Aufstieg ins Bodenlose

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Im Restaurant stellte Dietmar Freigang ein Menü zusammen, ohne uns zu fragen.

„Hier gibt es Rouladen, einfache, stinknormale Rouladen. Wo gibt es denn heutzutage noch deutsche Küche?

In ganz Berlin habe ich keine Roulade auf der Speisekarte gelesen.“

In der Weinkarte überblätterte er aber die Seiten mit den sächsischen Weinen. „Gute Weißweine machen die Meißner ja inzwischen, aber doch keine Rotweine! Da orientiere ich mich lieber nach Frankreich oder Spanien.“

Nach dem Hauptgang sprach Freigang die GmbH-Gründung an und bekräftigte jede Entscheidung mit energischen Handbewegungen: „Wie ich Sie kenne, Herr Fiedler, haben Sie ein paar GmbHs in Ihrer Schublade.“

„Selbstverständlich.“

„Sehr gut. Ich kaufe eine für Herrn Schröder. Er ist Ingenieur und Betriebswirt. Nennen wir sie also SAXONIA Consulting und Controlling GmbH. Nein, nicht SAXONIA, sondern Dresdner. Das ist besser.

Zum Geschäftsführer berufe ich mit sofortiger Wirkung Herrn Schröder. Machen Sie mit ihm einen üblichen Vertrag.“

„Wie viel?“, fragte Herr Fiedler.

„Jahresgehalt?“ Freigang blickte zu mir. „Geben Sie ihm eine Million plus drei Prozent vom Ergebnis vor Steuer.“

„Eine Million? Euro?“, stotterte Fiedler.

„Lire gibt es nicht mehr. Wenn Schröder das nicht wert wäre, wäre er nicht der richtige Mann für mich. Geben Sie ihm ein Büro in meiner Dresdner Zentrale und vermitteln Sie ihm eine gute Assistentin. Sie wissen schon, englisch und französisch muss sie beherrschen.“

„Auto?“

„Bei mir fahren immer noch alle Audi. Geben Sie ihm einen A6, TDI mit Automatik.“

„Automatik?“, fragte ich enttäuscht.

„Natürlich Automatik. Sie sollen sich im Stadtverkehr ausruhen oder auf Ihre Arbeit konzentrieren, nicht auf das Schalten.“

„Die Lieferzeit wird ein paar Wochen betragen“, warf Fiedler ein.

„Dann mieten Sie ihm erst einmal einen Audi. Heute noch. Gut. Alles klar? Okay, dann zahle ich.“

Auf dem Parkplatz des Taschenbergpalais stand ein schwarzer Audi A8. Der Fahrer sprang sofort heraus und öffnete die rechte Hintertür. Seine dunkle Kleidung ähnelte dem Livree des Hotelpersonals.

„Das ist Karol Pawelka, mein tschechischer Pilot und Fahrer“, sagte Freigang, ohne mich vorzustellen.

„Dobry den“, sagte ich.

Der Fahrer erwiderte erfreut: „Dobry den.“

Wir fuhren über die Carolabrücke und den Albertplatz zur Bautzener Landstraße. Vor dem schönsten Milchgeschäft der Welt der Gebrüder Pfund standen zwei Touristenbusse. In der Ladentür begegneten sich neugierige Ankömmlinge mit bereits zufriedenen Käufern, von denen viele Pfunds Überraschungskiste trugen. Bald danach tauchte an der rechten Straßenseite ein großer Gebäudekomplex auf, den graue Mauern schützten.

„Hier war die Stasi“, sagte ich.

„Hm“, brummte Freigang desinteressiert.

Vorbei am Schloss Albrechtsburg und am Lingnerpark erreichten wir die schmale Einfahrt zum Schloss Eckberg. Als der Fahrer auf dem kleinen Parkplatz links hinter der Einfahrt hielt, kamen zwei andere Herren in dunklen Anzügen vom Schloss und stiegen in das neben uns parkende Auto. Im Vorbeigehen blickten sie Freigang kurz an, aber keine Miene verriet, dass sie ihn kannten.

„Ein Bieter weniger“, sagte Freigang zufrieden.

Der AG-Verkäufer, ein drahtiger Siebzigjähriger mit lebendigen Augen, erwartete uns mit zwei Anwälten in dem runden Turmzimmer, von dem wir einen herrlichen Blick auf den Schlosspark und das Blaue Wunder, die bekannte Elbebrücke, hatten. Zwei Männer arbeiteten auf dem wieder mit Wein bepflanzten Elbhang. In den gegenüberliegenden Elbwiesen waren viele Fußgänger und Radfahrer unterwegs. Freigang nahm die ihm angebotene Tasse Kaffee und stellte sich an eins der raumhohen, gotischen Fenster. Vom Blauen Wunder näherte sich ein Raddampfer.

