Clarissa - Der Auftrag (Band 1)

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Kapitel 2

Schniefend stand ich vor unserem Haus und starrte auf meine Armbanduhr. Es war gerade mal kurz nach zehn.

Punkt elf verließ mein Vater immer erst das Haus und fuhr mit dem Fahrrad zu seiner Arbeit bei einem Schuster. Ein Auto konnten wir uns nicht mehr leisten, denn nach dem Tod meiner Mutter waren unsere finanziellen Mittel ziemlich geschrumpft. Das merkte man leider auch an unserem Haus, das mit jedem Jahr schäbiger wirkte. Geld für Reparaturen blieb uns nun mal nicht.

Davor hatte mein Vater in einem Reisebüro gearbeitet. Dort war ihm aber schon vor Längerem gekündigt worden. Mein Vater hatte behauptet, er hätte einige Fehler bei den Buchungen gemacht, als ich ihn nach dem Grund für die Kündigung gefragt hatte. Doch ich wusste, dass er mich anschwindelte. Da er, dank meiner verrückten Geschichte, auch nicht den besten Ruf im Dorf hatte, waren die Kunden lieber woanders hingegangen, um ihre Reisen zu buchen, als sich von dem Mann mit der irren Tochter beraten zu lassen. Dem Inhaber des Geschäfts war schließlich keine Wahl geblieben. Zum Glück hatte mein Vater dann die Stelle bei dem Schuster gefunden, wo er im Hinterzimmer die Schuhe reparierte und niemand ihn bemerkte. Wirklich Freude machte ihm seine Arbeit nicht, doch etwas anderes fand er nicht. Mein Vater litt unter dem Spott des Dorfes noch mehr als ich, und ich bewunderte ihn dafür, dass er mir trotzdem immer den glücklichen Vater vorspielte.

Leise schlich ich mich hinters Haus und setzte mich dort auf einen großen Stein. Mein Vater durfte auf keinen Fall wissen, dass ich die Schule schwänzte. Im schlimmsten und wahrscheinlichsten Fall würde er mich wieder dorthin zurückbringen. Das wollte ich um jeden Preis verhindern, da er sonst nämlich erfahren würde, dass ich gemobbt wurde. Dadurch würde er sich nur noch mehr Sorgen machen, und die konnte er nicht gebrauchen, denn davon hatte er selbst mehr als genug.

Ich öffnete meine halb zerfledderte Schultasche, die mehr als einmal durch den Klassenraum geflogen war, und holte ein Buch heraus. Ich hatte es mir aus der Stadtbibliothek ausgeliehen, auch wenn man diese Minibücherei eigentlich nicht wirklich als Stadtbibliothek bezeichnen konnte. Schließlich war Fahrendsberg nicht unbedingt eine Großstadt.

Beim Lesen verging die Zeit wie im Flug. Das Buch war so spannend, dass ich die restlichen Kapitel in weniger als einer Stunde verschlang. Als ich damit durch war, zeigte die Uhr viertel nach elf. Ich würde mir heute auf jeden Fall noch den zweiten Teil holen. Es war gar nicht unbedingt die Geschichte, die mich so fesselte, sondern mehr die Autorin, die die gleiche Einstellung wie ich, zum Thema Liebe hatte. Sonst mochte ich eine Träumerin sein, aber was die Liebe anging war ich ganz klar Realistin. Mit der Liebe, egal wie toll sie auch sein mochte, war es irgendwann sowieso wieder vorbei. Sie kam und ging. Und wenn sie ging, hatte man nur lästigen Liebeskummer, war depressiv und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Nein, danke. Darauf konnte ich verzichten. Ich wollte nie eine Beziehung, schließlich hatte ich schon genug Mist am Hals, mit dem ich mich herumschlagen musste. Da war Liebeskummer echt das Letzte, was ich gebrauchen konnte.

Ich kramte meinen Schlüssel zwischen den ganzen Schulbüchern hervor und schloss leise die Tür auf.

»Hallo?«, rief ich, um sicher zu gehen, dass mein Vater auch wirklich zur Arbeit gefahren war. »Jemand da?«

Nachdem ich keine Antwort erhielt, atmete ich erleichtert auf.

Ich nahm Weidenkuss erneut aus der Tasche und legte das Buch vorsichtig auf den Küchentisch. Den zweiten Teil würde ich mir dann später holen. Erst einmal musste ich etwas essen und dann hatte ich vor, an meinem Bild weiter zu malen.

