Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3

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Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3
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Eine Veröffentlichung des

Atlantis-Verlages, Stolberg

Oktober 2020


Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild und Schriftzüge: Dirk Berger

Umschlaggestaltung: Timo Kümmel

Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-720-8

ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-752-9


Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.


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www.atlantis-verlag.de

Widmung

Für Ulrich Bettermann


Ich habe ihm erzählt, wie die Geschichte ausgeht.

Er weiß Bescheid.

1

»Eine Gefangene, ja?«

Der Offizier sah Horton Vigil an, mit dieser Mischung aus Misstrauen, Respekt und Angst, die die umfassenden Legitimationen immer auslösten, die der Agent vorlegte. Was davon die Oberhand erhielt, war noch nicht ausgemacht und Vigil wartete nicht auf den natürlichen Lauf der Dinge. Initiative war alles.

Sein Auftauchen war natürlich überraschend und nichts war verdächtiger als eine Überraschung. Da erschien ein Schiff im Zentralsystem und an Bord war jemand, der vor lauter Berechtigungen, Einstufungen und Freigaben kaum aufrecht laufen konnte. Gewiss, alle diese Legitimationen waren absolut in Ordnung und es wäre so viel einfacher gewesen, wenn sich daran ein Makel gefunden hätte. Der Offizier musste annehmen, dass nur der Imperator über größere Vollmachten verfügte, jedenfalls war er jemandem wie Vigil noch nie begegnet.

Er fühlte sich überrumpelt, zweifellos. Das war exakt Vigils Absicht gewesen. Je länger der Offizier über alles nachdachte, desto eher wurde sein Misstrauen genährt. Er würde möglicherweise sogar auf die Idee kommen, seine Vorgesetzten um Rat zu fragen. Der Reflex, die Verantwortung abzugeben, war tief in jedem Offizier verwurzelt, der so nah am Zentrum der Macht agierte. Diese Leute hatten Angst vor jedem Fehler, der eventuell dazu führen könnte, dass sie das verhältnismäßig sichere Leben mit all seinen Privilegien, das der Dienst im Zentralsystem ihnen bot, verlieren würden. Vigil hatte dafür volles Verständnis. Er hatte aber keine Zeit.

»Was soll diese unnötige Verzögerung? Ich habe Befehle, eine Gefangene und bin legitimiert!«, sagte er mit seiner Kommandostimme, legte alle Autorität eines hochgeheimen Spezialisten hinein, zu der er noch in der Lage war. Tatsächlich war er sehr müde, viel mehr, als er sich selbst oder sogar Ildaya gegenüber zugeben wollte. »Wenn Sie mich noch viel länger aufhalten, wird das Konsequenzen haben – für die Sicherheit des Imperiums und für Sie!«

Das saß. Vigil war das unmerkliche Zusammenzucken des Mannes keinesfalls entgangen. Konsequenzen zu vermeiden, war ein zweiter Grundpfeiler der Existenz dieses Offiziers. Und jemand wie Vigil war sicherlich imstande, solche auszulösen.

Es gab einen sanften Pington und sie erhielten die Landefreigabe. Das Gesicht des Mannes verschwand vom Schirm. Vigil machte sich keine Illusionen über das, was jetzt passieren würde. Natürlich machte er Meldung. Aber da Vigils Autorität absolut rechtmäßig war, würden erst einmal keine Alarmglocken läuten. Es half, dass er für seinen selbstsicheren Auftritt eine seiner zahlreichen Tarnidentitäten benutzt hatte, ebenfalls alle absolut authentisch, nur eigentlich nicht dazu gedacht, sich Zugang zu einer der am besten geschützten KI-Anlagen des Imperiums zu verschaffen.

Ach was! Es war besser, sich keine Illusionen zu machen. Es war die am besten geschützte Anlage und er wusste nicht, wie lange ihm seine Freigaben helfen würden. Je näher er an den Kern kam, desto aufmerksamer wurden die Leute – und waren weniger bereit, sich beeindrucken zu lassen. Selbst der Kaiser würde sich scannen lassen und ausweisen müssen, wollte er zum Allerheiligsten vordringen. So weit wollte Vigil zum Glück nicht. Eine Zugangskonsole des Geheimdienstes war absolut ausreichend.

