Buch lesen: «Dein Leben liegt in deiner Hand»
Dzigar Kongtrül
Dein Leben liegt in deiner Hand
Dzigar Kongtrül
Dein Leben liegt
in deiner Hand
Die Praxis der Selbst-Erkenntnis
auf dem buddhistischen Weg
Vorwort von Pema Chödrön
Geleitwort von Matthieu Ricard
Übersetzt von Michaela Haas
Arbor VerlagFreiamt im Schwarzwald |
Copyright © 2006 by Dzigar Kongtrül
Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt by arrangement with Shambhala Publications, Inc.,
P.O. Box 308, Boston, MA. 02117 Titel der amerikanischen Originalausgabe:
It’s Up to You, The Practice of Self-Reflection on the Buddhist Path
Alle Rechte Vorbehalten
E-Book 2018
Titelfoto: © 2006, photocase.com
Korrektorat: Doris Wolter
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-240-5
Dieses Buch ist der Erleuchtung aller fühlenden Wesen gewidmet, unseren Müttern*.
Es ist dem langen Leben der Linienhalter aller Weisheits-Traditionen gewidmet.
Möge der Frieden, der aus Klugheit und Mitgefühl entsteht, sich in der ganzen Welt durchsetzen.
* Gemäß der buddhistischen Auffassung von Wiedergeburt waren alle Wesen einmal zu irgendeiner Zeit unsere Mütter. Wenn wir darüber kontemplieren, wie sehr sie sich um uns gekümmert und uns beschützt haben, kommt große Liebe für alle fühlenden Wesen in uns auf.
Inhalt
Vorwort von Pema Chödrön
Geleitwort von Matthieu Ricard
Vorrede des Autors
Danksagung
Gebet an die Longchen Nyingtik Linie
Einleitung
Erster Teil Die Praxis der Selbst-Erkenntnis
1 Der Blick in den Spiegel
2 Die Magie der Spiegelungen
3 Das Vermächtnis der Höhlenmenschen und der Weisen
4 Unser natürliches Erbe
5 Der Lehrer als Spiegel
Zweiter Teil Furchtlose Selbst-Erkenntnis
6 Mut üben
7 Zuflucht finden
8 Mit Gewohnheiten und Ängsten tanzen
9 Die Eigendynamik der Verblendung
10 Entschleunigen
11 Die Welt nicht ködern
12 Präsent sein
13 Selbstsucht überwinden
14 Freund von Feind unterscheiden
15 Das Herz noch mehr weiten
16 Sinn für Humor
Dritter Teil Unseren Platz in der Welt fìnden
17 Aktion und Intention
18 Wach am Tage, im Schlaf und im Traum
19 Würde und Eleganz
20 Kreativ sein
21 Grossartige Möglichkeiten
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Mangala Shri Bhuti
Vorwort von Pema Chödrön
Ich habe Dzigar Kongtrül Rinpoche zum ersten Mal im Frühjahr 2000 lehren gehört. Ich erinnere mich an diese Belehrung sehr eindringlich, denn es hat in mir etwas wachgerufen, was ich mit der gleichen Wucht nicht mehr erlebt hatte, seit mein ersten Lehrer, Chögyam Trungpa Rinpoche, 1987 verstorben ist.
Ich fühlte mich wieder verbunden mit einem weit offenen und klaren Blick auf die Wirklichkeit – gerade so, als hätte ich mich in einem kleinen, schummrigen Raum durchgewurstelt, und als verschwänden plötzlich nicht nur die Wände, sondern auch die Decke und der Boden – und da war schlichte, direkte Freiheit. Ich erinnere mich, wie ich dachte: „Genau! So ist es immer!“ Ich wusste auch, dass jeder diese Erfahrung machen kann und dass Rinpoche klare Anweisungen gab, wie man das erreichen konnte. Ich hörte mit freudiger Begeisterung zu, während ich fühlte, dass Kongtrül Rinpoche meine persönliche Verbindung mit dieser Freiheit war und dass ich ihm näher kommen und mehr lernen sollte.