Nach drei Stunden ließ ich erschöpft den Bleistift fallen. Vom ganzen Zeichnen und Radieren hatte ich Kopfschmerzen bekommen. Außerdem wollte ich ja noch in die Bibliothek, die heute auch nicht mehr allzu lange geöffnet hatte.

Ich holte mein Fahrrad aus dem Schuppen, von dem ich betete, dass es unterwegs nicht in seine Einzelteile zerfiel. Es war schon sehr alt und es fehlten eigentlich so gut wie alle Teile, die ein sicheres Fahrrad ausmachten, wie Klingel, Licht und eine gute Bremse. All diese Teile glänzten durch Abwesenheit.

Vorsichtig prüfte ich den wackeligen, zerfetzten Sattel. Es schien zu gehen, also trat ich in die Pedale und ächzend setzte sich der Drahtesel in Bewegung. So wie ich herumeierte sah das bestimmt alles andere als elegant aus, denn es war verdammt schwierig, geradeaus zu lenken, da die Wurzeln und Steine auf dem Waldweg, den Lenker hin und her schlingern ließen.

Als ich endlich den asphaltierten Weg erreichte, kam ich viel schneller voran und hatte den Lenker im Griff. Während ich kräftig in die Pedale trat, bemerkte ich, dass ich mal wieder joggen gehen sollte. Früher war ich jeden zweiten Tag laufen gewesen, doch seit einem halben Jahr fehlte mir einfach die Motivation dazu.

Völlig verschwitzt und ziemlich erschöpft, stellte ich mein Fahrrad in den Fahrradständer und betrat die Bibliothek. Ich liebte diesen Geruch von alten Büchern, der mir beim Eintreten in die Nase kroch. Zudem fand ich die Atmosphäre zwischen all den Büchern einfach angenehm. Nach meinem Zuhause war das hier mein Lieblingsort.

Zuerst setzte ich mich an einen der Computer, um zu schauen, in welchem Regal sich das Buch befand.

Als ich den Titel eintippen wollte, hörte ich plötzlich Stimmen hinter mir, die mir sehr bekannt vorkamen. Ich drehte ich mich um und entdeckte Tamara und Thomas, die ebenfalls vor einem der Computer saßen.

Auch das noch.

Wahrscheinlich machte Tamara mal wieder seine Hausaufgaben. Doch sie schienen mich glücklicherweise nicht zu bemerken, denn sie waren total damit beschäftigt über irgendetwas auf dem Bildschirm zu kichern.

Erleichtert drehte ich mich wieder nach vorn. Als mir der Ort für mein Wunschbuch angezeigt wurde, stand ich auf und schlenderte zu dem entsprechenden Bücherregal. Es dauerte nicht lang, bis ich es fand. Ich ging zurück zu meinem Platz. Als ich die geöffnete Seite am Computer schloss und das Hintergrundbild erschien, schrie ich auf und fuhr zurück.

Ein animierter zähnefletschender Wolf blickte mich aus seinen rot funkelnden Augen böse an und Wolfsgeheul ertönte aus dem Lautsprecher, das ziemlich nachgemacht klang. Trotzdem erschrak ich noch mehr, weil dieses Geheul einfach ohrenbetäubend war.

Die Bibliothekarin fixierte mich warnend, während ich hastig auf den Ausschaltknopf drückte.

Hinter mir hörte ich Gelächter. Mit bösem Blick drehte ich mich um und sah Thomas und Tamara, die sich vor Lachen nicht mehr halten konnten. Unter dem Tisch von ihnen erkannte ich, dass Thomas dieser Blödmann seine Handykamera auf mich gerichtet hatte.

»Wie witzig«, fauchte ich.

»Finden wir auch«, prustete Tamara.

»Ihr seid echt das Letzte.«

Aber meine Worte schienen die beiden gar nicht zu interessieren. Sie hörten mich vor Lachen wahrscheinlich nicht einmal.

Voller Wut nahm ich meine Tasche und das Buch und ging damit zum Schalter, gab das alte ab und lieh mir das neue aus. Frustriert stampfte ich aus der Bücherei, stieg auf mein Fahrrad und fuhr nach Hause.

