Clarissa - Der Auftrag (Band 1)

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 10

Ich fiel auf den kalten Waldboden, der unter mir vibrierte. Wenigstens der Mondschein sorgte für etwas Licht in der Nacht und hüllte gleichzeitig alles in Schatten.

Die Angst strömte durch meinen ganzen Körper. Am meisten spürte ich sie in meinen schwachen Beinen, die mich nur mühsam vorwärts trugen. Irgendwann konnten sie mich schließlich nicht mehr tragen und ich fiel erschöpft auf die Knie.

Mit Tränen verschleierten Augen sah ich mich um und versuchte einen klaren Blick zu bekommen. Wo war er?

Wahrscheinlich sprang er gleich aus dem Gebüsch hervor und brachte mich um. Bei diesem Gedanken bebte ich noch mehr.

Mit letzter Kraft stieß ich mich von der harten Erde ab und hielt mich an einem Ast fest, um nicht wieder umzufallen. Mein Herz pochte so schnell wie noch nie. Es wäre unmöglich gewesen, meine Herzschläge zu zählen. Die Tränen flossen in Strömen. Es hätte keinen Unterschied gemacht, ob ich jetzt ein Glas Salzwasser getrunken hätte oder noch mehr Tränen in meinen Mund gelangt wären.

»Wo bist du?«, schrie ich in den Wald hinein und musterte jeden einzelnen Baum.

Ich hatte ihn ganz klar vor mir gesehen. Diese hasserfüllten, leeren Augen, diese unfassbar spitzen Zähne, die aus seinem scheußlichen Maul ragten und seine unglaubliche Größe, die mit einem Bären zu vergleichen war. Sogar, wenn er auf vier Pfoten stand, überragte er mich. Genauso wie das Ungeheuer, das meine Mutter blutrünstig ermordet hatte.

Mit meinen verwundeten Händen kletterte ich einen Baum hinauf und setzte mich auf einen dicken, feuchten Ast. Völlig außer Atem krallte ich mich schutzsuchend an den Baumstamm. Angestrengt versuchte ich mich zu beruhigen, indem ich tief Atem holte. Dabei spähte ich nervös nach unten. Mein weißes Nachthemd war völlig zerrissen und mit Blut beschmiert, aber die kühle Luft erfrischte meine mit Schweiß überzogene Haut.

Als ich ein tiefes Knurren neben mir vernahm, wäre ich vor lauter Schock fast runtergefallen. Cody hockte neben mir auf dem Ast.

»Cody …?«, stotterte ich.

Er beugte sein Gesicht immer näher zu mir. Erst jetzt erkannte ich, dass er die gleichen Augen hatte wie … dieses Biest. Leer und hasserfüllt. Sie kamen immer näher auf mich zu. Panisch rutschte ich von ihm weg und fiel … Ich konnte nicht mal sagen, ob das Absicht gewesen war.

Schweißgebadet wachte ich in meinem viel zu warmen Bett auf. Schnell schlug ich die Decke zur Seite und setzte mich keuchend auf. Was für ein fürchterlicher Albtraum. Der Schweiß lief mir immer noch über das ganze Gesicht. Ich wollte ja nicht sagen, dass ich Albträume nicht gewohnt war, aber dieser war echt krass gewesen. Er hatte sich so echt angefühlt …

Mit zittriger Hand nahm ich vorsichtig meinen Becher vom Nachttisch und trank einen großen Schluck Wasser. So viel Schweiß wie ich bei dem Traum verloren hatte, musste ich mindestens einen Liter trinken, um den Flüssigkeitsverlust wieder auszugleichen.

An meinem ganzen Körper breitete sich Gänsehaut aus. Von den Fingerspitzen bis zu den Zehen. Da es abends noch so warm gewesen war, hatte ich das Fenster offen gelassen und plötzlich drang frischer Nachtwind in mein Zimmer, der angenehm kühlte.