„Vielleicht wissen Sie es,“ sagte der Verkäufer, „Dresden hat die größte Raddampferflotte der Welt.“

„Ich weiß.“

„Ach ja, richtig. Wie ich hörte, stammen Sie von hier.“

„Nicht direkt. Wir wohnten in Stolpen. Kennen Sie die Burg Stolpen? August der Starke, Gräfin Cosel, um Ihnen Stichworte zu geben.“

„Natürlich. Wer kennt die nicht? Wer wie Sie aus Sachsen kommt, fühlt sich mit den Menschen hier bestimmt noch verbunden.“

„So ist es“, antwortete Freigang, drehte sich um und zwinkerte mir zu, „auch wenn wir schon in den Fünfziger Jahren in den Westen gegangen sind.“

„Stammt Ihre Frau auch von hier?“

„Nein, ich habe sie erst in Düsseldorf kennengelernt.“

„Ach so. Ich hoffe, wenn wir uns einig werden sollten, kann ich Sie heute Abend mit Ihrer Frau zum Dinner begrüßen.“

„Tut mir leid. Sie ist in Florida geblieben. Sie braucht Sonne und Wärme. Jetzt, im Frühling, kann es hier ja noch sehr ungemütlich sein.“

„Sehr schade.“ Der Verkäufer trat vom Fenster zurück.

„Darf ich die Herren bitten, Platz zu nehmen?“

Ein Anwalt hielt das für ein Signal, mit der Präsentation zu beginnen und ging zum Beamer, aber der Verkäufer stoppte ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung und blickte Freigang direkt in die Augen: „Diese Aktiengesellschaft, an der ich, wie Sie wissen, noch immer über 90 Prozent halte, ist mein Lebenswerk.

Hätte ich einen Erben, wäre es nie eine AG geworden, sondern immer ein Familienbetrieb geblieben. Der Börsenjargon widert mich an: Kapitel ist scheu wie ein Reh, der Aktienkurs leidet unter Gewinnmitnahmen oder, noch schlimmer, shareholder value. Das ist nicht meine Welt.“ Wieder suchte er direkten Blickkontakt mit Freigang, der diesem gelassen standhielt. „Selbstverständlich habe ich mich über Sie informiert. Bisher sind Sie ja vor allem durch Ihre Immobiliengeschäfte und Beteiligungen an Banken bekannt. Da hatten Sie ja immer eine glückliche Hand.“

„Mein Portfolio ändert sich. Der deutsche Immobilienmarkt stagniert. Ich bin jetzt auch an Industriebeteiligungen interessiert.“ Die folgende Aussage bekräftigte Freigang wieder mit einer energischen Handbewegung: „An langfristigen natürlich.“

„Ja, einen langen Atem braucht man in unserem Industriezweig. Wenn es normal läuft, beträgt der Gewinn nur wenige Prozent vom Umsatz. Bei uns ist es nicht so wie in der Pharmaindustrie, die erst mit 30 Prozent zufrieden ist.“

„Diesen langen Atem habe ich, vielleicht im Gegensatz zu internationalen Finanzinvestoren.“ Nun blickte Freigang dem Verkäufer in die Augen, aber der wich ihm aus und sagte: „Mit den anderen Bietern habe ich schon gesprochen. Die warten noch auf meine Entscheidung. Um heute zu Potte zu kommen, haben wir den Vertrag für alle drei Bieter vorbereitet.“

„Gut zu wissen“, antwortete Freigang lächelnd.

Während der Präsentation der aktuellen Firmenkennziffern schob er mir einen Zettel zu. ‚Eigentlich wollte ich mein Angebot um 10 Prozent erhöhen. Was würden Sie jetzt tun? 10 Prozent, 20 Prozent oder?‘, stand darauf.

Ich hatte bisher kein Wort gesagt und Freigang unauffällig beobachtet. Eines musste ich anerkennen, der spielte seine Rolle gegenüber diesem seriösen Geschäftspartner aus grauer Vorzeit wirklich perfekt. Nur als der sich angewidert über den Börsenjargon geäußert hatte, war in seinen Augen kurz Ironie aufgeblitzt. Ich war mir sicher, Freigang würde sein Angebot nicht wesentlich erhöhen, strich spontan beide Zahlen durch und schrieb eine 5 dahinter. Freigang nickte mir anerkennend zu.

