Clarissa - Der Auftrag (Band 1)

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Kapitel 8

Fluchend schlug ich meinen Wecker aus. Ich hatte absolut keinen Bock aufzustehen.

Ich hatte furchtbar geträumt, schlecht geschlafen und wenn ich an die Strafarbeit dachte, kam mir der Bananensaft gleich wieder hoch.

Wieso musste mir gestern auch ausgerechnet Jessica im Weg stehen? Hätte es nicht wenigstens jemand sein können, der nicht ganz so erbarmungslos war, wie sie?

Genervt stand ich auf, duschte und zog mich an.

Wenigstens hatte ich keine roten Flecken mehr. Das hätte mir gerade noch so gefehlt. Mein müdes Gesicht mit den dunklen Ringen reichte schon.

Danach trottete ich so unmotiviert wie immer, in die Cafeteria und nahm mir ein belegtes Eierbrötchen mit zum Platz. Völlig übermüdet ließ mich auf den Stuhl neben Isabelle fallen. Josh und Laura saßen mir gegenüber und sahen mich so an, als hätte sich gerade eine Vogelscheuche vor ihnen platziert. Das konnte ich ihnen bei meinem heutigen Aussehen nicht übel nehmen.

»Da hat wohl jemand eine harte Nacht hinter sich«, bemerkte Josh, der mich über seine Tasse hinweg beobachtete.

Nickend gähnte ich.

Sofort hielt sich auch Laura die Hand vor den Mund und gähnte ebenfalls. »Sobald ich irgendjemanden gähnen sehe, muss ich mitgähnen«, erklärte sie uns.

»Kenn ich.« Josh lachte und machte es ihr prompt nach.

Gespannt guckten wir nun alle Isabelle an.

»Ich kann das Gähnen ganz gut unterdrücken.« Sie grinste und dann begannen wir alle zu lachen.

Doch unvermittelt blieb mir mein Lachen quasi im Hals stecken, denn plötzlich stand Jessica vor uns.

Sie stützte sich mit beiden Armen auf unserem Tisch ab und schaute böse in die Runde, bis ihr Blick schließlich an mir haften blieb.

»Wenn Blicke töten könnten, wäre Jessica deine Mörderin, Lissa«, bemerkte Josh und seine schneeweißen Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht auf.

Isabelle warf ihm einen warnenden Blick zu. Jetzt war nicht der passende Zeitpunkt für Späße.

Entschuldigend hob er die Hände. »Bin ja schon ruhig.«

»Du miese kleine Zicke! Glaubst du ernsthaft, du wärst was Besseres?«, fuhr mich Jessica an.

»Das denken wir alle«, murmelte Josh, während er sich gleichzeitig räusperte und dann einen Hustenanfall vortäuschte.

Auch wenn es niemand von uns wollte, mussten wir kichern.

»Pass auf was du sagst!«, brüllte Jessica jetzt Josh an.

»Oh nein, jetzt pass du mal auf, Jessica.«

Das war spannender als jeder Harry Potter Film. Ich wusste, dass es eigentlich mein Streit war, aber leider war ich nicht so mutig wie Laura, die aufgestanden war und sich jetzt mit Jessica anlegte.

»Du bist eine arrogante, verwöhnte und unbeliebte Ziege. Jetzt halt endlich dein Maul und geh zurück in den Zoo«, zischte meine Freundin sie an.

»Du nimmst sofort zurück, was du gerade gesagt hast!«, verlangte Jessica von Laura und funkelte meine Freundin zornig an.

Die grinste daraufhin nur provozierend und stemmte die Hände in die Hüften. »Sonst was?«

»Sonst klatscht es hier gleich, aber glaub mir, Süße, keinen Beifall.«

Während Isabelle und ich nur nervös an unseren Fingernägeln kauen konnten, fand Josh den Mut, sich zwischen die beiden zu stellen.

»Jo, Mädels. Bleibt mal locker! Das ist ja Kindergartenniveau.«

Ich schaute mich um und bemerkte, dass uns immer mehr Schüler anstarrten. Mir wurde plötzlich heiß und ich fing an zu schwitzen, denn auch Codys Augen waren auf uns gerichtet.