Einige Minuten später saß ich jedoch immer noch total verstört auf meinem Bett und versuchte den Traum zu verarbeiten. Natürlich war es nur ein normaler Albtraum, sagte ich mir immer wieder, aber dieses Angstgefühl war immer noch bis in den kleinsten Knochen zu spüren. Alles war mir so wirklich vorgekommen …

Auch wenn der Wind mich anfangs schön erfrischt hatte, wurde es mir irgendwann doch zu kühl, weshalb ich mich auf wackeligen Beinen zum Fenster schleppte und es schloss. Danach blieb ich noch ein wenig stehen und schaute nach draußen. Mein Fenster ging nach hinten raus und ich konnte einen Teil des Hinterhofs sehen, der vom Mondschein erleuchtet wurde. Wenn ich mich nicht irrte, war heute sogar Vollmond.

Ich stützte mich auf der Fensterbank ab und betrachtete nachdenklich die Wipfel der Bäume. Offenbar war der Nachmittag mit Cody der Auslöser für meinen Albtraum gewesen. Kein Wunder, mir schwirrten so viele Fragen durch den Kopf.

Warum war Cody heute im Wald gewesen? Vor wem waren wir heute davongelaufen und warum war er so nervös gewesen? Und dann hatte er auch noch die Schuld vor Herrn Albert auf sich genommen. Warum? Irgendein Geheimnis verbarg er, so viel stand schon mal fest.

Am meisten interessierte mich aber immer noch, was er dort überhaupt zu suchen hatte. Hatte er sich vielleicht mit jemanden treffen wollen?

Völlig unerwartet fuhr ich zusammen und wich blitzartig vom Fenster zurück. Am Waldesrand schlichen zwei dunkle Gestalten herum. Sie huschten von einem Baum zum anderen. An den Umrissen konnte ich sehen, dass es Schüler waren, aber leider gelang es mir nicht, ihre Gesichter zu erkennen.

Was zur Hölle machten die da draußen um diese Uhrzeit?

Auf einmal blieben sie beide stehen und blickten in meine Richtung. Schnell bückte ich mich nach unten, um nicht erkannt zu werden. Doch dann fiel mir ein, dass das Licht in meinem Zimmer ja aus war und sie mich deshalb sowieso nicht sehen konnten. Also richtete ich mich wieder auf und wagte einen weiteren Blick nach draußen. Nichts. Sie waren beide weg. Aber wohin? Ich wartete noch ein bisschen ab, aber sie tauchten nicht mehr auf.

Nach einiger Zeit zwang mich die Müdigkeit, zurück in mein Bett zu gehen. Wahrscheinlich fing ich einfach an zu halluzinieren. Wer wäre schließlich so dumm, sich nachts in einen verbotenen Wald zu schleichen?

Sofort einschlafen konnte ich dann aber nicht. Die ganzen Gedanken riefen danach, überdacht zu werden und die Fragen verlangten nach Antworten, nur wie sollte ich die finden?

Ich vergrub mein Gesicht im Kopfkissen und schlug genervt nach dem Wecker, den ich aber leider verfehlte. Ich war wahnsinnig müde und hatte absolut keinen Bock aufzustehen. Und dann erinnerte ich mich auch noch an den schrecklichen Traum von letzter Nacht und an die zwei Gestalten am Waldrand. Allerdings war ich mir immer noch nicht sicher, ob ich sie wirklich gesehen hatte.

Erneut holte ich nach diesem verdammten Wecker aus, der endlich Ruhe geben sollte. Diesmal traf ich ihn auch, aber nicht so wie ich es gewollt hatte. In einem hohen Bogen fiel er vom Nachttisch und klingelte auf dem Boden weiter. Seufzend quälte ich mich aus dem Bett, schaltete ich ihn aus und stellte ihn zurück auf den Nachttisch.

Nun, da ich schon mal auf war, tappte ich ins Bad und machte mich fertig.

Als ich kurz darauf an unserem Frühstückstisch in der Cafeteria erschien, wurde ich von Laura grinsend begrüßt.

»Da ist ja unsere Julia. Herzlichen Glückwunsch«, gratulierte sie mir.

Ich verzog verdutzt das Gesicht und setzte mich mit meinem Glas Orangensaft auf meinen gewohnten Platz.