Kapitel 3

Um meinen Ärger aus der Bücherei zu vergessen, setzte ich mich zu Hause ins Wohnzimmer an den Esstisch und zeichnete weiter an meinem Bild. Mit ruhiger Hand strich ich mit dem Bleistift von einem Punkt zum nächsten. Ich benutzte immer Punkte, die ich zuerst setzte, so konnte ich die Proportionen besser einschätzen. Beispielsweise war das beim Zeichnen der Augen praktisch.

Nach knapp zwei Stunden saß ich immer noch an dem Bild. Ich war gerade dabei, die Striche mit meiner Daumenkuppe zu verwischen. So wirkte das Bild gleich viel harmonischer und hatte mehr Tiefe.

Nachdem ich den letzten Bleistiftstrich vollendet hatte, streckte ich mich. Mein ganzer Rücken knackte und sogar mein Nacken machte Geräusche. Ich fühlte mich wie das Skelett von Dornröschen, das nach hundert Jahren auferstanden war. Skelett deswegen, weil ich mich so ausgehungert fühlte. Langsam trottete ich zum Kühlschrank und öffnete ihn, als plötzlich ein Briefumschlag herausfiel. Als ich mich nach dem Kuvert bückte, protestierte mein Rücken mit einem weiteren Knacken. Verblüfft richtete ich mich wieder auf. Für Clarissa, war da in einer ziemlich unordentlichen Handschrift draufgekrakelt. Im Umschlag ertastete ich eine Art Scheibe. Eine CD oder DVD?

Neugierig öffnete ich den seltsamen Brief. Ich hatte mich nicht geirrt. Als ich die glänzende Scheibe behutsam zwischen meinem Zeigefinger und Mittelfinger geklemmt, herauszog, fiel ein kleiner Zettel heraus. Ich bückte mich erneut und faltete ihn gespannt auseinander.

Sieh mich an. Allein!

Allmählich wurde es mir ein bisschen unheimlich. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache.

Wer legte denn eine DVD in unseren Kühlschrank?

Ich sah auf die Uhr. Zwanzig nach fünf. Eigentlich müsste mein Vater schon seit einer halben Stunde wieder da sein. Würde ich es noch schaffen, die DVD anzusehen, bevor er kam?

Mit der Scheibe in meinen aufgeregt zitternden Händen, lief ich ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Ich stellte den Player auf DVD und legte die Scheibe in das geöffnete Laufwerk. Danach drückte ich mit der Fernbedienung auf Play und es erschien ein kleiner Kreis in der Mitte, der sich drehte. Darunter stand Load. Auch wenn das Laden nur ein paar Sekunden dauerte, kam es mir wie eine halbe Ewigkeit vor.

Als der Kreis verschwand, war alles schwarz. Hätte ich nicht ein heftiges Schnaufen gehört, hätte ich geglaubt, der Fernseher hätte sich von selbst wieder ausgeschaltet.

 

»Was wollt ihr von mir?«, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme aus dem Lautsprecher.

Mir lief es eiskalt den Rücken runter und mein Herz blieb stehen. Die Stimme gehörte meinem Vater!

Erst jetzt, nachdem schon gefühlte Minuten vergangen waren, tauchte etwas auf dem Bildschirm auf. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen, in der Hoffnung besser sehen zu können und nach einigen weiteren Sekunden erkannte ich Gitterstäbe. Die Kamera schwenkte weiter nach rechts und man sah einen Stuhl, an dem ein kleiner, pummeliger Mann angekettet war. Leider war sein Gesicht komplett verschwommen. Ein kurzer Blitz flammte auf und das Bild wurde endlich scharf. Der Mann in Ketten war tatsächlich mein Vater. Er versuchte vergeblich sich zu befreien, in dem er mit dem Stuhl hin und her wippte. Dabei machten die Ketten ein unerträglich klirrendes Geräusch, das mir in den Ohren weh tat. Allerdings konnte ich nicht nach der Fernbedienung greifen, um den Ton leiser zu stellen, denn ich war vor Angst erstarrt.

Für einen kurzen Moment wurde der Fernseher wieder schwarz. Danach sah man einen Mann, der auf einem kleinen Hocker, in einem ebenfalls dunklen Raum saß und schelmisch in die Kamera grinste. Er trug einen schwarzen Umhang mit einer Kapuze, unter der ein wenig von seinem schwarzen Haar hervorlugte und seine giftgrünen Augen stachen auffällig aus seinem vampirbleichen Gesicht hervor.