»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Clarissa Sommer.«

Jessicas böser Blick fokussierte meinen ängstlichen, bevor sie sich abwandte und hinter der Essenstheke verschwand.

Wir schauten ihr stumm hinterher, bis gleich darauf die Schulglocke läutete. Wortlos standen wir auf und verließen die Cafeteria ebenfalls.

Josh und Isabelle mussten in die entgegengesetzte Richtung, aber ich war froh, dass ich mit Laura zusammen das Klassenzimmer betreten konnte.

Zu meiner Erleichterung würdigte mich Jessica jedoch keines Blickes.

»Ich hab riesen Hunger. Wenn ich wollte, könnte ich jetzt einen ganzen Zoo verschlingen«, scherzte Laura, als wir nach dem Unterricht erneut Richtung Cafeteria spazierten.

»Tja, damit musst du dich wohl noch ein bisschen gedulden. Heute gibt es nämlich Gnocchi-Auflauf mit Tomatensauce.«

Sie nickte und nahm sich ein Tablett. »Damit kann ich leben.«

»Haben wir heute nicht auch Theater-AG?«, erkundigte ich mich, während ich mir eine große Kelle Auflauf auf den Teller häufte.

»Ja«, antwortete sie voller Begeisterung und tat sich das Doppelte auf.

Wir setzten uns wieder an den gewohnten Platz.

»Aber ich muss doch heute Strafarbeit ableisten«, nahm ich unser Gespräch wieder auf. Ich holte den zerknüllten Zettel aus meiner Tasche, den Isabelle mir gestern überreicht hatte. »Um sechzehn Uhr im Hinterhof«, las ich laut vor.

»Der Theaterunterricht ist von vierzehn Uhr bis fünfzehndreißig.« Laura schob sich einen großen Löffel Auflauf in den Mund und kaute genüsslich darauf rum. »Also passt es, du hast sogar noch Zeit, dir andere Klamotten anzuziehen, die besser fürs Gärtnern geeignet sind.« Sie deutete auf meine weiße Bluse.

»Und übrigens, ich habe schon einen DJ gefunden«, wechselte sie grinsend das Thema.

»Wofür einen DJ?«

»Für die Party natürlich.«

Mein Herz flog Saltos. Das hatte ich ja vollkommen vergessen.

»Ich weiß nur noch nicht so genau die Uhrzeit.« Laura stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch.

»Wenn das dein einziges Problem ist …« Ich zuckte die Schultern. Es war ja wirklich lieb von ihr, mir so sehr mit Cody helfen zu wollen, aber am Sichersten würde ich mich doch fühlen, wenn ich das allein machen würde.

Die ganze nächste halbe Stunde, berichtete mir Laura von ihren großen Plänen, denen ich immer nur mit einem Nicken zustimmte oder einsilbige Kommentare beisteuerte.

Nachdem wir aufgegessen hatten, machten wir uns auf den Weg zur Aula. Nebenbei bewunderte ich wieder einmal die Gestaltung des Schulgebäudes. Die Läresson ähnelte wirklich einer Burg oder einem Schloss.

»Wir sind da.« Laura zeigte auf eine große Tür, die man nicht übersehen konnte.

Davor, in dem breiten Flur, hatten sich die anderen schon versammelt.

»Welcher Lehrer leitet den Kurs eigentlich?«, erkundigte ich mich, während wir unsere Taschen zu den anderen stellten.

»Leider Frau Lamin«, stöhnte meine Freundin.

»Super.« Ich verdrehte die Augen. Der Theaterunterricht hätte wirklich schön werden können.

Wir hüpften mit unseren Hintern auf die Fensterbank und ich ließ den Blick über die anwesenden Schüler schweifen. Wirklich viel los war hier, im Gegensatz zu meiner alten Klasse, nicht. Die Schüler der Läresson waren viel ruhiger und vor allem reifer. Anstatt sich gegenseitig zu schubsen oder Beleidigungen zuzurufen, steckten sie ihre Nasen in Bücher oder spielten an ihren Handys. Ich bemerkte Cody, der wieder abseits von den anderen an dem anderen Fenster stand. Er schaute gelangweilt raus und beobachtete irgendetwas.