Diese 5 Prozent reichten dann auch. Als wir das Schloss Eckberg verließen, hatte Freigang den unterschriebenen Vertrag in der Tasche. Der Verkäufer begleitete uns bis zum Parkplatz, trat sogar durch das Tor auf die Straße und winkte bis unser Auto hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Freigang winkte wohlerzogen zurück. Als ihn der Verkäufer nicht mehr sehen konnte, rutschte er fast vom Sitz und rief: „Ich kann nicht mehr, ich kann wirklich nicht mehr. Ich musste mich ja so beherrschen. Mein Gott noch mal, ich soll mich mit den Leuten hier verbunden fühlen und einen langen Atem haben.“ Eine Lachsalve unterbrach ihn. „Das Wort shareholder value mag er nicht! Das ist gut, da haben wir eine Gemeinsamkeit. Shareholder value ist für mich auch schon out, sharehopper value ist meine Devise.“

Freigang nahm mich nicht zum Dinner beim Verkäufer mit und schickte seinen Fahrer schon nach Düsseldorf, damit der ihn am nächsten Morgen vom Flughafen abholen konnte. „Nächste Woche verlasse ich Deutschland“, erläuterte er, „wenn ich länger als 183 Tage im Jahr in Deutschland wäre, müsste ich hier Steuern zahlen. Und für die Jahreszeit war ich schon viel zu lange hier.“

Ich fuhr mit Fiedler zum Autohaus und rief dann erst einmal Greta an.

„Was ist? Erzähl.“

„Später“, sagte ich ausweichend, „wir holen gerade mein neues Dienstauto ab, bringen dann unser altes Auto nach Hause, und von dort komme ich zu dir.“

„Du hast also zugesagt?!“

„Ja. Aber wir reden später darüber.“

Als ich den Audi A6 vor dem Haus einparkte, bewegten sich hinter mehreren Fenstern die Gardinen. Mein direkter Nachbar öffnete ein Fenster, lehnte sich ungeniert hinaus und fragte, ohne Fiedler, der aus meinem alten Auto stieg, zu beachten: „Einbruch oder Lottogewinn?“

„Weder noch. Es hat sich viel geändert.“

„Das sehe ich. Erzähl doch mal“, sagte mein Nachbar neugierig, aber ich wandte mich Fiedler zu: „Einen Moment, ich bin gleich wieder hier.“

Vor meiner Wohnungstür erwartete mich der Nachbar bereits: „Wann zieht ihr aus?“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich überrascht.

„Wenn ich auch Hartz IV kriege, eins und eins kann ich noch zusammenzählen. Wer wieder auf die Füße gefallen ist, bleibt nicht hier wohnen. Nicht in dieser Gesellschaftsordnung! Früher hatte unser Kombinatsdirektor fast die gleiche Neubauwohnung wie ich, nur ein Zimmer mehr.“ Er lachte auf. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Ein Wessi würde das nicht glauben.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, schlenderte er durch unsere Wohnung und musterte die Möbel: „Davon könnte ich einige gebrauchen. Ihr nehmt die doch nicht mit? Oder?“

 

An die Möbel für die Villa hatte ich noch nicht gedacht.

Ich blickte auf die Uhr, Möbelwalther im Gewerbegebiet Gompitz hatte noch lange geöffnet.

„Ich muss noch einmal weg“, sagte ich, „über die Möbel reden wir später.“

„Aber vergiss mich nicht.“

„Okay, ich denke an dich. Was wir stehen lassen, kannst du dir nehmen.“

An den Seitenscheiben des A6 drückten sich drei Halbwüchsige die Nasen platt und wichen zurück, als ich mich näherte. „Angeberauto“, zischte Einer.

Zuerst bekam ich einen Schreck und lächelte dann über mich selbst. Um mein Auto brauchte ich mir nun keine Sorgen mehr zu machen. Wenn es beschädigt oder geklaut werden würde, bekäme ich von der Leasinggesellschaft schnell ein anderes.

Greta erwartete mich im Büro. Den Besprechungstisch hatte sie mit einer gehäkelten Decke verschönt, auf der eine bereits geöffnete Flasche Rotwein, zwei Gläser und eine Ziegenkäseplatte standen. Das Flaschenetikett erkannte ich sofort, es war von Marques de Riscal, der bekanntesten Bodega von Rioja Alavesa. Seit wir meine Schulden abstottern mussten, hatten wir uns diesen Wein nicht mehr leisten können. Ich ließ mich erst einmal in meinen Sessel fallen und atmete durch. Greta steckte ihre Füße unter meinen Po. Wie oft, wenn sie etwas aufregte, waren die eiskalt, aber ihr Gesicht mit Schweißperlen unter den Augen hochrot.

„Stell dir vor“, begann ich.