»Sag bloß, du weißt es noch nicht?« Isabelle blitzte mich erwartungsvoll an.

»Was weiß ich noch nicht?«, fragte ich und biss in mein Frischkäsebrötchen, das Laura mir extra mitgeschmiert hatte. Anscheinend hatte sie geahnt, dass ich zum Frühstück mal wieder zu spät kommen würde.

»Du spielst die Julia«, schmatzte mir Laura vergnügt ins Ohr.

»Wen?« Ich verstand noch immer kein Wort und hoffte, dass die beiden endlich mal zum Punkt kommen würden. Wovon faselten sie da bloß?

»Frau Lamin meinte doch gestern in der Theater-AG, dass sie heute Morgen den Zettel mit unseren Rollen ans schwarze Brett hängt«, erklärte mir Laura.

Stimmt, das hatte ich bei all dem anderen völlig vergessen.

»Du bist die Julia und jetzt rate mal, wer dein Romeo sein wird.« Laura zuckte frech mit den Augenbrauen und grinste dabei wie eine Hyäne.

Eigentlich konnte ich es mir denken. Frau Lamin hatte eine Verbindung zu dem Entführer meines Vaters, der wollte, dass ich ihm Cody lieferte. Sie hatte zwar von einer Auslosung der Rollen gesprochen, aber ich war mir sicher, dass sie mir absichtlich eine der Hauptrollen gegeben hatte und dann war auch klar, wer die andere bekommen würde.

Doch das konnte ich Laura alles schlecht sagen, also spielte ich weiter die Ahnungslose. Ich zuckte mit den Schultern und nuckelte an meinem Glas, während ich darauf wartete, dass sie seinen Namen aussprach.

»Cody«, quietschte sie erfreut.

Auch wenn ich mit genau diesen Namen gerechnet hatte, verschluckte ich mich trotzdem. Isabelle klopfte mir hilfsbereit auf den Rücken.

»Das ist bestimmt Schicksal«, schwärmte Laura unterdessen.

So konnte man es auch nennen.

Ich sah beinahe automatisch zu Codys Platz rüber, der aber leer war. Er war auch nirgendwo sonst zu sehen. Und er war nicht der Einzige.

»Wo ist eigentlich Josh?« Mir war sein Fehlen zwar schon früher aufgefallen, aber ich war noch nicht dazu gekommen, mich nach dem Grund zu erkundigen.

»Wissen wir leider nicht. Wahrscheinlich macht er blau«, antwortete Isabelle und zuckte mit den Schultern.

»Würde er sowas machen?«, fragte ich ungläubig.

»Klar, hat er schon öfter gemacht.«

»Hätte ich bei ihm gar nicht gedacht.« Na ja, okay, eigentlich kannte ich ihn viel zu kurz, um das wirklich beurteilen zu können.

Auch Laura wollte zu dem Thema etwas sagen, aber die viel zu laute Schulglocke machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

Beim Betreten des Klassenzimmers fiel mir als erstes Cody ins Auge. Er saß entspannt im Stuhl zurückgelehnt und zeichnete mit nachdenklicher Miene auf seinen Block herum.

Ich überlegte einen Augenblick, ob ich eventuell zu ihm gehen sollte, um mich dafür zu bedanken, dass er mich gestern bei Herrn Albert nicht verpetzt, sondern in Schutz genommen hatte. Wenn ich sein Vertrauen gewinnen wollte, musste ich ja irgendwann mal damit anfangen, mehr mit ihm zu reden. Außerdem hatte ich nichts zu verlieren. Vielleicht würde er mir ja sogar sagen, weshalb er gestern so schnell weg gewesen war.

 

Mit Marathon laufendem Herzen drängte ich mich zwischen den ganzen Tischen zu ihm hindurch. Mir wurde heiß, als ich direkt vor seinem Platz stand.

»Hey«, sagte ich unsicher.

»Was gibt's?«

Er hielt es nicht mal für angebracht, mich anzugucken.