Später, nachdem ich Rinpoche sehr, sehr oft gehört hatte, begann ich das in Worte zu fassen, was in seiner Art des Lehrens die Worte so stark nachhallen ließ. Zum Teil ist es die lange und intensive buddhistische Ausbildung, die er von überragenden weisen und erfahrenen Meistern erhalten hat. Auf bestimmte Weise übertragen sich sowohl die Tiefe seiner Studien als auch der Segen der Linie seiner Lehrer, wenn er spricht. Zum Teil ist es seine eigene Lebenserfahrung, die sich dadurch auszeichnet, dass er sich nie zurückhält, sondern sich selbst immer herausfordert, noch einen Schritt weiter aus dem Sicheren und Vorhersehbaren herauszutreten. Ich finde seinen Mut und seine Furchtlosigkeit ansteckend. Zum Teil ist es sein gutes Herz, seine Güte, und seine Bescheidenheit. Zum Teil liegt es daran, dass er sich mit Leib und Seele in die westliche Kultur hineinbegeben hat.
Er weiß so genau, was in seinen Schülern vorgeht, weil er weiß, wie es sich anfühlt, in ihrer Haut zu stecken. Zum Teil ist es sein Wissen um das, was in seinen Schülern vorgeht. Zum Teil ist es seine fast brutale Direktheit. Zum Teil ist es sein Humor. Zum Teil ist es, weil man sich durch ihn verstanden und geschätzt fühlt, und zum Teil liegt es daran, dass man spürt: Er lässt einem nichts durchgehen; er wird es ansprechen, wenn man sich versteckt oder zurückzieht.
Was auch immer das magische Etwas ist, ich bin sicher nicht die Einzige, die von Kongtrül Rinpoches Lehren unterstützt und ermutigt wird. Er hat viele großartige Schüler, deren Leben sich von Grund auf geändert hat, weil sie sich seine Worte zu Herzen genommen haben und sie im Alltag in die Tat umsetzen.
Etwa vor einem Jahr haben einige von uns Rinpoche gebeten, doch bitte darüber nachzudenken, die Belehrungen, die er über mehrere Jahre stets Sonntag morgens gegeben hat, als Buch zu veröffentlichen. Wir wussten, dass diese Belehrungen leicht verloren gehen könnten, wenn sie niemand niederschreibt. Und wenn man sie nicht veröffentlicht, dann würden nur die wenigen Glücklichen, die diese Lehren gehört haben, von ihnen profitieren. Wir wollten eine größere Zuhörerschaft das erfahren lassen, was wir erfahren hatten.
Zuerst schien Rinpoche daran nicht interessiert. Er sagte, er wolle seine Zuhörerschaft lieber klein halten, und hoffe, einen echten Herzenswandel in jenen Schülern zu sehen, die sich ernsthaft darauf einlassen, seine Anweisungen auszuprobieren. Aber als sich die Lage in der Welt verschlimmerte, drängten wir ihn erneut, seine Lehren auch öffentlicher zu präsentieren, und zu unserer Freude sagte er eines Tages urplötzlich: „Das machen wir!“
Mögen Sie von Rinpoches Weisheit und Klarheit so sehr profitieren wie ich, und möge dieses Buch eine persönliche Verbindung mit einem lebenden Lehrer und dem lebendigen Dharma hersteilen.
Geleitwort von Matthieu Ricard
Dzigar Kongtrül Rinpoche ist nicht nur ein enger Herzens-Sohn meines Ursprungs-Lehrers* Dilgo Khyentse Rinpoche, sondern auch einer meiner eigenen Lehrer. Dieses Geleitwort zu schreiben scheint mir deshalb so unnötig und unangebracht, als wollte ich am helllichten Tag mit einem Streichholz mehr Licht machen. Aber ich kann mich seiner freundlichen und geschätzten Bitte nicht widersetzen, und deshalb bringe ich gerne in einigen Worten zum Ausdruck, welche Wirkung seine Lehren auf so viele von uns haben.
Kongtrül Rinpoches Lehren sind außerordentlich lebendig und zugänglich für die Menschen im Westen. Gleichzeitig sind sie aber alles andere als ein abgeschwächter westlicher Aufguss von Buddhas Lehren. Vielmehr hat er eine authentische Ausdrucksform für diese Lehren gefunden, mit Worten und Wegen, die seine lange Erfahrung in der westlichen Welt widerspiegeln. Anpassungen sind oft Kompromisse, die damit beginnen, dass die stärksten, unverzichtbaren Elemente buddhistischer Praxis unter den Tisch fallen. Sie bringen uns dazu, einige wenige Punkte aus dem Dharma herauszupicken, von denen wir uns angesprochen fühlen und all das wegzulassen, was uns zu schaffen macht – gerade so als würden wir ein starkes, wirksames Medikament weglassen und nur eine beruhigende Salbe auftragen. Die Aspekte, die uns beunruhigen, sind oft genau die, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten, weil sie die am tiefsten liegenden Ursachen für unsere Probleme ansprechen.