Irgendwann musste ich ihn mal ansprechen. Ich hatte nur solche Angst, etwas dabei falsch zu machen. Schließlich hing das Leben meines Vaters davon ab, ob er mich mochte oder nicht.

Ich wurde aus meinen düsteren Überlegungen gerissen, als Laura mich mit dem Ellenbogen anstieß. Frau Lamin kam gerade um die Ecke. Ohne etwas zu sagen, schloss sie die Tür auf. Nicht einmal ein einfaches Hallo brachte sie über sich. Allerdings sagten auch die Schüler nichts. Ehrlich gesagt, freute es mich sogar, dass die Verbündete des Entführers so unbeliebt in der Schule war.

»Nehmt euch einen Stuhl und bildet eine Reihe«, rief sie durch den Raum, während sie die Fenster zum Lüften öffnete.

Beim Betreten der Aula war mir gleich der Geruch von altem Holz in die Nase gestiegen. Es roch nicht unbedingt gut, aber auch nicht sonderlich schlecht.

Während alle sich Stühle griffen, wurde mein Blick auf die riesengroße Theaterbühne gelenkt, die mit den leuchtend roten Seidenvorhängen gleich doppelt so professionell wirkte.

Ich nahm mir ebenfalls einen Stuhl und setzte mich neben Laura. In der Aula waren so viele Fenster, dass man der Sonne und ihrer Blendung nicht wirklich ausweichen konnte. Dafür strahlte sie jedoch eine angenehme Wärme aus, die sich auf meinen nackten Armen prächtig anfühlte.

»So.« Frau Lamin klatschte in die Hände. »Wir fangen heute ein neues Theaterstück an.« Sie nahm sich ebenfalls einen Stuhl und stellte ihn so hin, dass sie uns alle ansehen konnte, nachdem sie Platz genommen hatte.

»Aber wir waren mit Sterntaler doch noch gar nicht fertig«, beschwerte sich Rachel.

»Ja, da hast du recht, aber mir ist eine ganz neue Idee gekommen. Ihr kennt bestimmt alle Romeo und Julia.« Frau Lamin fuchtelte dabei mit ihren Händen in der Luft herum, als wäre das Stück eine Sensation.

Die ganze Klasse verfiel in ein lautes Gemurmel, das nicht gerade erfreut klang.

Auch Laura plapperte mich zu. »Och nö, nicht so eine Liebesschnulze. Da hab ich null Bock drauf.«

Wirklich Lust hatte ich auch nicht. Das Stück hatten wir schon in der alten Schule aufgeführt und es war verdammt schwer gewesen, diesen Balkon zu basteln, auf dem Julia stand.

»Können wir das Stück nicht wenigstens umschreiben?«, fragte jemand.

»Oder zumindest rappen?«, schlug Jens vor.

Ein paar seiner Freunde klatschten Beifall, womit sie der Idee zustimmten.

Ich blickte zu Cody.

 

Reaktionslosigkeit total. Weder seine Körperhaltung noch sein Gesichtsausdruck verrieten, was in ihm vor ging, nur wieder der leere Blick zum Fenster.

»Nein, es gibt keine Diskussionen mehr. Es wird die klassische Variante von Romeo und Julia und jetzt Ruhe«, befahl die Direktorin nach einer Ewigkeit schließlich unfreundlich.

Sofort war die Klasse mucksmäuschenstill. So still, dass man eine Stecknadel hätte hören können.

Frau Lamin räusperte sich und blickte dann streng in die Reihen der Schüler, bevor sie weiterredete. »Ich habe auch bereits ausgelost, wer welche Rolle bekommt.

»Natürlich spiele ich die Julia«, hörte ich Jessica zu Juliet sagen, die kicherte.