Ich war mir nicht sicher, ob der Mann Kontaktlinsen trug und seine Augen deswegen im Kameralicht so strahlten oder ob er mit dem grellen Farbton geboren worden war. Aber eigentlich war es auch egal, denn jetzt begann der unheimliche Mann zu sprechen.

»Hallo Clarissa.«

Er sprach meinen Namen mit übertriebener Betonung aus. Sein fieses Grinsen behielt er dabei. Auch bei den nächsten Sätzen gingen seine Mundwinkel nicht ein Stückchen nach unten.

»Ich weiß, dass das alles für dich jetzt erst einmal sehr erschreckend sein mag, also will ich dich auch nicht auf die Folter spannen.«

Nein, natürlich nicht.

»Ich habe deinen Vater als Geisel genommen.«

Ich zitterte am ganzen Körper. Tränen stiegen in mir auf, aber ich versuchte sie zurückzuhalten, denn sonst würde ich nicht hören können, was der Kerl als nächstes sagen würde.

»Aber du kannst dafür sorgen, dass er bald wieder zu dir zurückkehrt. Alles was du tun musst, ist einen gewissen Cody Arrington dazu zu bringen, sich in dich zu verlieben. Du musst sein Vertrauen gewinnen, und wenn du das geschafft hast, lockst du ihn zu mir und kriegst dafür deinen Vater. Fairer Tausch, nicht wahr?«

Nein, war es nicht! Außerdem machte mich sein widerliches Grinsen wahnsinnig.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Am liebsten hätte ich mit meiner geballten Faust in den Fernseher geschlagen. Doch die Wut verwandelte sich gleich im nächsten Moment in Verzweiflung und ein Schwächegefühl überkam mich. Wie konnte er das meinem Vater nur antun?

»Doch es gibt ein paar Bedingungen. Du musst morgen früh um Punkt sieben mit deinen gepackten Koffern vor der Eisdiele an der Donaustraße stehen, denn du wirst ab morgen auf das Läresson Internat gehen. Mit der Anmeldung ist bereits alles geklärt. Einzelheiten erfährst du morgen früh. Und du musst den Mund über das alles halten. Wenn du irgendjemanden dieses kleine Filmchen zeigst, davon erzählst oder gar zur Polizei gehst, schwöre ich dir, dass du deinen Vater nicht mehr lebend wiedersehen wirst. Nur damit das klar ist!« Bei dem Satz mit der Polizei, hatte er sein Grinsen gegen eine ernste Miene ausgetauscht.

Der Bildschirm wurde schwarz, bis noch einmal kurz mein Vater eingeblendet wurde. Er blutete. Das Blut lief ihm von seiner Schläfe aus über die ganze rechte Wange, bis zum Hals, wo die Spur dann in seinem dreckigen T-Shirt endete.

»Noch irgendwelche letzten Worte?«, erkundigte sich diesmal eine spöttisch klingende Frauenstimme.

»Lissa«, keuchte mein Vater völlig außer Atem, »mach dir um … um mich keine … Sorgen. Alarmiere die Polizei und …«

Hier brach der Film ab und auf dem Fernseher erschien wieder das Menü. Der Pfeil zeigte auf Enter. Ich warf die Fernbedienung, die ich immer noch in der Hand hielt, auf das andere Ende des Sofas und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

Es hatte sich so viel Wut und Verzweiflung in mir aufgestaut, die einfach nur raus wollten, doch mir fehlte die Kraft in den Beinen, um aufzustehen. Alles was ich jetzt noch konnte war heulen. Und das tat ich.

Ich wischte mir die letzten Tränen aus meinem Gesicht und atmete tief aus. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Insgeheim hoffte ich, dass aus irgendeiner Ecke doch noch ein Kamerateam rausspringen und reingelegt rufen würde. Doch das passierte nicht. Nach weiteren zwanzig Minuten, in denen ich vor mich hinstarrend auf dem Sofa hockte, gab ich es auf, auf Erlösung zu warten.

Mein Vater war irgendwo in den Händen von Entführern. Damit musste ich mich abfinden.

Nur, was sollte ich jetzt bloß machen?

Zur Polizei gehen, kam für mich gar nicht in Frage. Ich hatte ja gehört, was sonst passieren würde und das konnte ich auf keinen Fall riskieren. Mein Vater war nach dem Tod meiner Mutter der einzige Mensch auf der Welt, der immer für mich da war. Ich würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen!