Um ein Beispiel zu geben: Wenn es das „Selbst“ tatsächlich gäbe, dann wäre der Versuch, es loszuwerden, so wenig wünschenswert und schmerzhaft, als würden wir uns das Herz aus der Brust reißen wollen. Aber wenn sich herausstellt, dass die
Anhaftung an das „Ich“ im Wesentlichen auf einer grundlegenden Fehleinschätzung beruht – der Wurzel all unserer Probleme – warum ist es dann so schwierig, uns davon zu befreien? In seinen Lehren zeigt Kongtrül Rinpoche unmissverständlich und klar, wie die Identifikation mit einem soliden „Ich“ und die Bedeutung, die man sich folglich selbst beimisst, eine leichte Zielscheibe für die schmerzhaften Pfeile von Wut, Zwangsvorstellungen, Stolz und Eifersucht abgeben.
Genauso kann uns die Vorstellung von Entsagung viel Unbehagen verursachen. Klar, wenn Entsagung bedeutete, uns das zu missgönnen, was wirklich gut tut, dann wäre es absurd, irgendeiner Sache zu entsagen. Aber wenn es einfach bedeutet, das aufzugeben, was uns eben Probleme bereitet, wer würde sich dann nicht dafür begeistern und es sich so schnell wie möglich aneignen? Wenn ein abgekämpfter Reisender entdeckt, dass sein Rucksack mit schweren Steinen gefüllt ist, dann wird er doch sehr froh sein, sie aus seinem Gepäck werfen zu können, oder?
Ein weiteres wichtiges Zeugnis für die Authentizität von Rinpoches Lehren ist seine eigene, nie schwankende Hingabe an seine Lehrer und die große Bedeutung, die er dem Nähren von Bodhichitta beimisst, dieser unabdingbaren altruistischen Geisteshaltung, mit der wir erkennen, dass „alles, was nicht dazu da ist, anderen zu helfen, schlichtweg nichts wert ist“, wie es ein großer Meister einmal ausdrückte.
Die Ratschläge in diesem Buch haben mich enorm inspiriert, und deshalb ermutige ich Sie, sie zu studieren und zu praktizieren. Lassen wir Kongtrül Rinpoches Lehren nun für sich sprechen.
* Der tibetische Begriff rtsa ba‘i bla mawìtà von vielen deutschen Übersetzern mit „Wurzel-Lehrer“ übersetzt. (Anm. d. Ü.)
Vorrede des Autors
Diese Belehrungen wurden inspiriert von den Bedürfnissen und Fragen meiner Schüler, die versuchen aufrichtige, echte Praxis in ihr Leben zu integrieren. Obwohl die Belehrungen in diesem Buch ihre Wurzeln in den traditionellen Lehren haben, die ich von meinen Lehrern erhalten habe, betrachte ich selbst sie nicht als traditionelle Belehrungen, sondern eher als meine eigenen Betrachtungen und Einsichten. Sie sollen Schüler ermutigen, sich voller Freude und ehrlich auf Selbst-Erkenntnis als einen Weg einzulassen, ihr Verständnis des spirituellen Pfades zu vertiefen. Zu guter Letzt haben alle Lehren, ob traditionell oder formlos, das eine Ziel: Selbstherrlichkeit abzubauen und Platz zu schaffen für die Wahrheit.
Dieses Buch beruht auf einer Reihe von Gesprächen, die ich mit meinen Schülern jede Woche per Telefon austausche. Ich nenne diese Vorträge unsere „persönliche Verbindung“, weil sie uns die Möglichkeit geben, regelmäßig in Kontakt zu bleiben. Sie bilden auch eine direkte Verbindung zur Sicht und zur Praxis.
Mögen die Linienmeister, die Mutter-Dakinis und die Gelehrten mir vergeben, falls sich irgend ein Irrtum in diesem Buch befindet. Ich bitte Sie dringend, lieber Leser, daraus mitzunehmen, was immer Sie für nützlich halten.