Frau Lamin räusperte sich erneut, hielt sich den Finger vor den Mund und forderte so Jessica auf, ruhig zu sein. Dann sagte sie: »Ich hänge den Zettel morgen früh im Forum ans schwarze Brett, damit ihr alle sehen könnt, welche Rolle euch das Schicksal zugeteilt hat. Am kommenden Donnerstag gibt es keinen Unterricht, aber ihr solltet die Zeit bis in vierzehn Tagen nutzen und schon mal euren Text lernen.«

»Wieso sagen Sie uns nicht einfach jetzt unsere Rollen?«, fragte Laura verwundert.

»Weil es so heute nur noch mehr Unruhe geben würde«, sagte sie und sah Jessica scharf an.

Erneut kam Gemurmel auf. Einige versuchten Frau Lamin umzustimmen, ihnen gleich zu verraten, wer wen spielen würde. Doch sie blieb hart. Es wurden noch einige organisatorische Dinge besprochen, dann erklärte die Direktorin die Unterrichtseinheit für beendet.

Kapitel 9

Ein letzter Blick in den Spiegel genügte, um mir sicher zu sein, dass das Outfit perfekt fürs Gärtnern geeignet war. Eine graue Hose mit zwei Löchern, eine schwarze, etwas ältere Strickjacke und dazu abgenutzte Sneakers. Zwar nicht gerade schön, aber dafür bequem und es wäre nicht schlimm, wenn die Sachen schmutzig wurden oder kaputtgingen.

Ich hielt den Stiel der Haarbürste mit den Lippen fest und band mir meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ich legte die Bürste auf den Waschbeckenrand und ging ins Zimmer. Die Uhr über dem Schreibtisch zeigte zehn vor vier. Noch zehn Minuten. Gut, dass die Theater-AG heute früher geendet hatte, sonst hätte ich es wohl kaum geschafft, mich umzuziehen.

Ich öffnete die Zimmertür und zischte die Stufen hinunter. Mitten auf der Treppe wurden meine Schritte langsamer, doch nicht, weil da so ein Gedränge herrschte durch das ich nicht hindurch konnte, sondern weil ich erst mal überlegen musste, wo noch mal der Hinterhof war. Das Einzige woran ich mich erinnern konnte, waren die wunderschönen Blumen und der große Wald, der leider durch einen unüberwindlichen Zaun abgegrenzt wurde.

Nachdem ich das Ende der Treppe erreicht hatte, blieb ich stehen und lehnte mich gegen das Geländer. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun machen sollte. Hier war niemand weit und breit zu sehen, den ich nach dem Weg hätte fragen können. Nervös blickte ich auf eine Uhr, die gegenüber von mir an der Wand hing. Noch sieben Minuten! Ich hüpfte von der letzten Stufe und stieß gegen einen kleinen, kräftigen Mann, der wie ein grimmiger Gartenzwerg aussah und gerade um die Ecke gebogen war. Er guckte mich böse an.

»Oh, äh, tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen.«

Er musterte mich immer noch nicht viel freundlicher. »Bist du neu?«

Seine tiefe Stimme passte zu ihm.

»Ja«, piepste ich.

»Musst du bei Herrn Albert gärtnern?«

Wahrscheinlich hatte er das aufgrund meiner Klamotten erraten.

Ich nickte.

»Komm mit.«

Als wir draußen im Hinterhof waren, atmete ich den frischen Frühlingsduft der Blumen tief ein. Ein Glück, dass es nicht regnete. Die Sonne strahlte auf meine Haut, sie kribbelte angenehm. Es war ein tolles Gefühl.

Erst jetzt bemerkte ich, dass wir auf einen Schuppen zusteuerten, vor dem bereits einige Schüler warteten. Ich wurde langsamer, als ich Cody unter ihnen erkannte. Er lehnte lässig neben der Schuppentür.

Der Mann, der mich hergeführt hatte, holte eine Liste heraus und ratterte die Namen in alphabetischer Reihenfolge herunter, um zu gucken, dass auch alle da waren.

Erst jetzt kapierte ich, dass er Herr Albert war.