Immer noch benommen, stand ich auf und wankte ins Badezimmer. Erschrocken betrachtete ich mein Spiegelbild. Meine Haare standen mir zu Berge und aus meiner Unterlippe tropfte etwas Blut, weil ich so doll drauf gebissen hatte. Außerdem waren meine Augen verquollen und mein Mascara völlig verschmiert. Ich sah aus, als hätte ich eine ganze Woche lang nicht geduscht und unter einer Brücke geschlafen … und so fühlte ich mich auch.

Mit zitternden Händen lehnte ich mich auf das Waschbecken und blickte in meine hellblauen Augen, die die Tränen wegblinzelten. »Was mache ich jetzt nur?«, jammerte ich meinem zerzausten Spiegelbild vor, als würde ich von ihm einen hilfreichen Ratschlag bekommen.

Doch natürlich kam keine Antwort. Ich ballte meine Faust zusammen, blickte ein letztes Mal in den Spiegel und schlug ins Glas. Der Spiegel zersplitterte. Die Scherben klirrten, während sie auf den kalten Fliesenboden sprangen und sich überall verteilten. Meine Hand pochte, als ich sie zurückzog. Das Blut tropfte auf den Boden und erst jetzt nahm ich den Schmerz wahr, der sich aber irgendwie auch befreiend anfühlte.

Ich wickelte mir ein Handtuch um meine Hand und schleppte mich in den Flur. Ich wollte nur noch ins Bett und weiter heulen, doch als den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, ließ mich das schrille Klingeln des Telefons zusammenfahren. Ein kalter Schauder lief mir den Rücken runter, das konnte nur der Entführer sein.

Auf wackelnden Beinen schlich ich zum Telefon und sah nervös auf das Display. Unbekannt. Mit zittrigen Händen nahm ich den Hörer ab.

»Guten Abend, spreche ich mit Herrn Sommer?«

Erleichtert atmete ich aus, als ich Frau Steinmeyers unfreundliche Stimme erkannte.

»Nee, hier ist Clarissa.«

»Hallo Clarissa, würdest du mir mal bitte deinen Vater geben?«

Nervös biss ich mir auf meine verletzte Lippe. »Äh, der … also … er ist gerade nicht da.«

»Wann kommt er denn wieder?«, fragte sie ungeduldig.

»Keine Ahnung«, sagte ich leise und war wieder den Tränen nah.

Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte auf diese Frage eine Antwort.

Frau Steinmeyer deutete meinen verzweifelten Tonfall offenbar anders, denn sie meinte: »Du brauchst keine Angst zu haben, Clarissa. Ich werde deinem Vater schon nichts Schlimmes erzählen. Hauptsächlich werde ich ihm von dem heutigen Vorfall berichten und ihn zu einem Gespräch in die Schule bitten, damit wir gemeinsam nach einer Lösung suchen können. Ich will dir ja nur helfen und …«

»Nein, danke. Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich komme nämlich sehr gut allein damit klar und jetzt hören Sie endlich auf so zu tun, als würde es sie interessieren wie es mir geht.«

Ich glaube sie war über meinen Wutausbruch genauso erstaunt wie ich. Es tat wirklich gut dieser Hexe mal die Meinung zu sagen, besonders, da ich sie die nächste Zeit eh nicht sehen musste.

»Also, Clarissa, ich bitte dich, komm zu dir und denk lieber nach, bevor du so einen Ton mir gegenüber …«

Ich legte auf.

Vor lauter Adrenalin senkte und hob sich mein Brustkorb heftig. So auszuflippen war eigentlich nicht meine Art. Wut und Trauer konnten einen ganz schön verändern.

Kapitel 4

Ich hatte eine noch grauenvollere Nacht hinter mir, als all die anderen, in denen mich mein Albtraum verfolgt hatte. Am nächsten Morgen hatte ich sogar noch weniger Lust und Energie, um aufzustehen als sonst, und das hieß schon was.

Was sich aber nicht geändert hatte war, dass mich das Weckergepiepse wahnsinnig machte. Genervt schlug ich mit meiner Hand nach der Uhr, um sie auszustellen. Doch anstatt sie zu treffen, warf ich nur ein paar Zeitschriften runter, die sich all die Monate auf meinem Nachttisch angesammelt hatten.