Er atmete tief durch. Das wäre alles nicht halb so aufregend, so aufwühlend gewesen, wenn er nicht in der letzten Ruhephase einen Traum gehabt hätte. Nein, der Traum an sich war nicht das Problem gewesen. Er hatte, wie jeder Mensch, manchmal erschütternde Träume. Normalerweise waren dies Episoden, die schnell vorbei waren. Er stand auf, duschte, es gab einen Kaffee und spätestens dann waren die Einbildungen einer unruhigen Nacht bereits wieder vergessen, nur noch eine nachschwingende Emotion, die vielleicht ein leises Unbehagen auslöste, mehr aber nicht. Er hatte niemals Angst gehabt, danach wieder ins Bett zu gehen, und er hatte dem zu keinem Zeitpunkt irgendeine Bedeutung beigemessen. Traumdeuterei und die ganze Küchenpsychologie darum hatte er immer für kruden Hokuspokus gehalten. Doch diesmal hatte das Erlebnis Spuren hinterlassen. In der letzten Ruhephase war sein Traum sehr eindringlich gewesen – und in gewisser Hinsicht eine Folter. Sein Unterbewusstsein entsann sich der Trümmer des Kollapsars, die er untersucht hatte, damals, im Kath-Raum. Er sah sich selbst vor dem vom Eis umhüllten Körper stehen, den er darin entdeckt hatte, und ja, da war das Gefühl von Kälte gewesen, geboren aus der gleichzeitigen Empfindung von Angst und Unverständnis. Doch diesmal war noch etwas hinzugekommen, hatte seine Psyche, befreit von den Bindungen der Realität, ihre eigenen Kapriolen geschlagen. Er sah sich selbst im Eis eingeschlossen, wie die beißende Kälte sich durch seinen Körper fraß, ihn zu lähmen trachtete und das Leben in ihm mit alles erfrierender Unerbittlichkeit verdorren ließ. Er entsann sich seiner wachsenden Panik, wie er alle Kräfte angestrengt hatte, sich zu befreien und die eisige Umklammerung zu sprengen. Wie es so war in Träumen, manchmal gelang es einem, manchmal nicht, und wenn das Ende unausweichlich schien, erwachte man mit klopfendem Herzen, desorientiert, dann aber erleichtert, dass all dies nur die Einbildung eines außer Kontrolle geratenen Gehirns gewesen war. Dusche, Kaffee, Vergessen.

 

So war es auch diesmal gewesen. Dem Eistod durch Erwachen entronnen, mit einem wilden Gefühl der Befreiung aus endloser Gefangenschaft, war er keuchend hochgefahren, hatte kurz geblinzelt, als das Licht anging, die vertraute Umgebung seiner Kabine in sich aufgenommen, sich beruhigt. Dusche. Kaffee. Dann war er noch einmal zu seinem Bett zurückgekehrt, um es zu richten, eine Tätigkeit, die er selten Robotern überließ, die zu seiner Routine gehörte, mit der er sich auf einen meist anstrengenden Tag vorbereitete. Das Kissen war feucht gewesen. Vigil hatte es verwundert betrachtet, denn er war zwar heftig aus dem Albtraum hochgefahren, aber keinesfalls in Schweiß gebadet. Er hatte sich nach vorne gebeugt, das Kissen berührt – und war zusammengezuckt: Die Nässe war eiskalt gewesen, wie gerade geschmolzener Schnee.

Das war nicht normal. Vigil hatte die Umweltkontrollen überprüft, die Daten der inneren Sensoren und nichts entdeckt, was das Rätsel erklärbar gemacht hätte. Andere Dinge, das Ende ihrer Reise, standen vordringlich an, aber der ungewöhnliche Fund beschäftigte ihn, bis er auf der kleinen Brücke seines Schiffes angekommen war. Ildaya erfuhr davon nichts. Es gab gewiss eine logische Erklärung dafür, aber die Kälte des feuchten Kissens glitt ihm einen Moment den Rücken hinunter. Dann war der Zeitpunkt gekommen, diese Erfahrung in den Hintergrund seines Bewusstseins zu drängen und sich mit dem Ruf des Offiziers zu befassen, und danach dachte er einfach nicht mehr daran.

Es gab jetzt wirklich Wichtigeres zu erledigen.

Die Sylvana glitt unbehelligt durch das System. Im Äther herrschte helle Aufregung. Vigil konnte in alle offiziellen Kanäle hineinhören und das Bild, das sich abzeichnete, war verheerend. Die Katastrophe im Serail war wie ein Donnerhall durch das Imperium gegangen und die Schockwellen hatten auch den letzten Bürokraten aus seinem Schlaf geweckt. Alarmstimmung machte sich breit, trotz aller beruhigenden Propaganda, die an Glaubwürdigkeit massiv eingebüßt hatte. Selbst jene, die sie verbreiteten, machten den Eindruck, ihre eigenen Lügen nicht mehr ernst zu nehmen. Vigil erkannte die Anzeichen einer nur mühsam unter Kontrolle gehaltenen Panik. Im Militär überdeckte die Disziplin den emotionalen Aufruhr. Aber die Gerüchteküche brodelte auch in der Öffentlichkeit und die wenig hilfreichen offiziellen Verlautbarungen heizten die Stimmung eher noch an. Keiner wusste genau, was geschehen war, und so wurden die Geschichten immer wilder. Das Erschreckende war: Die Realität schien noch viel schlimmer zu sein als die Fantasien der Geschichtenerzähler. Die Kommunikationslinien mit dem angegriffenen System waren ausgefallen. Die dort stationierte Flotte schien vollständig vernichtet. Eine militärische und humanitäre Katastrophe. Schon früher hatte das Imperium Welten an die Kalten verloren. Doch niemals so plötzlich, so eindringlich und umfassend, so rasend schnell und ohne jede effektive Gegenwehr. Das war eine neue Qualität und auch jenen, die von Berufs wegen die Ruhe zu bewahren hatten, stand die Angst in den Augen.