»Gut, alle da«, stellte er zufrieden fest und schloss die Tür des Schuppens auf, um jedem von uns eine Schaufel in die Hand zu drücken. »Ihr habt Glück. Heute habt ihr nicht allzu viel zu tun. Ihr müsst nur die verwelkten Blumen ausbuddeln und die neuen da einpflanzen.« Er zeigte auf die Blumenstauden, die im Schuppen aufgereiht standen. »Wenn ihr damit fertig seid, nehmt ihr euch eine der Gießkannen, die ich hier für euch hinstellen werde und wässert die Pflanzen anständig. Alles so weit klar, oder gibt es noch Fragen?«

Wir nickten alle.

Es mussten viel mehr Leute Strafarbeiten machen, als ich gedacht hatte. Am meisten interessierte mich aber, was wohl Cody ausgefressen hatte.

Ungeschickt hämmerte ich kurz darauf die Schaufel in eine Blume, die kaputt aussah und versuchte sie auszugraben. Das war gar nicht so einfach wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Erde war hart und deshalb sehr schwer umzugraben. Außerdem hatte ich so etwas noch nie gemacht. Natürlich ließ ich mir nicht anmerken, wie schwer es wirklich war und schaufelte mühsam weiter.

Nach einigen Minuten fing mein Rücken an zu schmerzen und ich musste mich strecken. Dabei fiel mein Blick auf Cody. Er war verdammt schnell, als wenn ihm die ganze Arbeit nichts ausmachen würde und die Erde weicher, leichter Sand wäre. Offenbar war er aber der Einzige, der damit keine Schwierigkeiten hatte. Die anderen hatten genauso Probleme mit dem Boden wie ich.

Wie erwartet, arbeitete Cody an einer Stelle weit von uns anderen entfernt. Mir fiel auf, dass er immer wieder auf seine Armbanduhr sah, so als hätte er noch einen Termin. Legte er sich deshalb so ins Zeug?

Meine Augen kleben förmlich an ihm, sodass ich meine Arbeit dabei völlig vergaß. Völlig weggetreten beobachtete ich ihn und seine beeindruckenden Armmuskeln, die sich bei jedem Schaufelgriff anspannten. Das sah echt sexy aus.

Davon so abgelenkt, bemerkte ich erst gar nicht, dass auch Cody mich ziemlich verwundert betrachtete. Als wir dann plötzlich Augenkontakt hatten, schaute ich hastig weg.

Mann, war das peinlich. Ich bückte mich hastig, damit er meine glühenden Wangen nicht sehen konnte, und riss mit den Fingern eine der verblühten Pflanzen aus der Erde. Ich war sogar zu blöd, einen Jungen zu beobachten, ohne dass er es mitbekam.

Die nächsten zehn Minuten konzentrierte ich mich deshalb einzig und allein auf meine Arbeit. Als ich mich wenig später dann wieder etwas sicherer fühlte, spähte ich erneut zu Cody rüber. Diesmal aber vorsichtiger!

Er war gerade mit dem Gießen seines Blumenbeets fertig geworden. Er ging zu Herrn Albert und gab seine Kanne ab.

»Gute Arbeit, Arrington«, lobte er Cody.

Dieser nickte bloß und entfernte sich Richtung Schulgebäude. Doch anstatt hinein zu gehen, schaute er sich unauffällig um und prüfte anscheinend, ob ihn jemand beobachtete. Dabei bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass er ganz besonders auf mich fokussiert war, was mir ziemlich unangenehm war. Ich tat so, als würde ich ganz normal an meinem Beet weiterarbeiten und gar nicht auf ihn achten. Nachdem er sich offenbar unbeobachtet fühlte, bog er um die Ecke, wo sich eigentlich nur noch der Zaun befand.

Er hatte irgendetwas vor. Etwas, was ich wissen musste. Allerdings war ich noch lang nicht fertig. Hilfe suchend schaute ich mich um. Neben mir stand Lina aus meiner Klasse.

Ohne groß drüber nachzudenken, sprang ich über meinen Schatten und sprach sie an. »Ähm Lina?«

Sie schaute mich freundlich fragend an. »Ja?«

Ich legte meine Hände an den Bauch und begann mein Schauspiel. »Mir geht es nicht so gut. Könntest du vielleicht den Rest für mich zu Ende machen?«

Sie schaute auf mein Beet und zuckte mit den Lippen, während sie überlegte. »Nur, wenn ich deine Mathehausaufgaben morgen abschreiben kann«, verlangte sie.