Stattdessen war seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Zeichnung gerichtet, die zugegeben unbeschreiblich umwerfend aussah. Auf dem Bild war der Kopf eines Mädchens, mit langen dunklen Haaren, zu sehen, die ihr sanft um die Schultern fielen. Ihr Gesicht konnte man nicht erkennen, da sie es hinter ihren Händen versteckt hielt.

Oben links in der Ecke sah man einen Vollmond, dessen Licht auf das Mädchen fiel, und im Hintergrund waren mehrere Bäume angedeutet, an denen er gerade arbeitete.

Das Bild verschlug mir mit seiner Perfektion und der Wirkung den Atem.

Plötzlich bemerkte ich, dass er aufgehört hatte, zu zeichnen. Er hielt den Stift still.

Verwirrt kehrte ich in die Realität zurück, hob den Kopf und begegnete seinem fragenden Blick.

Warum war ich noch mal hier?

»Wo hast du so gut zeichnen gelernt?«

Der eigentliche Grund, warum ich zu ihm gekommen war, war mir entfallen.

»Wenn man elf Jahre in die Schule geht, fast jeden Tag sechs oder manchmal auch acht Stunden das Gleiche macht, ist es irgendwann ganz leicht.«

Ich konnte nicht anders, als wieder das Bild anzusehen. Mein Blick war wie gefesselt davon.

»Aber deswegen bist du doch nicht hergekommen, oder?«

»Ach so, ja, ähm … ich wollte mich bei dir bedanken«, stotterte ich. Mir war es total unangenehm, dass ich so auf das Bild fixiert war und zwang mich, ihn erneut anzusehen.

»Wofür?«

»Wegen gestern«, sagte ich leise. »Danke, dass du mich nicht verpetzt hast.«

»Kein Problem.« Seine tiefe Stimme klang jetzt kalt und abweisend.

Anscheinend interessierte es ihn nicht, dass ich ihm dankbar war. Ja, ich hatte das Gefühl, dass er mir nicht mal richtig zugehört hatte. Seine Augen klebten nun wieder an seinem Blatt.

Ohne noch etwas zu sagen, machte ich kehrt und ging enttäuscht zu meinem Platz, wo ich meine Sachen aus der Tasche holte.

»Gibt es da etwas, von dem ich nichts weiß?«

Mein Blick wanderte fragend zu Laura rüber.

»Du und Cody?« Verstohlen zog sie die Augenbrauen hoch.

Auf Fragen hatte ich jetzt absolut keine Lust. Meine wurden ja auch nicht beantwortet.

Doch sie ließ nicht locker. »Was wolltest du denn von ihm?«, fragte sie weiter und schmatzte mir mit ihrem Kaugummi ins Ohr.

»Nichts, ich wollte nur etwas wegen des Theaterstücks nachfragen«, log ich hastig. Es lag ja nahe, nachdem wir beide darin zusammen spielen sollten. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, Laura erst mal nichts von Cody, mir und der Sache im Wald zu erzählen. Sie war zwar meine Freundin, aber ich kannte sie noch nicht lange genug, um mir sicher zu sein, dass ich ihr auch wirklich vertrauen konnte. Schließlich hatte ich genug Erfahrungen, wie es war, verletzt zu werden. Da war das Wort Vertrauen für mich etwas echt Wertvolles. Außerdem hätte ich nichts davon, wenn sie es wusste. Außer die Angst, sie könnte es jemanden erzählen.

Ich war mal wieder so in Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, wie eine Lehrerin, die ich noch nicht kannte, den Klassenraum betrat. Erst als sie uns mit einem freundlichen »Guten Morgen« begrüßte, sah ich auf. Sie war klein und pummelig und machte keinen strengen Eindruck, so wie die meisten anderen Lehrer auf unserer Schule.

»Guten Morgen«, rief die ganze Klasse im Chor.

Doch was danach kam, bekam ich wieder nicht mit, denn meine Gedanken wanderten zur Theater-AG und zu Cody, und den Rest der Stunde konnte ich an nichts anderes mehr denken, als an dieses blöde Romeo-und-Julia-Stück.

In der nächsten Pause sauste ich so schnell ich konnte ins Forum. Ich musste mich einfach selbst davon überzeigen, dass ich wirklich die Julia spielen sollte.