Der kaiserliche Palast schwieg. Das konnte sich schnell als fatal für die öffentliche Stimmung erweisen. Vigil wollte sich vorstellen, dass der Imperator entschlossen und gefasst seinen Beraterstab einberufen hatte und die Situation kühl analysierte, ehe er sich an die Öffentlichkeit wandte. Der Agent klammerte sich ein wenig an diesem Bild fest, der Illusion, dass irgendwer noch etwas unter Kontrolle hatte. Das Imperium war ein Behemoth, ein Gebilde aus Hunderten von Systemen, ruhend auf einer jahrhundertelangen Tradition. Es war nicht immer eine gute Tradition, Vigil war der Erste, der das zugeben wollte. Aber es war doch nichts, was man einfach vom Tisch fegen konnte.

Oder?

Er wollte gar nicht daran denken. Wie gut, dass ihn die Annäherung an das Hauptquartier ablenkte. Bisher war er ohne Probleme vorangekommen, aber jetzt würde er sich erneut Fragen ausgesetzt sehen, und möglicherweise würde Ildaya unter Beweis stellen müssen, dass sie ihre Rolle zu spielen bereit war.

Er sah sie an. Sie begegnete seinem Blick, hob die elektronischen Fesseln an ihren Handgelenken. »Ich bin die Gefangene.«

»Ich schütze Sie, versprochen.«

»Vergessen Sie mich nur nicht beim Abflug. Ich werde schließlich tatsächlich gesucht. Und nach imperialem Gesetz absolut zu Recht.«

Vigil hatte sich dessen vergewissert. Es gab einen Strafbefehl und er war ein wenig blass geworden, als er die Liste der Anklagen überflogen hatte. Ildaya war eine Terroristin. Sie hielt sich selbst für eine Freiheitskämpferin. Wie immer wurden die Definitionen am Ende von denen gemacht, die auf der Seite der Sieger standen. Es war bezeichnend, dass die Frau und er kooperierten, denn es drohte ihnen beiden die absolute Niederlage. Und die Panik auf allen Frequenzen legte beredt Zeugnis dieser Tatsache ab. Aber dennoch. Ildaya war keine Heldin für ihn, keine Freiheitskämpferin, soviel Sympathie er grundsätzlich mit dem Schicksal ihres Volkes auch hatte. Unter anderen Umständen …

Die gab es aber nicht. Es gab jetzt nur diese hier.

»Wir landen. Schauen Sie wütend und verzweifelt drein, Ildaya.«

Die Audh sah Vigil immerhin zweifelnd an, nicht zuletzt wohl als Hinweis auf die Tatsache, dass sie eigentlich immer Wut und Verzweiflung empfand und es keiner besonderen Anstrengung bedurfte, um diesen Ausdruck wiederherzustellen.

Die Sylvana dockte an. Nein, das war nicht richtig. Das Flottenhauptquartier verschluckte sie. Der Moloch aus Stahl und Plast war eines der größten Monumente imperialer Technik, gleichermaßen darauf ausgerichtet, zu funktionieren wie auch zu repräsentieren. Jeder musste von diesem Symbol menschlicher Macht beeindruckt sein und auch Vigil, obgleich er die Anlage nun wirklich oft genug besucht hatte, konnte sich diesem Eindruck nicht völlig entziehen. Er beobachtete verstohlen Ildaya, als sich die Sylvana zum letzten Anflug einreihte, und merkte, dass die Rebellin ebenfalls darum kämpfte, ihre Ehrfurcht nicht allzu offen zu zeigen. Es wäre für sie bestimmt eine Schwäche, das zu tun. Aber wenn einem dieser Anblick vor Augen führte, wie sinnlos der Widerstand gegen diese Maschinerie der Macht im Grunde war, dann musste das von ihrer Warte her sehr deprimierend sein.

Oder ernüchternd.