Ich zwang mich aufzustehen, hob die Magazine auf und stellte dann den verdammten Wecker aus.

Danach schleppte ich mich zu meinem Schrank.

Nachdem ich mich ganz in schwarz gekleidet hatte, ging ich ins Badezimmer. Ich wickelte das Handtuch von meiner Hand ab und schmiss es in die Wanne. Meine Hand schmerzte und war voller Kratzer, aber es war mir egal. Die seelischen Schmerzen waren schlimmer.

Müde putzte ich mir die Zähne. Danach nahm ich mir einen feuchten Waschlappen und schrubbte wild in meinem Gesicht herum, bis die verschmierte Wimperntusche von gestern ab war und schminkte mich neu, um die Tränenspuren zu verstecken.

Kurz nach sechs fiel mir ein, dass ich meinen Koffer ja noch gar nicht gepackt hatte. Ohne groß zu überlegen, warf ich einfach den Großteil meines Kleiderschranks und ein paar Pflegeprodukte aus dem Badezimmer, Bücher, meinen Zeichenblock und ein paar Erinnerungsstücke in einen Koffer und meinen großen Rucksack rein. Noch nie war ich so traurig und motivationslos beim Packen gewesen.

Als ich glaubte fertig zu sein, schleppte ich mein Gepäck nach unten und stellte alles an die Haustür. Bevor ich unser Haus verließ, ging ich noch ein letztes Mal durch jedes einzelne Zimmer. Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Ich wollte hier nicht weg.

Vielleicht war ich mit meinem alten Leben nicht wirklich zufrieden, aber das, was mich jetzt erwartete, hatte ich mir bestimmt nicht gewünscht.

Während ich von außen den Schlüssel in der Haustür umdrehte, konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten.

Doch egal, wie scheiße ich mich fühlte, mir blieb keine Wahl, ich musste meinen Vater retten.

Auf dem Weg zur Eisdiele kam mir der Gedanke, vielleicht doch die Polizei zu rufen, aber den schlug ich mir schnell wieder aus dem Kopf. Es war einfach zu riskant.

Und wieso hatte man sich ausgerechnet mich als Lockvogel ausgesucht? Wie sollte denn gerade ich, das so was von nicht selbstbewusste Mädchen, Vertrauen zu einem völlig fremden Jungen aufbauen und ihn dazu bringen, sich auch noch in mich zu verlieben? Was war dieser Cody überhaupt für ein Typ? Und was hatte dieser schräge Vampir mit ihm vor?

Es war wahrscheinlich besser, wenn ich sein Schicksal gar nicht erst kannte. Wahrscheinlich war dieser Cody sowieso wie der Rest aus meiner Klasse, gemein und rücksichtslos. Ich wollte ihn gar nicht richtig kennenlernen, ich musste nur so viel von ihm wissen, um meinen Auftrag zu erledigen, damit ich meinen Vater so schnell es ging, befreien konnte.

Je länger ich über diese ganze Geschichte nachdachte, umso merkwürdiger fand ich das alles. Wütend stieß ich mit der Fußspitze gegen einen Stein, der mitten im Weg lag. Er rollte in einen Gully. Als ich wieder aufblickte, stand ich direkt vor der Eisdiele. Es war kurz vor sieben. Meine Hände waren voller Schweiß, weshalb ich sie nervös an meiner Strickjacke abwischte.

Nach einigen endlos langen Minuten hielt ein schwarzer, großer Wagen vor mir.

Meine Hände wurden immer schwitziger und mein Herz pochte so schnell, dass es unmöglich war, meine Herzschläge zu zählen.

Der unheimliche Vampirmann aus dem Film stieg aus. Auch heute war sein Gesicht extrem bleich und er war ganz in schwarz gekleidet, aber statt des seltsamen Umhangs mit Kapuze, trug er einen dunklen Anzug und einen kurzen Mantel im gleichen Farbton. Er strich sich über seine schwarzen, ohnehin perfekt anliegenden Haare, die in der Morgensonne ölig glänzten, während er zu mir kam und die Beifahrertür des Wagens öffnete.

 

»Darf ich bitten?«, fragte er mit schleimig-freundlicher Stimme und grinste boshaft.

Du machst das für deinen Vater, redete ich mir ein und versuchte mich zu beruhigen. Trotzdem zögerte ich kurz, bevor ich einstieg.