»Warte doch mal«, rief Laura mir nach.

Meine Schritte verlangsamten sich, bis sie mich eingeholt hatte.

»Wieso hast du denn so ein Tempo drauf? Wenn du einen Marathon laufen willst, bist du hier falsch.«

»Wo hängt das schwarze Brett?« Ich ignorierte ihre Bemerkung und sah mich suchend um.

»Da hinten, wo die anderen stehen.« Sie zeigte auf eine Schülergruppe, die sich vor einer Wand drängte.

Gespannt ging ich zu der Gruppe und stellte mich auf die Zehenspitzen, in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf den Aushang zu erhaschen. Vergeblich. Ein paar Jungs, die wahrscheinlich eine Stufe höher als ich waren, versperrten mir mit ihrer Größe die Sicht.

Vorsichtig drängelte ich mich zwischen ihnen hindurch, wobei ich aus Versehen gegen ein Mädchen stieß.

»Pass doch auf«, keifte sie mich von der Seite an.

Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und quetschte mich weiter nach vorn durch. Als ich es endlich geschafft hatte und vor dem Brett stand, huschten meine Augen schneller als mein rasender Herzschlag über das Infoboard. Da war der Zettel und … tatsächlich, ich sollte wirklich die Julia spielen. Da stand es schwarz auf weiß.

Jedes andere Mädchen wäre vor Freude wahrscheinlich in die Luft gesprungen, aber ich musste gleich an meine Grundschulzeit denken. In der zweiten Klasse beim Weihnachtstheater hatte ich einen Boten spielen müssen. Meine Aufgabe hatte eigentlich nur darin bestanden, einmal über die Bühne zu laufen und »Bald ihr werdet sehen, ein Wunder wird geschehen« zu rufen. Doch ich war damals so aufgeregt gewesen, dass ich meinen Text vergessen und die Worte so was von verdreht hatte, dass alle Eltern, die gekommen waren, sich vor Lachen kaum auf den Stühlen hatten halten können. Seit diesem Tag bekam ich jedes Mal Lampenfieber, wenn ich auf einer Bühne stand. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich lieber für den Bau der Kulissen oder das Basteln der Requisiten zuständig gewesen wäre. Kunst lag mir einfach mehr als Schauspiel.

»Ist das nicht obercool?« Laura grinste. Auch sie hatte sich durchgedrängelt und stand jetzt neben mir. »Deine Eltern sind bestimmt wahnsinnig stolz auf dich, wenn sie erfahren, dass du die Hauptrolle spielst.«

Mir stiegen Tränen in die Augen. Sie konnte nicht wissen, dass meine Mutter tot war und man meinen Vater als Geisel genommen hatte. Trotzdem fühlte es sich wie ein Schlag ins Gesicht an. Ohne etwas dazu zu sagen, kämpfte ich mich durch die laute Schülergruppe von ihr weg.

»Lissa?«, rief Laura und beeilte sich, mir zu folgen. »Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte sie, als sie mich erreicht hatte.

»Nein, ich habe nur etwas Kopfschmerzen«, log ich und drückte meinen Handrücken an meine Stirn.

»Wollen wir ins Krankenzimmer gehen und dir ein Kühl-Pack oder eine Tablette holen?«, fragte sie so fürsorglich, dass es fast schon niedlich war.

Vielleicht hätte ich sogar zugestimmt, wenn es die Schulglocke nicht gegeben hätte.

»Geht schon.« Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln.

Nachdem wir wieder im Klassenzimmer waren und uns an unseren Tisch setzten, lag da plötzlich ein kleiner zusammengefalteter Zettel auf meiner Seite.

»Von wem ist der?«, fragte Laura neugierig, während ich ihn auseinanderfaltete.

Ich las ihn durch und hielt ihn dann meiner Freundin hin.

Heute um sechzehn Uhr hinter dem Gartenschuppen.

C.

»Wie süß, Cody will sich nach der Schule mit dir treffen«, quietschte mir Laura leise ins Ohr.

