdient sich dumm und dämlich.“ Er blickte auf seine Uhr und schaltete den Computer aus: „Machen wir eine Pause. Meine Frau wartet auf uns.“

Während wir zur Strandterrasse gingen, auf der Tee serviert wurde, fragte ich: „Ist Ihre Frau auch geschäftlich tätig?“

„Gott bewahre. Sie betätigt sich künstlerisch, weltweit als Sammlerin. Sie sammelt Gemälde, zum Beispiel Impressionisten, aber auch Fotos. Mittlerweilen besitzt sie Zehntausende von Starfotografen. Das geht von den Anfängen, zum Beispiel Julia Margaret Cameron, über Andreas Feininger bis zu Peter Lindbergh.“ Er lachte: „Dessen nackte Weiber gefallen sogar mir. Die Fotos und Negative will sie in einer deutschen Kaligrube sicher und langfristig lagern.“

‚O Gott’, dachte ich, ‚eine Dame aus dem Geldadel also, die sich nicht für die Geschäfte ihres Mannes interessiert, dessen Geld aber als Kunstliebhaberin ausgibt.

Das wird wohl eine abgemeckerte, arrogante Ziege sein!’

Aber am Strand erwartete uns eine kleine, mollige Frau mit warmen braunen Augen, die ein ausgewaschenes T- Shirt trug. Freigang drückte sie an sich, küsste ihre Wange und fragte: „Darf ich vorstellen? Bernd Schröder, mein neuer Geschäftsführer und vielleicht der künftige Vorstandsvorsitzende der Hütten AG. Meine Frau.“

„Sehr erfreut“, sagte Frau Freigang, „mein Mann verspricht sich ja Einiges von Ihnen.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte ich mit einer Standardformulierung. Sie blickte mich lächelnd an, und da ahnte ich, mein Erstaunen war ihr aufgefallen. Ohne sich zu zieren, zog sie sich an einem Strandkorb mit blau-weiß gestreiften Bezug, der vielleicht von der Ostsee stammte, um und ging mit uns zur Terrasse, auf der bereits ein Tisch für die Teestunde gedeckt war.

Bevor sie sich setzte, leckte sie ihre rechte Hand an und strich Freigangs Haare am Hinterkopf glatt. Wie automatisch wirkte diese Geste, die ich noch oft beobachten sollte, und weder sie noch er schien sie bewusst wahrzunehmen.

„Du kannst eingießen“, sagte sie dann zu einer jungen Frau, die nicht wie eine Bedienstete, sondern wie ein Urlaubsgast gekleidet war. Schweigend tranken wir den ersten Schluck Tee. Das Meer leuchtete türkisblau, auf seiner glatten Oberfläche schwammen weit entfernt ein paar palmenbewachsene Inseln.

„Ein ähnlicher Blick auf Martinique hat Gauguin vielleicht zu seinen Bildern inspiriert“, sagte ich.

Frau Freigang blickte mich erstaunt an: „Verstehen Sie etwas von der Malerei?“

„Verstehen? Das wäre zu viel gesagt. Vielleicht ein bisschen. Aber nur bis zu den Impressionisten.“

„Warum nur bis zu denen?“

„Das ist leicht zu erklären. Nachdem wir die in der Schule behandelt hatten, ist unser Kunsterziehungslehrer nach dem Westen abgehauen.“

„Ach so. Verstehe, Sie kommen ja auch aus dem Osten.

Haben Sie Impressionisten schon im Original gesehen?“

„Natürlich. Unser Kunsterziehungslehrer war mit uns zweimal in Dresden. In Pillnitz habe ich auch Degas Tänzerinnen gesehen.“

„Tatsächlich?“

Auch ihr Mann horchte auf: „Sie können ja nicht ahnen, dass Sie einen ganz wunden Punkt bei meiner Frau angesprochen haben.“

Ich blickte sie fragend an, aber sie reagierte nicht.

„Es war für mich ein umwerfendes Erlebnis“, fuhr ich fort, „wie alt war ich damals? 16 oder 17 vielleicht. Ich wusste noch nicht viel von den Impressionisten. Und dann stand ich vor den Tänzerinnen. Die anderen gingen bald weiter, aber ich blieb fasziniert bei diesem Gemälde. Ich trat immer wieder ganz nahe heran und sah nur noch weiße Farbstriche. Dann ging ich ganz langsam zurück, und allmählich wurde aus diesen Strichen ein wunderschönes, luftiges Tüllkleid. Ich konnte es gar nicht fassen.“

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