Ich stimmte innerlich fluchend zu. Laut murmelte ich nur: »Danke.«

Ich ging zu Herrn Albert und gab ihm die Schaufel zurück und erklärte ihm die Situation. Wirklich begeistert war er nicht, aber da ihm keine andere Wahl blieb, befreite er mich von der Gartenarbeit und ließ mich gehen. Dass ich keinen guten Eindruck hinterließ, war mir klar, aber in dem Moment relativ egal.

Als ich mir sicher war, dass sich niemand weiter um mich scherte, bog ich wie Cody um die Gebäudeecke. Er war nicht mehr da, aber als ich mich etwas genauer umsah entdeckte ich ein Loch im Zaun.

Da musste er durchgeschlüpft sein. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, wohin er verschwunden sein konnte. Da war ich mir sicher. Nur, was sollte so wichtig sein, dass er es so eilig hatte, in einen abgezäunten Wald zu kommen?

Ich erinnerte mich an den Eintrag über Cody in Zipp: Auffallend: Verlässt oft das Schulgelände. Und auch das Loch verriet, dass er wohl nicht das erste Mal diesen Weg genommen hatte.

Nachdem ich ebenfalls hindurchgeschlüpft war, sah ich zwischen den Bäumen etwas Rotes aufleuchten. Das musste sein T-Shirt sein. Bevor ich es genauer erkennen konnte, war er schon leider hinter den Bäumen verschwunden. Ich rannte hinterher. Und rannte und rannte. Doch nach einer Weile ging mir die Puste aus und ich musste stehen bleiben. Er war einfach zu schnell für mich.

Im Wald war es schön. Es war ganz still. Man konnte nur das Gezwitscher der Vögel hören.

Noch ziemlich außer Atem ging ich langsamer weiter. Ich überlegte kurz, einfach umzukehren. Doch dann würde ich nie erfahren was Cody vorhatte.

Und dummerweise merkte ich jetzt auch, dass ich den Weg zurück nicht mehr wusste.

Hilfe suchend drehte ich mich um mich selbst. Aus welcher Richtung war ich bloß gekommen? Meine Füße brannten und alles sah gleich aus. Mir war auf einmal so schwindelig, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Die Sonne schien direkt auf meinen Kopf, ich fing zu schwitzen und mein Mund wurde ganz trocken. Ich spürte noch, wie ich wegsackte, auf meine Knie fiel … und dann wurde es schwarz.

»Clarissa?«

Eine besorgte Stimme ließ mich langsam wieder zu mir kommen.

»Hörst du mich?«

Während ich blinzelte, nahm ich eine verschwommene Gestalt in Rot wahr, die vor mir kniete. Eine angenehme Wärme durchströmte mich plötzlich, als ich zwei Hände an meinen Wangen spürte.

»Geht es dir gut?«

Die Stimme und das Bild wurden immer klarer, bis ich schließlich Cody Arrington erkannte.

»Was ist passiert?«, murmelte ich mit heiserer Stimme und versuchte auf die Füße zu kommen.

Cody erhob sich und hielt mir seine Hand hin, die ich gern annahm, um mich von ihm hochziehen zu lassen.

»Du bist umgefallen. Wahrscheinlich zu viel Sonne.«

Ich glaubte, dass es eher noch Nachwirkungen von dem Bananensaft waren.

Als ich wieder auf den Füßen stand und das nur wenige Zentimeter von Cody entfernt, hoffte ich, dass er meinen schnellen Herzschlag in der Stille des Waldes nicht hören konnte.

»Die Frage ist eher, was machst du hier? Hast du mir nachspioniert?«

Der jetzt ärgerliche Unterton in seiner Stimme, trieb mir einen Kloß in den Hals.

»Warum sollte ich?«, versuchte ich es abzustreiten. Doch die Röte in meinem Gesicht verriet mich.

Er musterte mich prüfend. »Du darfst hier nicht sein«, meinte er schließlich nur, und klang gar nicht mehr so sauer.