Meinen Koffer und Rucksack verstaute der Fremde währenddessen im Kofferraum.

Die ersten paar Minuten der Fahrt verliefen stumm. Ich hatte dem fremden Mann nichts zu sagen und beobachtete stattdessen seine Füße, die in schwarzen, blankgeputzten Schuhen steckten und abwechselnd das Gas- und Bremspedal und die Kupplung bearbeiteten.

Irgendwann unterbrach er die Stille dann.

»Hast du gar keine Fragen an mich? Zum Beispiel, wer ich bin?«

Ich sah auf und begegnete kurz seinen amüsiert funkelnden grünen Augen, ehe er seinen Blick wieder auf die Straße richtete. Nein, er schien keine Kontaktlinsen zu tragen. Ich hatte keine Ränder entdecken können.

»Schon, aber Sie würden mir doch sowieso keine Antwort darauf geben, oder?«, antwortete ich ihm.

»Da hast du vollkommen recht!« Er lachte. »Kluges Mädchen.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte und verdrehte deshalb nur die Augen. Außerdem kam ich mir ziemlich dumm dabei vor, ihn zu siezen. Allerdings wollte ich ihn auch nicht duzen. Wir waren schließlich keine Freunde.

»Was haben Sie eigentlich mit diesem Cody vor, sobald ich ihn Ihnen ausliefere?« Es fiel mir schwer zu sprechen. Mein Hals war trocken, meine Stimme rau und bei dem Wort ausliefern machte ich in Gedanken Gänsefüßchen.

Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal was getrunken?

»Das lass mal meine Sorge sein«, antwortete der Fremde grinsend. »Halt dich an Frau Lamin und an das, was ich dir gesagt habe. Spiel Arrington einfach vor, dass du in ihn verliebt wärst und schaff ihn zu mir. Mehr hat dich nicht zu interessieren. Und damit du mich auf dem Laufenden halten kannst, kriegst du das hier.« Er kramte ein altes Tastenhandy aus seiner Jackentasche und drückte es mir in die Hand. »Da rufe ich dich an, um zu hören wie es läuft.«

Widerwillig nickte ich und schob das Handy in meine Jackentasche. »Und wer ist Frau Lamin?«

»Die Schulleiterin vom Läresson Internat. Wir kennen uns gut und sie wird ein Auge auf dich haben.«

Dadurch hatte er eine der Fragen beantwortet, die ich mir heimlich gestellt hatte. Wie hätte er auch sonst mitten im Schuljahr einen Schulwechsel für mich hingekriegt, wenn nicht eine Direktorin ihre Finger mit im Spiel hatte.

Ich ballte meine Fäuste, am liebsten wäre ich ihm an den Kragen gegangen.

Reiß dich zusammen, Lissa.

Um mich abzulenken, sah ich aus dem Fenster. Wir überquerten unzählige Landstraßen, ehe wir eine Gegend erreichten, die mir bekannt vorkam: Dwergte.

Im Sommer kamen mein Vater und ich hier ab und zu zum Baden an den See, der ganz in der Nähe war. Wir fuhren sogar am See vorbei und dann auf die Hauptstraße. Tausende Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. Erinnerungen an eine Zeit, in der ich noch so unbeschwert gelebt hatte.

Nach etwa einer Viertelstunde bog der Kerl von der Hauptstraße ab und wir fuhren eine Zeit lang über eine einsame Landstraße. Als wir dann das Ende der Straße erreicht hatten, hielt er vor einem großen grauen Gebäude an. Davor stand ein Schild mit der Aufschrift: Herzlich Willkommen im Läresson Internat.

Doch anstatt auf dem Parkplatz anzuhalten, fuhren wir weiter in einen Hinterhof. Dort wurden wir von einer Frau erwartet, die ich auf Mitte Vierzig schätzte.

Ohne sich um mich zu kümmern, stieg der Mann aus, holte meinen Koffer und den Rucksack aus dem Auto und trug alles zu der Frau. Nachdem er die Sachen abgestellt hatte, umarmte er sie und gab ihr einen Begrüßungskuss.

Das musste wohl die Schulleiterin sein, aber diese vertraute Begrüßung …

Auch wenn ich absolut kein Bock auf dieses Internat hatte, musste ich zugeben, dass es hier irgendwie gemütlich aussah. Überall im Hinterhof waren kleine Blumenbeete, die schön bunt und gepflegt aussahen. Der Hof wurde durch einen hohen Zaun begrenzt, auf dem sich ganz oben Stacheldraht befand. Dahinter lag ein Wald.