Aber sie hob ihr Weinglas: „Pst! Lass uns erst einmal anstoßen.“

Ich liebte diesen würzigen Wein der Tempranillotrauben, den ich zum ersten Mal mit damaligen Geschäftspartnern in Bilbao getrunken hatte. Mit geschlossenen Augen genoss ich den ersten Schluck.

Greta, die gerne trockenen Weißwein trank und den Tanningeschmack nicht mochte, nippte nur am Glas: „Erzähl.“

„Stell dir vor“, begann ich erneut, brach dann aber wieder ab und musterte sie.

„Was ist?“

„Du wirkst so verändert. Warst du beim Gesichtspeeling?“

„Quatsch! Ich doch nicht.“

„Du wirkst jünger. Nein, erleichtert, sorgenfreier.“

„Ja, das ist doch klar. Erzähl jetzt endlich.“

„Stell dir vor“, begann ich zum dritten Mal, „ich habe jetzt ein Jahresgehalt von einer Million.“

„Das ist doch verrückt.“

„Warum? Jeder Vorstand kleiner AGs bekommt das heutzutage oder sogar noch mehr.“ Ich berichtete Greta ausführlich über die Gespräche mit Freigang und sagte abschließend: „Der wusste alles über mich. Der traut mir zu, seine Hütten AG, die er erst heute gekauft hat, zu führen. Den Geschäftsführerjob werde ich nur vorübergehend machen. Damit will er mich noch einmal testen. Klappt es, bin ich bald Vorstandsvorsitzender.

Klappt es nicht, wird der mich aber gnadenlos fallen lassen.“

„Und? Wird es klappen?“

„Ich denke schon.“

„Und was wird hier?“

„Die laufenden Geschäfte müssen wir noch abschließen.

Dann melde ich meine freiberufliche Tätigkeit ab.“

Greta nickte zufrieden: „Dann brauchst du mich also nicht mehr lange?“

Ich verstand sofort, was sie meinte: „Ich weiß, es ist dir nicht leicht gefallen, hier zu arbeiten. Aber was ist uns damals übriggeblieben? Eine fremde Assistentin konnte ich nicht mehr bezahlen. Jetzt willst du also in deinen Beruf zurück?“

Gretas Augen leuchteten auf. „Genau“, antwortete sie, „so schnell es geht.“

„Vielleicht wird es für dich nicht einfach, wieder mit geistig Behinderten zu arbeiten. Außerdem, finanziell hättest du es nicht mehr nötig.“

„Finanziell!“ Greta winkte verächtlich ab, obwohl sie gemerkt hatte, dass ich sie nur auf den Arm nehmen wollte. „Ich liebe meinen Beruf, das weißt du doch.

Natürlich ist er oft anstrengend, aber oft auch sehr schön. Niemand freut sich so sehr über kleine Erfolge wie meine Schüler. Du müsstest einmal ihre leuchtenden Augen sehen, dann würdest du mich verstehen.“

„Ich verstehe dich ja auch so. Ich weiß doch, dass du für die Rolle als Gattin eines Vorstandsvorsitzenden nicht geeignet bist.“

Greta spottete: „Unsere polnische Bediensteten rumkommandieren, Golfen, Tennis spielen und im Kirchenchor singen, sowohl im evangelischen als auch im katholischen, das wäre doch die Erfüllung für mich.

Oder?“

„Ja! Das wäre ganz toll. Aber weil du gerade von unseren Bediensteten sprichst, eins habe ich dir noch nicht gesagt, wir wohnen jetzt in einer Villa auf dem Weißen Hirsch.“

„Eine Villa?“ Gretas Pupillen weiteten sich.

„Ja. Eine Villa. Die gehört Freigang. Er meinte, die wäre für mich nun standesgemäß, in Gorbitz könnte ich auf keinen Fall bleiben.“ Ich blickte in Gretas Augen. „Du freust dich doch darüber, du kannst es nur noch nicht richtig zeigen. Bei unserem Umzug nach Gorbitz warst du auch nicht glücklich.“

„Sicher, aber lass mir Zeit. Ich muss mich erst einmal an unsere neue Situation gewöhnen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Eine Villa auf dem Weißen Hirsch!“

Wir schwiegen eine Weile, aßen den leckeren Ziegenkäse und tranken einen Schluck Rotwein. Dann sagte ich: „Eine Villa, für die wir Möbel brauchen. Am liebsten würde ich gleich mal zu Möbelwalther fahren. Hast du Lust?“