Danksagung
Mein aufrichtiger Dank geht an alle, die geholfen haben, dieses Buch möglich zu machen. Danke an meine Frau Elizabeth, die mit Herz und Seele dafür gesorgt hat, dass der logische Fluss und Inhalt meiner Absicht entsprach. Besonderen Dank an Helen Berliner, die enorme Sorgfalt und wichtige Überlegungen in dieses Projekt mit eingebracht hat. Ich bin dankbar für ihre Geistesschärfe, Klarheit und ihr Sprachgefühl. Vielen Dank an Sasha Meyerowitz und Vern Mizner, die so viel Zeit, Wissen und Aufmerksamkeit in die Entstehung dieses Buches gelegt haben. Ich bin den vielen Transkribierern von Mangala Shri Bhuti dankbar für ihre harte Arbeit zu Beginn dieses Prozesses. Mein Dank geht auch an Emily Bower vom Shambhala Verlag für ihr sorgfältiges Lektorat des Manuskriptes in der Endphase. Und ich weiß sehr zu schätzen, wie präzise Tracy Davies den Text redigiert und wie wunderbar John Canti das Gebet an die Meister der Traditionslinie übersetzt hat.
Gebet an die Longchen Nyingtik Linie
Samantabhadra, Vajrasattva und Vajradharma –
Lehrer der Geistesübertragung, lasst alles Glück verheißend werden!
Garab Dorje, Mañjushrimitra,
Shri Singha, Jñanasutra, Vimalamitra,
Padmasambhava – Heerscharen von Lehrern der symbolischen Übertragungslinie,
Beschützt mich mit Euren Segen, eurem Mitgefühl und eurer Weisheit.
Dharmakönig Trisong Detsen und deine Söhne, großartiger Übersetzer Vairotsana,
Gebieterin über die Dakinis, Königin der Großen Glückseligkeit,
All ihr Lehrer der geflüsterten Übertragungslinie – Perlen in der Rosenkranz-Girlande,
Ergießt den Segen eures Weisheitsgeistes über uns.
Zweiter Buddha dieses heruntergekommenen Zeitalters – Longchenpa,
Jigme Lingpa, Khyentse Wangpo, Dharma-Meister Jamgön Kongtrül,
Asket Patrül, großer Schatz-Entdecker Chogyur Lingpa und ihr anderen –
Ursprungs- und Linienmeister, spendet eure Segen mitten in mein Herz hinein.
Edle Emanation von Khyentse, einziges Auge der Welt,
Mächtiger Herrscher Tenzin Gyatso, einzigartiger Beschützer der Welt,
Jamyang Dorje, Dharma-Meister der Welt,
Und all meine Lehrer, die ihr frei seid von den Makeln der Welt:
Mit der mitfühlenden Umarmung eurer Weisheit, schaut auf mich und denkt an mich mit Güte.
Wie kann ein stumpfer und verwirrter Taugenichts wie ich, der nur isst, schläft und scheißt,
Irgend jemanden an den heiligen Dharma heranführen?
Es muss an dem Verdienst liegen, den ich anscheinend doch in vergangenen Leben angesammelt habe –
Denn schließlich bin ich leibhaftig all euch Buddhas mit Euren Weisheitsaugen begegnet Und hatte das große Glück, die Bedeutung eurer Lehren zu studieren –
Deshalb, mit reinster Absicht und im Einklang mit den Anweisungen meiner Lehrer,
Von allem, was ich sagen möchte, um den muttergleichen fühlenden Wesen zu helfen,
Habe ich ein schwaches Abbild in diesem Büchlein zusammengetragen.
Mögen alle, die es sehen, hören oder daran denken,
Nach und nach Schüler von all euch Buddhas werden,
Und – indem sie das zweifache Ziel spontan erreichen – vollkommene Erleuchtung erlangen.
Geschrieben von Dzigar Kongtrül JigméNamgyel. Mangalam!
Aus dem Tibetischen ins Englische übersetztvonjohn Canti
Einleitung
Das Verlangen nach Glück ist universell. Und abgesehen davon, dass wir in unserem Leben Glück und Sinn finden möchten, wollen die meisten von uns auch gute, anständige Menschen sein. Gut, glücklich und anständig sein zu wollen, ist nicht nur ein vernünftiger Wunsch, sondern auch ein edler. Ironischerweise kämpfen wir die meiste Zeit damit, wie wir das am besten erreichen könnten. Wir haben eine Vorstellung davon, wie wir sein wollen, aber wir stellen fest, dass wir wieder und wieder über unsere eigenen Zweifel, Ängste und Unsicherheiten stolpern.