Weil ich mich neugierig umsah, bemerkte ich erst gar nicht, dass ich beobachtet wurde. Als der Mann mich zu sich und der Frau winkte, setzte mein Herz für einen Moment aus. Ich holte noch einmal tief Luft bevor ich ausstieg. Mit wackeligen Beinen, aber hocherhobenem Kopf, stolzierte ich zu ihnen.

Die Frau hielt mir die Hand hin und lächelte freundlich, obwohl es auf mich irgendwie unecht wirkte.

»Hallo Clarissa, willkommen an der Läresson. Mein Name ist Frau Lamin. Ich bin die Direktorin. Ich schätze mal, du hast schon von mir gehört?«

Ich nickte ihr stumm zu. Meine Hände behielt ich bei mir, anstatt sie ihr zu geben. Allerdings war ich höflich genug, ihr ins Gesicht zu blicken und seltsamerweise kam sie mir irgendwie vertraut vor. Ihre braungrünen Augen erinnerten mich an jemanden, ich wusste nur nicht an wen. Doch ihre grauen Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen, passten nicht zu ihrem jugendlichen Gesicht.

»Ich werde dir gleich dein Zimmer zeigen, wo du dein Gepäck abstellen kannst und dann kannst du auch schon sofort in den Unterricht.«

Ihre Stimme war nun bedeutend kühler, doch das war mir egal. Passte eh viel besser zu ihr. Außerdem war ich stolz darauf, ihr nicht meine Hand gegeben zu haben. So glaubten die beiden vielleicht, dass ich nicht so hilflos war, wie ich mich fühlte.

»Sehr gesprächig ist die Kleine ja nicht«, wandte sie sich wieder an dem Mann, der nur die Schultern zuckte.

Die Frau atmete einmal tief ein, setzte erneut ihr falsches Lächeln auf und drehte sich wieder zu mir.

»Kommst du Clarissa? Der Unterricht hat schon seit zehn Minuten begonnen.«

Ich kopierte ihr unechtes Lächeln. »Sicher.«

Der Mann ohne Namen gab dieser Lamin wieder einen Kuss auf die Wange.

»Beeil dich, sonst sieht dich noch jemand«, flüsterte sie ihm zu und schob ihn von sich weg.

Ich hatte es trotzdem gehört und fragte mich, was so schlimm daran wäre, wenn jemand mitbekam, dass er sich hier herumtrieb. War er hier etwa schon bekannt, oder sogar auf der Flucht? Wundern würde es mich nicht.

Der Mann stieg ohne sich von mir zu verabschieden, ins Auto und fuhr davon. Frau Lamin öffnete eine Tür und machte eine auffordernde Handbewegung, und ich folgte ihr ins Innere des Gebäudes.

Ich staunte nicht schlecht, als wir die Eingangshalle betraten. Sie war riesig. Der helle Holzboden harmonierte mit der weißen Tapete, an der ein violettes Muster entlangführte. Die Gestaltung ähnelte eher einem Schloss als einer Schule und sah einfach prachtvoll aus. Hätte ich nicht diesen gruseligen Auftrag gehabt, würde ich mich hier vielleicht sogar wohl fühlen, kam es mir in den Sinn.

»Das ist das Forum. Du kannst dich hier in der Pause aufhalten, wenn es mal regnet«, teilte mir Frau Lamin mit.

Rechts und links vom Forum führten zwei große weiße Treppen ins obere Stockwerk.

»Die linke Treppe führt zu den Schlafzimmern der Jungs und die rechte zu denen der Mädchen. Übrigens, der Gang dahinten, zwischen den Treppen, führt zu den Klassenräumen, der Sporthalle und der Cafeteria.« Frau Lamin wandte sich der rechten ziemlich steil wirkenden Treppe zu. »In jedem Stock sind achtzig Zimmer.« Die Schulleiterin setzte ihre Führung fort, während ich mich mit dem schweren Koffer abmühte. Es war eine ganz schöne Herausforderung, den Koffer die lange Treppe hinaufzuschleppen und auch noch den Rucksack auf dem Rücken zu haben, ohne Hilfe, denn Frau Lamin stöckelte vor mir her, ohne mein Stöhnen zu beachten.