„Jetzt gleich? Du weißt doch, dass ich mich nicht so schnell entscheiden kann.“

„Musst du ja nicht. Lass uns einfach mal gucken.“

Greta stand auf: „Gib mir den Zündschlüssel.“

Wir fuhren die Kesselsdorfer Straße hinauf nach Gompitz. Im Feierabendverkehr stauten sich die Linksabbieger an der Kreuzung zur Rudolf-Walther-Straße. Als wir endlich einbiegen konnten, musste Greta ein paar Runden drehen, bevor sie einen freien Parkplatz entdeckte. Zuerst interessierte wir uns für die Schlafzimmereinrichtung und gingen die breite Treppe hinunter ins Untergeschoss. Schon beim ersten Rundgang fiel Greta ein Schlafzimmer aus heller skandinavischer Birke ins Auge. Die unterschiedliche Maserung der Bretter bewies, es bestand noch aus echtem Holz, nicht aus furnierten Pressplatten. Auch andere Interessenten schlenderten durch die Verkaufräume, aber nirgends saß ein Verkäufer mit Kunden, um einen Auftrag zu schreiben. Beim zweiten Mal blieb Greta vor dem Schlafzimmer stehen. Als sie die Schranktüren öffnete und unbewusst anerkennend nickte, näherte sich ein älterer Verkäufer. In dessen Gesicht spiegelten sich die Hoffnung, einen Auftrag zu erhalten und die Angst vor einer Enttäuschung deutlich wider.

„Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Leise und zurückhaltend formulierte der Verkäufer seine Frage. Jetzt stand die Angst, aufdringlich zu wirken und deshalb abgewiesen zu werden, in seinem Gesicht.

Betont freundlich antwortete Greta: „Ein sehr schönes Schlafzimmer. Gefällt mir toll.“

Die Augen des Verkäufers strahlten auf: „Sie haben einen guten Geschmack. Das ist wirklich unser Prunkstück.“ Er bemerkte Gretas Blicke zu den Preisschildern und ergänzte: „Allerdings nicht ganz billig.“

„Nein, wirklich nicht.“ Ich zögerte, und schon wieder verzerrte Angst das Gesicht des Verkäufers. „Aber schön, sehr schön. Was meinst du, Greta? Ich glaube, wir brauchen nicht länger zu suchen.“

Sie nickte zustimmend, und das Gesicht des Verkäufers entspannte sich: „Da haben Sie eine gute Wahl getroffen. Darf ich Sie zu dem Tisch bitten? Wünschen Sie einen Kaffee oder ein kaltes Getränk?“

„Nein, danke.“ Wir folgten ihm. „Was ist nur aus unseren stolzen Menschen aus der Wendezeit geworden?“, sagte ich leise zu Greta, „Hartz IV ist tatsächlich nicht nur für die Arbeitslosen gemacht. Es soll allen Arbeitgebern ermöglichen, ihre Mitarbeiter zu unterjochen und gefügig zu machen. Fehlt nur noch, dass die wieder die Sklaverei einführen.“

Nachdem ich den Auftrag unterschrieben hatte, erhob sich der Verkäufer erleichtert: „Jetzt kann ich eine Pause machen und gehe etwas essen.“

Irgendwie tat er mir leid, und ich sagte: „Wir haben in den nächsten Tagen noch viel zu bestellen. Wohnzimmer, Gästezimmer, Bad, Gästetoilette und so.“

Der Verkäufer atmete tief ein: „Leider kann ich diese Aufträge nicht persönlich annehmen. Aber kommen Sie trotzdem zu mir. Das ist ganz wichtig für mich. Bitte kommen Sie zu mir, bitte. Ich vermittle Sie dann an Kollegen.“

„Okay, machen wir. Sie können sich auf uns verlassen.“

Das Gesicht des Verkäufers strahlte wieder. Trotz des Mitleids konnte ich es nicht länger ertragen. Wir verabschiedeten uns und wollten gehen.

„Hallo Mutti, hallo Vati. Was macht ihr denn hier?”

Unsere Tochter Nicole kam uns mit einer Kommilitonin aus ihrer Studenten-WG entgegen. Nicole umarmte ihre Mutter liebevoll und küsste mich flüchtig auf die Wange.

„Wir haben gerade dieses Schlafzimmer gekauft“, antwortete ich. Nicole blickte staunend auf die Preisschilder und dann zu ihrer Mutter.

„Heute hat sich viel verändert“, sagte Greta, „komm heute Abend zu uns, dann können wir darüber reden.

Du warst ja sowieso diese Woche noch gar nicht bei uns. Wie geht es dir denn?“

„Viel Stress, vergiss es“, erklärte Nicole gespielt angewidert, aber ihre Augen strahlten.