Auf dem spirituellen Weg sprechen wir von Erleuchtung.1 Aber wie bringen wir den Erleuchtungs-Gedanken mit unserem Anblick im Spiegel in Einklang? Wenn wir nach Erleuchtung suchen, während wir uns bemühen, unsere Verwirrung zu umschiffen, trennen wir unsere Praxis von unserer unmittelbaren Erfahrung ab. Wenn wir uns dagegen nur auf unsere Gewohnheitsmuster konzentrieren, sind wir nur mit uns selbst beschäftigt und bleiben in unserem Schmerz stecken.
Der Versuch, unsere Vorstellung von Erleuchtung mit unserer Verwirrung in Einklang zu bringen, ist genau der richtige Ausgangspunkt für den Pfad. Es ist ein Ausdruck unseres tiefen Verlangens nach Freiheit und Glück, und dieses Verlangen ist an sich bereits ein Indikator für das große Potenzial des Geistes, das wir alle besitzen. Die Tatsache, dass wir über dieses weitreichende Potenzial verfügen, bedeutet jedoch nicht, dass wir von Haus aus vollständig erleuchtet oder edel sind. Vielleicht sind wir durcheinander. Aber anstatt zu versuchen, diese Verwirrung entweder links liegen zu lassen oder gegen sie anzukämpfen, könnten wir sie gut nutzen. Es erfordert eine gewisse Reife zu lernen, sowohl unser größeres Potenzial als auch unsere Neurosen anzunehmen. Diese Reife können wir durch die Praxis der Selbst-Erkenntnis entwickeln.
Selbst-Erkenntnis ist die Geisteshaltung und die Praxis, ehrlich anzuschauen, was auch immer in unserer Erfahrung auftaucht – ohne zu beurteilen. Das fällt uns schwer, denn es ist gegen unsere Gewohnheit. Wir neigen dazu, unliebsame Erfahrungen loswerden und angenehmen Erfahrungen nachjagen zu wollen. Das außerordentlich Schöne und Liebevolle in der Praxis der Selbst-Erkenntnis liegt darin, dass sie nicht von uns verlangt, irgendetwas anderes zu erleben als das, was wir gerade erleben. Wenn wir unvoreingenommen hinschauen, kann die in uns wohnende Klugheit sowohl das großartige Potenzial unseres Geistes als auch unsere Verwirrung erhellen. Damit verändern wir den alten Kampf mit unserem eigenen Geist und verwandeln genau dies damit in den Ausgangspunkt für unseren Weg zur Erleuchtung.
Selbst-Erkenntnis ist der gemeinsame Nenner jeder buddhistischen Praxis – gleich welcher Traditionsrichtung. Sie bewahrt uns davor, Praxis als eine bloße weitere Unternehmung zu betrachten, denn sie haucht den Lehren Leben ein und lässt sie zur lebendigen Erfahrung werden.
Erster Teil
Die Praxis der Selbst-Erkenntnis
1Der Blick in den Spiegel
Wenn wir in den Spiegel blicken, dann ist das, was wir am allerwenigsten sehen wollen, ein ganz normaler Mensch. Wir möchten lieber jemand Besonderen sehen. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht _ wir sind einfach nicht damit zufrieden, einen ganz normalen Menschen mit Neurosen, Schwierigkeiten und Problemen zu erblicken.
Wir wollen einen glücklichen Menschen sehen, aber stattdessen sehen wir jemanden, der sich abmüht. Wir würden uns gerne für mitfühlend halten, aber stattdessen erblicken wir einen Egoisten. Wir sehnen uns danach, eine elegante Erscheinung abzugeben, aber unsere Arroganz macht uns grob. Und statt eines starken oder unsterblichen Menschen erblicken wir jemanden, der anfällig ist für die vier Strömungen im Lauf der Zeit: Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Der Widerspruch zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir sehen wollen, tut uns enorm weh.
Die Qual der Selbstsucht
Was uns in dieser Qual gefangen hält, ist unser Gefühl, etwas Besonderes zu sein, oder unser Drang nach „Selbst-Geltung“ 2 Diese Selbst-Geltung ist unser unterschwelliges Klammern an „ich, ich, ich, mich, mich, mich, mein, mein, mein“, und das färbt all unsere Erfahrungen. Wenn wir genau hinsehen, entdecken wir einen großen Anteil an Selbst-Sucht in allem, was wir denken, sagen oder tun. „Wie kann es mir gut gehen? Was werden die anderen denken? Was bringt mir etwas? Was verliere ich dabei?“ All diese Fragen haben ihre Wurzeln in unserer Selbstsucht. Sogar unser Gefühl, der Vorstellung unseres Selbst nicht gerecht zu werden, ist eine Form von Selbstsucht oder Selbst-Geltung.