Ich wollte gerade nach dem Grund fragen, als wir plötzlich Schritte hörten, die die Blätter auf dem Waldboden zum Knistern brachten.

»Wir müssen weg«, flüsterte Cody plötzlich fast panisch. Er nahm mich am Handgelenk und zerrte mich hinter sich her.

»Was, wieso?«, fragte ich verwirrt und blickte über meine Schulter in die Richtung, aus der die Schritte gekommen waren, konnte aber niemanden entdecken.

»Du darfst hier nicht gesehen werden.«

»Warum? Und wieso nur ich?« Vor allem war der Wald doch abgesperrt. Wer sollte sich hier außer uns also sonst noch rumtreiben?

»Stell nicht so viele Fragen und lauf einfach.«

Normalerweise wäre ich einfach stehen geblieben, weil ich mir ziemlich doof vorkam, von ihm so weggeschleppt zu werden und noch nicht einmal zu wissen, vor wem und warum wir wegliefen. Doch da ich immer an meinen Auftrag denken musste, schien es mir das Beste, keinen Stress mit Cody anzufangen. Also rannte ich ihm brav hinterher. Zumindest versuchte ich es. Er war so schnell, dass ich kaum mithalten konnte und war völlig außer Atem, das zweite Mal an diesem Tag, als er endlich stoppte.

 

Im Gegensatz zu mir, sah Cody noch total fit aus, während ich keuchte wie nach einem Marathonlauf und versuchte, nach Luft zu schnappen.

»Hier müssten wir sicher sein«, sagte er und betrachtete wachsam die Umgebung.

»Vor wem?«, fragte ich wieder. Allmählich kam ich mir echt lächerlich vor.

Ohne mir zu antworten, war er mit einem eleganten Satz auf einen Baum und setzte sich auf einen tief hängenden, dicken Ast. Er hatte das mit solch einer Leichtigkeit getan, als würde er das jeden Tag machen. Er hielt mir wieder seine Hand hin.

Ich griff danach und mit einem Schwung saß ich neben ihm.

»Vor wem verstecken wir uns denn nun?«, fragte ich noch einmal und erhoffte mir endlich eine Erklärung.

»Frag mich was Leichteres.«

»Warum ist der Wald eingezäunt?«

Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Du hast gesagt, ich soll dich was Leichteres fragen«, meinte ich schulterzuckend. Nervös lächelte ich ihn an. Das war gar nicht so einfach, sich darauf zu konzentrieren, nicht vom Baum zu fallen und gleichzeitig in Codys warme dunkle Augen zu schauen. Unsere Gesichter waren nicht mal einen Meter voneinander entfernt.

Während er gelassen, ohne sich festzuhalten, auf dem Ast saß, krallte ich mich mit aller Kraft fest, um nicht abzustürzen.

»Er wurde aufgrund vieler Todesfälle gesperrt. Deswegen nennt man ihn auch den verbotenen Wald und du solltest nicht hier sein.«

Sein Blick war vorwurfsvoll, weshalb ich versuchte, unschuldig zu schauen.

»Was für Todesfälle?«

»Gefährliche Tiere.« Er lachte kurz auf, aber es klang nicht wirklich fröhlich.

Ich hätte auch nicht gewusst, was daran lustig gewesen wäre.

»Warum hast du mir nachspioniert?« Seine Stimme war wieder ernst.

Ich kam ins Schwitzen und fing an zu stottern. »W-wie kommst du bloß darauf?« meinte ich mit einem gespielt empörten Unterton.

Er schüttelte den Kopf, als würde er mir kein Wort glauben.

Doch dann grinste er plötzlich zu meiner Überraschung, denn es wirkte ehrlich amüsiert.

»Steht dir«, bemerkte ich. »Solltest du öfter tun.«

»Was?« Er sah mich überrascht an.

»Lächeln.« Das war glaubte ich nicht die beste Art zum Flirten. Vor allem, weil ich nach meinen Worten so rot wie ein Stoppschild wurde.

»Und wenn es nichts zum Lachen gibt?« Er sprang vom Ast herunter, woraufhin ich fast nach hinten gekippt wäre. In letzter Sekunde konnte ich mich noch am Stamm festkrallen.