„Verheimlichst du mir etwas?“

Nicole kichert und wackelte, wie schon als Kind, mit der Nasenspitze.

„Bist du frisch verliebt?“

Sie begannen ein vertrauliches Gespräch und entfernten sich dabei, vielleicht ohne es selbst zu bemerken, einige Schritte von mir. Ich stand wie ein Unbeteiligter abseits und beobachtete sie. In den letzten Jahren war Nicole ihrer Mutter immer ähnlicher geworden. Sie war schlank wie Greta, besaß die gleichen langen Beine und die gleichen wohlgeformtem Brüste, aber auch das gleiche, etwas breite Gesicht mit einer Stupsnase, das auf den ersten Blick nicht besonders hübsch wirkte. Von jungen Männern wurde sie kaum beachtet. Nur erfahrene Männer blickten ihr nach. Diese beeindruckte Nicoles Gesicht mit den lebendigen braunen Augen, von denen ein besonderes Strahlen ausging, das bei so jungen Frauen selten zu entdecken ist.

„Herzensbildung“, hatte ich einmal zu ihr gesagt und bewusst dieses fast vergessene Wort verwendet, „du strahlst wie deine Mutter Herzensbildung aus.“

Es machte beiden Spaß, manchmal die gleiche Frisur und die gleiche Kleidung zu tragen. Von hinten konnten sie dann für Schwestern gehalten werden, und sie verhielten sich auch oft so. Nicole fühlte sich mit ihrer Mutter so eng verbunden, dass sie sogar während der Pubertät mit ihr offen über alle Probleme gesprochen hatte. Greta erinnerte ihre Tochter immer wieder an ihre eigene Jugend. Auch sie hatten Gleichaltrige wenig beachtet.

„Ein Chilene?“, fragte sie jetzt überrascht.

Was Nicole antwortete, konnte ich nicht verstehen, und ich ging zu ihnen.

„Also bis heute Abend“, sagte Greta, „dann können wir über alles reden.“

Nicole begleitete uns zum Parkplatz.

„Das ist unser neuer Wagen.“ Ich drückte den Türöffner, und die Lichter des A6 leuchteten auf.

„Geil, voll geil“, sagte Nicole.

Vergnügt verabschiedete ich mich von ihr. Sie blieb mitten auf der Straße stehen und blickte uns nach.

Übermütig blinkte ich links und rechts wie ein Lastautofahrer, der sich bedankt.

„Wen hat sie?“, fragte ich, als wir wieder auf der Kesselsdorfer Straße waren, „einen Chilenen?“

„Ja, einen Studenten aus Chile. Der studiert in Berkeley und macht hier ein Semester.“

„Wesentlich älter als sie?“

„Nein, dieses Mal nicht, nur vier Jahre.“

„Freut mich.“

„Mich auch. Ich glaube, es hat sie tüchtig erwischt.“

„Dann lerne mal schon spanisch für deine Enkelkinder.“

„Beschrei es nicht. Sie muss noch ein paar Jahre studieren.“

Mein Beraterbüro behielt ich vorerst, um die laufenden Geschäfte noch abzuschließen. Wie Freigang angewiesen hatte, bezog ich aber bereits ein Büro mit Vorzimmer für meine Assistentin in dessen deutscher Zentrale im Osten Dresdens. Seinen Besuchern erklärte Freigang immer stolz, viele Details des Gebäudeentwurfs hätte er vorgeschlagen. Noch öfter wies der verantwortliche Architekt darauf hin, dass er das Gebäude zwar gebaut, aber nicht selbst entworfen hätte.

Die Anwohner nannten das Haus „Neuschwanstein“, aber noch weniger als an dem weltbekannten neoromantischen Schloss konnte das Auge an Freigangs Gebäude einen Halt finden. Von Weitem leuchtete es überwiegend grün und gelb. Das Grün kam von einer großen Glaskuppel, von vielen Fenstern und sonstigen Glasfronten und von Teilen des Daches, das Gelb von Backsteinen und von anderen Fenstern und Verglasungen. Daneben gab es aber auch dunkle Dachziegel, hellgraue Backsteine und farblose Fenster. Besonders die vielen Anbauten erzeugten den schlossähnlichen Eindruck. Manche waren rund, andere eckig, die nächsten quadratisch. Die Dächer darüber waren pyramidenförmig, flach oder achteckig. Kaum ein Fenster ähnelte dem anderen, das eine war normal rechteckig, dafür aber mit einem Spitzdach überbaut, das daneben rund, das nächste besaß einen gotischen Bogen. Der eine Balkon hatte eine moderne Brüstung aus Glas und Edelstahl, der darunter stehende eine mit ionischen Säulen.