Wir möchten uns gerne als stark ansehen und alles im Griff haben, aber in Wahrheit sind wir so zerbrechlich wie eine Eierschale. Wir fühlen uns zutiefst verletzlich, und zwar in unguter Weise. Dieses verwundbare Selbst verlangt nach Schutz, nach einem Panzer, nach der Aufstellung von Truppen und dem Hochziehen von Mauern. Und schon sitzen wir in der Falle, mit all unserer Qual. Wir fürchten uns mehr und mehr davor loszulassen, die Dinge so sein zu lassen, wie sie sind. Wir werden immer unsicherer, ob alles so laufen wird, wie wir uns das wünschen.
Es erfordert Mut, Selbst-Gefälligkeit zu überwinden und zu sehen, wer wir wirklich sind – aber genau das ist unser Weg. Ob explizit oder indirekt: Alle buddhistischen Lehren zielen darauf ab, Selbstsucht zu vermindern und Raum zu schaffen für die Wahrheit. Dieser Prozess beginnt mit Selbst-Erkenntnis.
Ein fragender Geist
Der große indische Gelehrte Aryadeva3 hat gesagt, dass bereits das bloße Hinterfragen, ob die Dinge wirklich so sind wie sie scheinen, das ganze Fundament des gewohnheitsmäßigen Festhaltens erschüttern kann. Diese hinterfragende Geisteshaltung ist der Ausgangspunkt der Selbst-Erkenntnis. Könnte es sein, dass dieses engmaschige Ich-Bewusstsein gar nicht so ist, wie es scheint? Müssen wir wirklich alles so angestrengt zusammen halten, und können wir das überhaupt? Gibt es ein Leben jenseits unseres Geltungstriebs? Mit dieser Art von Fragen öffnen wir das Tor zur Erforschung der wahren Ursachen für unseren Schmerz.
Die Praxis der Selbst-Erkenntnis erfordert, dass wir einen Schritt zurücktreten, unsere Erfahrungen untersuchen und nicht der Eigendynamik unserer Gewohnheitsmuster nachgeben. Dies erlaubt uns, all das anzuschauen was auftaucht, ohne es gleich zu bewerten, und damit bürsten wir direkt gegen den Strich unserer Selbst-Gefälligkeit.
Selbst-Erkenntnis ist der gemeinsame Nenner aller Traditionen und Linien buddhistischer Praxis. Sie führt uns auch über die Grenzen formeller Praxis hinaus. Wir können die hinterfragende Geisteshaltung der Selbst-Erkenntnis auf jede Situation anwenden, zu jeder Zeit. Selbst-Erkenntnis ist eine Geisteshaltung, eine Methode und eine Praxis. Auf den Punkt gebracht: Sie ist ein Weg, die Praxis für uns persönlich lebendig werden zu lassen.
Unser wahres Gesicht
Wenn wir unsere üblichen Geisteshaltungen und Gewohnheitsmuster ganz ohne Maske oder Werturteil betrachten, blicken wir durch sie hindurch – und sehen, wer wir wirklich sind. Jenseits des „Ichs“ und seiner Wünsche und Abneigungen, jenseits des Selbst, das ständig kämpft und an der Welt zerrt, liegt unser echtes Wesen und wahres Antlitz.
Dies ist das Angesicht unseres natürlichen Zustandes – frei von dem Streben, etwas zu werden, was wir nicht sind. Es ist das Antlitz eines potentiell erleuchteten Wesens, dessen Weisheit, Qualitäten, und Mut keine Grenzen kennen. Indem wir unser tieferes Potenzial und alles was uns behindert, erkennen, beginnen wir die Ursachen für unser Leid zu verstehen – und wir können beginnen etwas daran zu ändern.
Wenn wir Selbst-Erkenntnis praktizieren, nehmen wir unsere Befreiung in die eigene Hand. Dieser kompromisslose Pfad verlangt echten Mut und Furchtlosigkeit. Wenn wir den gewohnten Rahmen unseres Ichs sprengen, führt uns dies direkt zu der Wahrheit unserer Buddha-Natur, unseres wahren Antlitzes, und damit zur Freiheit von Leid.