»Meinst du wirklich, Cody hat den geschrieben?« Äußerlich versuchte ich cool zu wirken, doch innerlich war ich vor Nervosität ganz krank, wenn ich mir vorzustellen versuchte, dass er wirklich von Cody kam. Ich merkte wie meine Beine anfingen weich zu werden und sich ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch ausbreitete.

»Auf jeden Fall!« Laura nickte begeistert.

Gedankenversunken las ich noch einmal den Satz und strich mit meiner Daumenkuppe über das C. Laura musste recht haben, der Zettel konnte eigentlich nur von Cody kommen. Schließlich kannte ich niemand anderen, dessen Name mit C anfing.

Natürlich konnte ich die ganzen restlichen Unterrichtsstunden an nichts anderes mehr denken. Ich kippelte immer wieder mit meinem Stuhl vor lauter Aufregung hin und her, sodass Herr Karsen mich ein paar Mal ermahnte. Im Hinterkopf behielt ich jedoch auch immer noch den Gedanken, dass der Zettel eventuell doch nicht von Cody stammte. Und falls doch, konnte es ja vielleicht auch ein nicht unbedingt positiver Grund sein, weshalb er sich mit mir treffen wollte.

Während des Unterrichts ließ er sich zumindest nichts anmerken. Er saß auf seinen Platz und zeichnete. Das Übliche also.

»Wir müssen dich nachher noch etwas umstylen«, sagte Laura, als wir hungrig auf die Cafeteria zusteuerten.

Ich schluckte und sah sie mit großen Augen an.

»Sag jetzt nicht, dass du so zu deinem Date gehen möchtest?«, fragte sie entsetzt.

Ich schaute mich von oben bis unten an. Ich trug schwarze Sneaker, dazu eine schwarze Leggings und einen langen grauen Strickpullover. »Was ist an dem Outfit verkehrt?«, fragte ich sie schulterzuckend. »Und außerdem ist es ja gar kein richtiges Date«, fügte ich noch hinzu.

Sie starrte mich mit offenem Mund an. »Also bitte, du siehst aus wie ein Trauerkloß, der gerade von einer Beerdigung kommt.«

So würde ich mich auch fühlen, wenn ich nicht endlich einen Hoffnungsschimmer bekam, was Cody anging.

»Nach dem Essen, in meinem Zimmer!«, befahl sie mir und klang dabei unerbittlich.

Ich verdrehte die Augen und nahm mir zwei große Kellen Reis, auf dem ich anschließend sorgfältig eine Kelle Soße verteilte. Laura hingegen schaufelte sich den Teller bis zum Rand voll und balancierte damit langsam zu unserem Stammplatz.

»Was ist eigentlich mit der Party?«, erkundigte ich mich, während wie aßen.

»Hat sich bedauerlicherweise erledigt.« Sie schob sich einen vollen Löffel in den Mund und kaute erst einmal darauf herum, bevor sie mir eine Erklärung lieferte. »Ich bin gestern, nachdem wir Sport hatten, noch mal in die Turnhalle gegangen, weil ich meine Trinkflasche dort vergessen hatte. Leider habe ich Herrn Albert dort getroffen, der gerade Überwachungskameras angebracht hat.«

»Wofür?«

»Er meinte, dass da letztens irgendwelche Schüler nachts eingebrochen wären und eine Eierschlacht veranstaltet hätten. Damit sowas nicht noch mal passiert, hat die Lamin veranlasst, dass in jeder Ecke eine Kamera platziert wird.«

»Wie schade«, log ich, konnte mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. Gott sei Dank, keine Party.

»Aber da du jetzt eh ein Date mit ihm hast«, meinte sie, als ich den Rest Soße von meinem Teller kratzte, »brauchst du ja nicht mehr unbedingt einen Tanz mit ihm.«

Ich verdrehte die Augen und stand auf, um mir etwas zu trinken zu holen.

»Clarissa?«

Ich drehte mich um und erkannte zu meinem Entsetzen Jessica, die hinter mir am Getränkeautomat anstand. Zu meiner Überraschung lächelte sie jedoch freundlich.

»Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Tut mir wirklich leid, dass ich dich letztens bei der Schulleitung verpetzt habe. Schließlich weiß ich jetzt ja, dass es keine Absicht von dir war.«

Sprachlos starrte ich auf ihren Mund, der immer noch zu einem Lächeln verzogen war.

»Kein Problem«, murmelte ich dann endlich ziemlich verwirrt und immer noch misstrauisch.

»Okay, cool.« Sie nickte mir noch einmal zu und zog dann zu ihren Freundinnen ab. Sie war extra aufgestanden, um sich bei mir zu entschuldigen? Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Dieses Friedensangebot kam irgendwie sehr plötzlich.

Als ich zurück zu unserem Tisch kam, platzte ich sofort mit der unglaublichen Neuigkeit heraus. »Laura, du wirst mir nicht glauben was Jessica gerade von mir wollte.« Ich setzte mich und nahm einen Schluck aus meinem Glas.

»Erzähl es mir am besten gleich auf dem Weg in mein Zimmer.« Laura stand auf und griff nach ihrem Teller. »Los trink aus! Wir müssen dich fertig machen.«

Sie packte mich am Handgelenk und zog mich vom Stuhl hoch.

 

»Moment, mein Teller!« Ich verdrehte die Augen und griff nach Teller und Glas und stürzte den Saft in einem Zug runter. Na wenigstens hatte ich schon aufgegessen.

»Mach schon! Das ist ein Notfall.« Sie zog mich zum Geschirrwagen und dann zum Ausgang.

Auf dem Flur zu ihrem Zimmer erzählte ich ihr endlich von der merkwürdigen Versöhnungsszene mit Jessica.

»Also, wenn du mich fragst, heckt die irgendetwas aus. Jessica würde sich nämlich niemals freiwillig entschuldigen, oder überhaupt auch nur auf die Idee kommen.« Laura verzog das Gesicht.

»Es gibt für alles ein erstes Mal.«

Laura zeigte mir einen Vogel und lachte. »Nicht bei ihr, darauf verwette ich unsere Freundschaft.«

Sie schloss ihre Zimmertür auf und ließ mich eintreten. Ihr Zimmer sah ähnlich aus wie meins, nur sehr viel ordentlicher.

»Einen Moment«, rief sie, holte ihren Schreibtischstuhl und stellte ihn vors Waschbecken. »Setz dich!« Sie deutete auf den Stuhl.

Erleichtert ließ ich mich darauf plumpsen. »Diese blöden Treppen sind ganz schön anstrengend«, beschwerte ich mich.

»Irgendwann gewöhnst du dich dran.« Sie wühlte in ihrer Schreibtischschublade herum.

Ihr Zimmer war wirklich extrem aufgeräumt und sauber. Sogar hier im Bad und auf dem Spiegel, vor dem ich saß, war kein einziger Fleck zu sehen.

»Wie schaffst du es, dein Zimmer so sauber und aufgeräumt zu halten?«, fragte ich neidisch. Meins ähnelte zurzeit eher einer Müllhalde, als einem gemütlichen Zimmer.

»Ich kann zaubern.« Sie machte mit ihren Händen eine seltsam aussehende Bewegung, die glaube ich so aussehen sollte, als würde sie einen Zauberstab schwingen.

Wir lachten.

»Nein, Spaß. Ich kann es einfach nicht ab, wenn es dreckig ist und unordentlich aussieht. Dann fühle ich mich immer so unwohl.«

Ich nickte zustimmend.

»Ach ja stimmt, ich hatte den ja unters Bett gelegt, weil er nicht in die Schublade gepasst hatte.« Laura kroch unters Bett und zog einen silbernen Girly-Koffer hervor. »Mein Schminkkoffer«, prahlte sie stolz.

»Wow«, staunte ich angemessen beeindruckt. So einen riesen Schminkkoffer hatte ich tatsächlich noch nie gesehen.

»Er hat alles, was ein Mädchenherz begehrt.« Sie machte einen Trommelwirbel mit ihrem Mund nach - zumindest sollte es sich wie ein Trommelwirbel anhören - und öffnete den Koffer in Zeitlupe, um die Spannung zu steigern.