 

Daneben stützten Säulen mit glattem Schaft oder mit Kanneluren einen Vorbau. Auf der Südseite befand sich ein Anbau aus Edelstahl und grünem Glas, das den Einblick von draußen behinderte. Hier präsentierte Freigang stets einige seiner vielen Oldtimer. Vor dem Haupteingang demonstrierte ein weißer Löwe die Macht und den Reichtum des Bauherrn.

Führte der wichtige Besucher durch dieses Haus, wurde sein Lächeln vor seiner Bürotür noch stolzer. Es war mit gotischen Möbeln aus dem 15. Jahrhundert eingerichtet. Ins Auge fiel sofort der Armoire, ein hochaufragender, wandfester mit vier schlanken Säulen eingefasster eintüriger Schrank aus Nussbaum. Seine senkrechten Faltwerkschnitzereien wirkten wie drapierte Textilien.

Daneben stand eine wuchtige, massiv wirkende, mit Kerbschnitten verzierte Truhe aus Eichenspaltholz. Als Schreibtisch benutzte Freigang einen schmucklosen gotischen Esstisch mit aufklappbarer Platte, als Stuhl eine schlichte Truhenbank mit verstellbarer Rückenlehne.

„Die Möbel hat ein norddeutsches Fürstenhaus vor einem halben Jahrtausend nach Italien verkauft“, pflegte er triumphierend zu erklären, „aber ich habe sie nach Deutschland zurückgeholt!“

Mein Büro unterschied sich dagegen kaum von anderen, modern eingerichteten Arbeitszimmern. In zwei Wände waren helle Aktenschränke eingebaut. Vier schlanke Tischbeine aus Stahl, durch die die Computer- und Telefonleitungen verlegt waren, trugen eine schlichte, hellbraun furnierte Tischplatte. In einer Ecke stand ein kleiner, quadratischer Besprechungstisch mit vier einfachen, gepolsterten Stühlen. Nur mein Schreibtischsitz war anders als die meiner Nachbarn. Ich benutzte einen sogenannten Swopper, dessen Sitzfläche in allen Richtungen beweglich war und die Rücken-, Gesäß- und Bauchmuskulatur kräftigte. Unter meinen Bürofenstern lagen der Mitarbeiterparkplatz und ein hektargroßer Teich für Schwäne mit gestutzten Flügeln, der noch zu Freigangs Grundstück gehörte.

Meine neue Assistentin, Frau Wagner, war eine junge Absolventin der Uni München. Sie hatte je ein Semester in England und Frankreich studiert und beherrschte beide Sprachen perfekt. Ihr Gesicht war immer unnatürlich gelb wie das einer Fernsehansagerin geschminkt und wirkte streng und abweisend. Aus ihren eingefallenen Wangen ragte eine breite Nase weit hervor. Ihr gertenschlanker Körper wirkte zerbrechlich.

„Sie müssten einmal etwas essen“, empfahl ich ihr bereits nach wenigen Tagen. Ihr abweisender Blick sorgte dafür, dass ich derartige Ratschläge nicht wiederholte.

Der erste Auftrag führte uns in die Konzernleitung der Hütten AG. Vorher musste ich aber noch in Florida anrufen.

„Mein schriftlicher Auftrag bedarf einer mündlichen Erläuterung“, sagte Freigang. „Prüfen Sie die Bücher und senken Sie die Kosten. Aber eines ist vorrangig, knöpfen Sie sich Schneider, den Vorstandsvorsitzenden, vor. In spätestens sechs Wochen muss ich den abschießen können. Für eine Übergangszeit habe ich seinen Posten bereits neu vergeben. Ist das klar? Wie wollen Sie das machen? Haben Sie schon eine Idee?“

„Ach“, antwortete ich selbstsicher, „Null problemo, denke ich. Ich prüfe seine zustimmungspflichtigen Geschäfte. An denen bin auch ich gescheitert. Da konnte ich mich nicht mehr rauswinden und wurde ohne Abfindung gefeuert. Aber wenn ich bei wichtigen Entscheidungen immer auf die Zustimmung meiner Vorstände gewartet hätte, wäre die Firma längst pleite gewesen. Schneider wird ähnliche Erfahrungen gemacht haben.“

„Gute Idee“, lobte Freigang, „ich denke, dass Sie das packen werden. Also Weidmannsheil.“

Als ich mit meiner Assistentin Schneiders Vorzimmer betrat, blickte dessen Sekretärin erstaunt auf. Frau Wagner trug einen hellbeigen, eleganten Hosenanzug mit dunklen Längsstreifen, unter der Jacke einen schwarzen Top, der den Brustansatz freiließ und schwarze Schuhe mit breiten Absätzen. Ihre schwarzen, nackenlangen Haare waren glatt nach hinten gekämmt.