Der Spuk unseres Ego-Geistes
Das Festhalten an der üblichen Vorstellung vom Ich oder Ego ist die Quelle all unseres Leides und unserer Verwirrung. Die Ironie liegt darin, dass wir dieses „Ich“ zwar hegen und pflegen, es aber gar nicht finden, wenn wir danach suchen! Das Ich ist schlau, verschlagen und nicht zu fassen. Wenn ich sage „Ich bin alt“, beziehe ich mich auf meinen Körper als „Ich“. Wenn ich von „meinem Körper“ spreche, mache ich das Ich zum Inhaber meines Körpers. Wenn ich sage „Ich bin müde“, setze ich das Ich mit körperlichen oder seelischen Empfindungen gleich. Das Ich wird zu meiner Wahrnehmung, wenn ich sage „Ich sehe“, und zu meinen Gedanken, wenn ich sage „Ich denke“. Wenn wir das Ich weder innerhalb noch außerhalb dieser Aspekte finden können, schließen wir daraus vielleicht, dass das Ich dasjenige ist, was sich all dieser Dinge bewusst ist – also das Bewusstsein oder der Geist.
Wenn wir aber nach diesem Geist suchen, dann sind wir nicht in der Lage, eine Gestalt ausfindig zu machen, eine Farbe oder eine Form. Wir könnten ihn als „Ego-Geist“ bezeichnen. Dieser Geist, den wir mit dem Selbst gleichsetzen, steuert all unsere Handlungen, aber wir können ihn nicht wirklich ausfindig machen: Es ist geradezu gespenstisch, als herrschte in unserem Zuhause ein Gespenst. Das Haus sieht leer aus, aber die ganze Hausarbeit ist getan. Das Bett ist gemacht, der Tee eingeschenkt, und das Frühstück ist angerichtet.
Das Merkwürdige ist, dass wir nie in Frage stellen, ob ein Hausbewohner da ist. Wir gehen einfach davon aus, dass jemand oder etwas da ist. Aber die ganze Zeit über wurde unser Leben von einem Gespenst gelenkt, und jetzt ist es an der Zeit, dem Spuk ein Ende zu setzen. Unser Ego-Geist hat uns zwar gedient – aber nicht wirklich genutzt. Er hat uns in den Leidensbereich von Samsara gelockt und uns versklavt. Wenn der Ego-Geist sagt: „Ärgere dich!“, dann werden wir wütend. Wenn er sagt: „Klammere dich fest!“, dann leben wir unsere Anhaftungen aus. Wenn wir das Kleingedruckte in dem Sklavenvertrag lesen, den wir mit dem Ego-Geist geschlossen haben, dann erkennen wir, wie er uns unter Druck setzt, uns austrickst und zu Unternehmungen mit unerwünschten Folgen verleitet.
Wenn wir aufhören wollen, der Sklave dieses Gespenstes zu sein, müssen wir vom Ego-Geist verlangen, sein Gesicht zu zeigen. Kein echter Geist wird sich zeigen, wenn er das hört! Wir können diese einfache Meditation den ganzen Tag über praktizieren. Immer, wenn wir nicht recht wissen, was wir mit uns anfangen sollen, verlangen wir von unserem Ego-Geist, sein Gesicht zu zeigen. Während wir unser Abendessen kochen oder auf den Bus warten, fordern wir den Ego-Geist heraus, sein Gesicht zu zeigen.
Macht das vor allem, wenn der Ego-Geist euch zu überwältigen droht, wenn ihr euch von ihm bedroht, eingeschüchtert, oder versklavt fühlt. Nehmt eine aufrechte Haltung ein und fordert den Ego-Geist heraus. Zeigt Rückgrat, schwankt nicht und lasst euch nicht reinlegen. Wenn ihr den Ego-Geist herausfordert, seid standhaft, und dabei sanft, eindringlich, aber nie aggressiv. Sagt einfach zum Ego-Geist: „Zeig mir dein Gesicht!“ Wenn sich kein Geist zeigt, der sagt: „Hier bin ich!“, dann wird der Ego-Geist langsam seine Kontrolle über euch verlieren und ihr müsst weniger kämpfen. Seht selbst, ob das stimmt.
Es kann natürlich sein, dass euer Geist ein Gesicht hat und ihr eine andere Erfahrung macht. Aber wenn ihr keinen Geist mit einem Gesicht zu sehen bekommt, dann werdet ihr euer Ringen nicht mehr so ernst nehmen, und all eure Qualen und Probleme werden weniger.