»Ich wusste gar nicht, dass es so viele Blautöne gibt«, murmelte ich, während ich über ihre Sammlung von Lidschatten staunte. In dem Schminkkoffer war wirklich alles an Make-up versammelt, was man sich vorstellen konnte. Puder, Lippenstifte mit Glitzer und ohne, Eyeliner, Mascara mit kleinen bis hin zu Riesenbürsten, Lidschatten in allen möglichen Farben - am meisten blau - und was weiß ich nicht alles. Mir fiel wirklich nichts ein, was in diesem Koffer fehlen könnte.

»Okay, dann machen wir jetzt mal aus der grauen Maus ein echtes Glamourgirl.« Sie drehte den Stuhl vom Spiegel weg und fing an, mir eine Creme ins Gesicht zu schmieren …

»So fertig.«

Sie drehte mich mit dem Stuhl wieder zum Spiegel.

Ich war so baff, dass ich erst kein Wort herausbekam. Eigentlich war ich nicht gerade der Typ, der allgemein viel Wert aufs Äußere legte oder sich gern schminkte, von Mascara und Lippenpflege mal abgesehen. Was aber Laura mit mir gemacht hatte, sah fabelhaft aus. Der Lidstrich war perfekt gezogen worden und der blaue Lidschatten betonte meine Augenfarbe. Das Einzige, was ich etwas zu übertrieben fand, war der knallrote Lippenstift.

»Bin das wirklich ich?«

»Ja, klar. Und wie findest du es?« Gespannt wartete sie auf meine Reaktion.

»Wunderbar.« Ich hüpfte vom Stuhl und umarmte sie ganz doll. »Danke.«

»Kein Problem. Wozu hat man Freunde?« Sie erwiderte meine Umarmung. »Aber wir sind noch nicht fertig. Als nächstes brauchst du nämlich noch was Stylisches zum Anziehen.«

Sie öffnete ihren Kleiderschrank und warf ein paar Sachen aufs Bett. Schnell hatte sich ein ganzer Berg Klamotten auf ihrer Decke angesammelt.

»Mal sehen …« Sie durchwühlte den Haufen und drückte mir einige Sachen in die Hand und deutete aufs Badezimmer. »Probier das mal an.«

Schnell zog ich das rote Freizeitkleid an und lief durch das Zimmer, wie bei einer Modenschau.

Laura schüttelte den Kopf. »Viel zu aufgedresst für ein Date hinter einem Schuppen.« Sie drückte mir wieder neue Klamotten in die Hand.

Nach einem Duzend mal Umziehen und Probelaufen, hatten wir endlich das richtige Outfit gefunden. Eine stylische weiße Röhrenjeans, die Laura zu eng geworden war und dazu ein türkisfarbenes Top.

»Wie Cinderella«, kreischte Laura begeistert und gab mir noch ein Paar zum Top farblich passende Ballerinas. Schnell schlüpfte ich in die perfekt sitzenden Schuhe und setzte mich wieder auf den Stuhl, um mir die Haare machen zu lassen.

»Herzlich Willkommen, beim Friseur Laura-Marie Hälran. Wir garantieren Ihnen voluminöses Haar mit einer glänzenden Geschmeidigkeit zu einem unschlagbaren Preis.« Laura lachte.

Ich musste mit ihr lachen.

Sie nahm ihre Bürste und kämmte mir vorsichtig durch die Haare. »Schrei, wenn es ziept.«

Danach lockte sie mir ein wenig die Spitzen und benutzte Haarspray, das für mehr Volumen sorgte.

»Taadaa, du bist fertig für dein Date.«

»Und wie viel kostet das?«, fragte ich lachend.

»Hmmm«, sie überlegte, »da du es bist, eine Umarmung, ein Dankeschön und … ein mega großes Lächeln.«

Ich sprang überglücklich vom Stuhl auf und umarmte sie noch doller als zuvor.

»Wie kann ich dir bloß jemals danken?«

»Indem du Spaß bei deiner Verabredung hast.« Laura grinste. »Wie spät ist es eigentlich?« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Oh, schon zehn vor vier, so langsam solltest du dich auf den Weg machen.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?