Eine dunkelrote Locke über der Stirn milderte diese strenge Frisur etwas, aber die schwarzen, bis zu den Ohrläppchen reichenden Koteletten und eine breite, ebenfalls schwarze Brille gaben ihr einen harten Gesichtsausdruck. Ich hatte mir einen dunklen Nadelstreifenanzug mit einer Weste und mit den nun auch für mich unvermeidbaren goldenen Knöpfen gekauft. Dazu trug ich ein weißes Hemd mit breiten goldenen Manschettenknöpfen und eine dunkelrot gemusterte Krawatte mit einem gleichfarbigen Einstecktuch.

„So hätten die auch zu einem Empfang beim Bundespräsidenten gehen können“, soll Schneiders Sekretärin später ihren Kolleginnen in den einzelnen Werken der AG erklärt haben, als sie diese vor uns warnte. In diesem Moment erhob sie sich jedoch, um uns per Handschlag zu begrüßen. Aber als wir ihr freundliches Lächeln nicht erwiderten und unsere Köpfe höher hoben, verzichtete sie darauf.

Das erste Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden war nur kurz. Dessen Handschlag wichen wir zwar nicht aus, aber auch bei ihm huschte kein Lächeln über unsere Gesichter. Seine Einladung zum Mittagessen lehnte ich kühl ab. „Zuerst müssen wir arbeiten. Lassen Sie uns bitte eine Mikrowelle und eine Espressomaschine in unser Zimmer stellen, dann sind wir unabhängig“, sagte ich und kam ohne den üblichen Smalltalk auf meinen Auftrag zu sprechen. „Ich werde zuerst Ihre Werke besuchen. Frau Wagner prüft hier Ihre Bücher. Sie wissen schon, die Monatsberichte des laufenden Geschäftsjahres und die drei letzten Jahresberichte. Dann sehen wir weiter.“

„Welche Gesellschaften möchten Sie zuerst besuchen?“, fragte der Vorstandsvorsitzende.

„Wer ist Ihr bester, von allen anderen geachteter Geschäftsführer?“

„Das ist Gerhard Beyer aus unserer Hütte in der Bergstadt.“

„Gut, ich werde dort beginnen.“

Wir verabschiedeten uns so kühl, wie wir gekommen waren. Kurz vor der Tür drehte ich mich noch einmal um. „Ach so, da fällt mir ein“, sagte ich so, als wäre das nicht wichtig, „Frau Wagner hat auch den Auftrag, die Einhaltung der Vorschriften für zustimmungspflichtige Geschäfte zu prüfen.“

„Okay, das nehme ich zur Kenntnis“, antwortete Schneider ebenso leichthin, aber zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte.

„Mein Gott“, sagte ich in unserem Arbeitszimmer zu Frau Wagner, „so haben mich früher die Mitarbeiter der Beraterfirmen behandelt, aber ich noch niemand.“

„Und warum, wenn ich fragen darf, machen Sie das jetzt?“

„Warum? Wie soll ich Ihnen das kurz erklären? Wegen meinen Erfahrungen als langjähriger Geschäftsführer.

Sie sind zu jung, Sie haben das nicht mehr selbst erlebt, aber Sie müssen wissen, damals, nach der Wende, wurde ich von unserem neuen, westdeutschen Gesellschafter von Seminar zu Seminar geschickt. Manchmal gab es abends sogar ein mehrgängiges Dinner. Ich denke, manche Wessis glaubten wirklich, die blöden Ossis müssten lernen, mit Messer und Gabeln zu essen.“

„Jetzt übertreiben Sie aber!“

„Ja, natürlich. Vielleicht wollten die uns auch nur zeigen, in welcher Reihenfolge das aufgelegte Besteck benutzt werden muss. Doch das nur nebenbei. In einem Seminar wurde unserer Führungstyp ermittelt. Ich war der Einzige, der sich als kooperativer Typ erwies. Und so habe ich auch die Hütte geführt und von der kleinsten, als völlig chancenlos bewerteten, zur größten und modernsten in Europa entwickelt. Zuerst, in der Ausnahmesituation direkt nach der Wende, in der alle Angst vor der Insolvenz und der Arbeitslosigkeit hatten, lief das sehr gut. Aber kaum machten wir schwarze Zahlen und standen auf sicheren Beinen, dachte auch der Betriebsrat, dessen Gründung ich selbst angeregt hatte, er könnte diesen kooperativen Geschäftsführer ausnutzen, um für sich selbst möglichst viel herauszuschlagen.

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