Wenn wir den Ego-Geist direkt hinterfragen, wird er entblößt: Da gibt es dann nichts mehr von dem, für das wir ihn gehalten haben! Wir können tatsächlich durch diesen scheinbar so massiven Ego-Geist oder das Selbst hindurchblicken. Aber was bleibt uns dann? Uns bleibt ein offenes, kluges Bewusstsein, ungetrübt von einem Selbst, das es zu hegen oder beschützen gilt. Dies ist der ursprüngliche Weisheitsgeist aller Wesen. In dieser Entdeckung zu ruhen, ist wahre Meditation – und wahre Meditation führt uns zu endgültiger Erkenntnis und zu Freiheit von Leid.
Die Lebenseinstellung eines Praktizierenden
Es ist ausgesprochen wichtig, tatsächlich nach dem Ego-Geist zu suchen. Nur so finden wir heraus, dass er nicht zu finden ist. Und wenn wir keinen Ego-Geist finden können, können wir auch kein Selbst ausfindig machen – warum also nehmen wir dann all unsere Gedanken, Gefühle und Erfahrungen so persönlich?
Ich erinnere mich an meine erste Erfahrung von Selbstlosigkeit. Ich erlebte ein starkes Freiheitsgefühl und eine tiefe Wertschätzung dafür, wie vollkommen die Dinge im Grunde sind, wenn ich meine Selbstsucht nicht dazwischen funken und alles durcheinander bringen lasse. Ich fühlte mich erleichtert, als ich mir darüber klar wurde, wie sinnlos all meine Anstrengungen sind, ein Selbst aufrechtzuerhalten.
Die meisten Leute mögen die Natur. Wir verbinden die natürliche Welt mit Schönheit, mit dem Reinen und Unberührten. Es irritiert uns, wenn jemand Bäume fällt oder in der Wildnis herumackert. Die Schönheit unserer eigenen inneren Natur können wir erkennen, wenn wir aufhören, all das, was uns auf unserem Weg begegnet, nur um der Selbstbestätigung willen zu manipulieren. So geht ein Praktizierender das Leben an.
Denk einmal darüber nach: Wie können wir Selbst-Erkenntnis praktizieren, solange wir uns an ein Ich klammern? Wir nehmen alles persönlich: meinen Schmerz, meine Wut, meine Unzulänglichkeiten. Wenn wir Gedanken und Gefühle persönlich nehmen, quälen sie uns. Gedanken und Gefühle auf diese Weise zu betrachten, ist, als würden wir unsere Nase in einen stinkenden Haufen stecken – wozu soll das gut sein? Es schafft nur mehr Leid. Das ist nicht die Sichtweise, von der wir hier sprechen. Mit der Sicht der Selbstlosigkeit können wir alles, was in unserem Bewusstsein auftaucht, genießen. Wir können akzeptieren, dass alles, was entsteht, Ergebnis unserer vergangenen Handlungen ist, unseres Karma, aber wir setzen es nicht mit dem gleich, wer wir sind.
Gedanken und Gefühle nutzen
Gedanken und Gefühle werden immer entstehen. Das Ziel der Praxis ist nicht sie loszuwerden. Wir können den Gedanken und Gefühlen genauso wenig ein Ende setzen wie den Situationen in der Welt, die sich scheinbar gegen uns oder zu unseren Gunsten entwickeln. Wir können uns aber dafür entscheiden, sie willkommen zu heißen und lernen, mit ihnen umzugehen. In gewisser Hinsicht sind sie nichts als Empfindungen. Wenn wir sie nicht verfestigen, sie nicht beurteilen als gut oder schlecht, richtig oder falsch, günstig oder ungünstig, dann können wir sie nutzen, um auf dem Pfad voranzukommen.
Wir machen uns Gedanken und Gefühle zunutze, indem wir beobachten, wie sie entstehen und vergehen. Auf diese Weise sehen wir, wie unwirklich sie sind. Wenn wir in der Lage sind, sie zu durchschauen, erkennen wir, dass sie uns nicht wirklich binden, uns nicht wirklich auf die falsche Fährte führen oder unseren Realitätssinn verzerren können. Und wir erwarten nicht länger, dass sie aufhören. Gerade die Erwartung, dass Gedanken und Gefühle versiegen sollten, ist irrig. Von dieser falschen Auffassung von Meditation können wir uns frei machen.
In den Sutras wird gesagt: „Wozu soll Mist gut sein, wenn nicht dazu, Zuckerrohr zu düngen?“ Genauso können wir sagen: „Wozu sind Gedanken und Gefühle – oder tatsächlich all unsere Erfahrungen – gut, wenn nicht dazu, unsere Einsicht zu fördern?“