»Das klingt ganz schön depressiv.«

»Das sollte es nicht.« Er schaute sich um. »Wir sollten so langsam mal wieder zurück.«

Ich wollte es ihm nachmachen und genauso elegant vom Baum springen, aber als ich zum Sprung ansetzte, verlor ich das Gleichgewicht und flog rückwärts herunter.

Doch anstatt auf dem Boden aufzuschlagen, lag ich in Codys Armen. Er hatte mich aufgefangen. Aber wie hatte er nur so schnell reagieren können?

Doch eigentlich war mir das egal, so lange er mich nur festhielt. Es war schwierig zu denken, weil ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. Unsere Gesichter waren sich ganz nah …

»Sag mir erst, was du hier gemacht hast, dann gehe ich mit dir zurück«, flüsterte ich atemlos.

»Wow, nicht mal ein Dankeschön?«, meinte er gespielt enttäuscht und setzte mich auf dem Boden ab.

»Danke«, murmelte ich schnell. Ich hatte mich so in seinen Augen verloren, dass ich das komplett vergessen hatte.

»Keine Ursache.«

»Und was hast du hier jetzt gemacht?«

»Willst du 'ne Gegenfrage?«

Nein, wollte ich nicht. Also hielt ich den Mund. Ich starrte in den Wald, in der Hoffnung, meine Frage würde vielleicht doch noch beantwortet werden, vor wem wir geflohen waren.

»Kommst du?«, riss mich Cody aus meinen Gedanken und ich sah wieder zu ihm.

Verdammt, er sah so heiß aus!

Für diesen Gedanken hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. »Weißt du denn den Weg zurück?«

Er nickte.

»Woher?«

Cody atmete tief aus, woran ich schon erkannte, dass er genervt von mir war. »Das hat dich alles nicht zu interessieren.«

Oh doch. Das hatte es. Mehr als ihm bewusst und mir lieb war.

Auch sein Schritttempo war ziemlich krass. Ich musste fast schon joggen, um mit ihm mithalten zu können. »Tut mir leid«, stammelte ich. »Ich wollte dir nicht zu nahetreten.« Hoffentlich war er nicht sauer.

»Tust du aber.«

Der Rückweg zur Läresson verlief leider stumm. Ich hatte mir zwar Dinge überlegt, die ich hätte sagen können, die Worte dann aber doch nicht ausgesprochen. Schließlich hatte er mir gerade zu verstehen gegeben, dass ich mich aus seinem Leben raushalten sollte, da hatte er wahrscheinlich keine Lust auf eine Unterhaltung.

Wir krochen durch das Loch zurück in den Hinterhof. Während ich mir die Knie abklopfte, stieß Cody einen leisen Pfiff aus. Als ich aufsah, war mir der Grund klar. Herr Albert kam auf uns zu gestapft und mir rutschte das Herz fast in die Hose.

»Der sieht ja nicht so aus, als würde er sich freuen uns zu sehen«, meinte Cody leise an meinem Ohr. Unbewusst war ich näher an ihn herangerückt.

»Wo seid ihr gewesen?«, schrie uns der Hausmeister an.

»Ich gebe es zu«, sagte Cody, bevor ich den Mund aufmachen konnte. »Ich bin in den Wald gegangen. Clarissa hat es gesehen und ist mir gefolgt, um mich zurückzuholen. Tut uns wirklich leid.« Er sah den Mann entschuldigend an.

»Ihr wisst genau, dass der Wald gefährlich ist! Montagnachmittag, vier Uhr seid ihr beide gefälligst wieder hier und macht Gartenarbeit, verstanden?« Seine Stimme klang ziemlich wütend. Er wandte sich zu mir und musterte mich ärgerlich. »Das war kein besonders guter erster Eindruck, Clarissa Sommer. Ich dachte, dir wäre nicht gut? Ich behalte euch beide im Auge, verlasst euch drauf.« Mit diesen Worten verschwand er.

Ich wollte mich bei Cody bedanken, dass er mich in Schutz genommen hatte, aber als ich mich zu ihm umdrehen wollte, war auch er nicht mehr da.