»Wir gehen!«, sagte Vigil und erhob sich, als die Jacht zum Stillstand gekommen war. Ehe sie aber das Schiff verließen, wandte er sich noch einmal an die KI.

»Sylvana …«

»Ich weiß, was du sagen willst, Vigil. Es könnte passieren, dass die imperialen Behörden ihre respektvolle Einstellung gegenüber unseren Legitimationen im Verlauf der kommenden Stunden noch einmal überdenken könnten, korrekt?«

»Du bist auf eine etwas verschwurbelte Weise ein richtig schlaues Mädchen, Sylvana.«

»Ich werde Intrusionsversuche der HQ-KI abzuwehren wissen. Ich wurde mit sehr wirkungsvollen Protokollen ausgestattet, wie du weißt.«

»Du wirst daran scheitern. Wenn das HQ dich knacken will, wird es dich knacken. Du musst in so einem Fall auf totale Isolation schalten und darauf hoffen, dass ich rechtzeitig zurückkomme. Im Zweifel musst du all deine Kommandofunktionen löschen und ich werde das Schiff manuell steuern.«

»Das ist unangenehm.«

»Es beschneidet deine Autonomie und deine Kognition. Aber …«

»Das meine ich nicht. Du bist ein richtig schlechter Pilot, Vigil.«

Sylvana kicherte. Der Agent schüttelte den Kopf und zeigte auf die Schleuse.

»Jetzt gehen wir wirklich. Sie vor mir, Ildaya. Reden Sie mit niemandem. Sehen Sie einfach nur deprimiert aus.«

»Verdammt, Vigil«, murmelte die Gefangene leise, als sich das Innenschott öffnete, »ich bin deprimiert!«

»Dann kann ja nichts schiefgehen.«

So gut vorbereitet betraten sie die Höhle des Löwen.

2

Und so wurde eine Welt gefressen.

Der expandierende Schirm, kristallklar, kaltweiß, berührte die obersten Schichten der Atmosphäre. Es war ein bemerkenswerter Anblick, wie die Luftmassen milchig wurden, sich immer mehr verdichteten, Wolken wallten, je tiefer der Schirm vordrang. Eis und Schnee begann, zu Boden zu fallen, als die Gase und Flüssigkeiten heruntergekühlt wurden und alles zu Eis wurde, nicht nur das Wasser, sondern auch der Stickstoff, die Edelgase, das Kohlendioxid. Und unten auf dem Planeten, einer dicht besiedelten Welt, die kaum evakuiert worden war, erfasst von einem tödlichen, eiskalten Hauch, der vor nichts und niemandem haltmachte, begann das große Sterben.

Es war nicht wie die Arbeit eines Kollapsars, die dem Imperium wohlbekannt war. Nicht das allmähliche Herunterkühlen, nicht die schrittweise Eroberung, der hinhaltende Kampf mit verbissenem Widerstand, ohne Chance, den Prozess zumindest zeitweise aufzuhalten, zu retten, zu evakuieren, die Katastrophe ein wenig zu mindern und damit die Niederlage nicht absolut werden zu lassen. Es war kein Ringen mehr, es war diesmal ein Naturgesetz. Der Schirm berührte Materie, ob fest oder gasförmig, und kühlte diese in radikaler Geschwindigkeit herunter. Abwehreinrichtungen zeigten Widerstand. Raketen wurden abgefeuert, Energiewaffen ausgerichtet. Explosionen erhellten das Firmament einer sterbenden Welt. Wie auch die Angriffe der Flotte draußen im All waren die Bemühungen sofort und endgültig zum Scheitern verurteilt. Überall stieg die verzweifelte Bevölkerung in die Gleiter, floh auf die andere Seite des Planeten und zögerte damit das unausweichliche Ende nur um kurze Zeit hinaus. Jene Gleiter, die durch die ausgelösten Stürme in der Luft herumgewirbelt, gegen Gebirgsmassen oder die zunehmend vereiste See gestoßen wurden, waren die ersten, die scheiterten. Jene, die sich in der Luft hielten, stürzten erst ab, als die Luft um sie herum gefror und die Maschinen der Fluggeräte keine Möglichkeit mehr hatten zu funktionieren. Mit Glück schafften sie die Landung und dann erfroren oder erstickten die Passagiere, je nachdem, wie gut und sicher ihr Gefährt gebaut worden war. Aber sterben, das mussten sie alle, und aus dem Weltall, unterstützt durch hochauflösende Teleskope, durch noch funktionierende Bildübertragungen von da unten, wurde man Zeuge der Katastrophe, hilfloser, ohnmächtiger Zuschauer eines Genozids von unbeschreiblichen Ausmaßen. Es starben Milliarden. Gigantische Metropolen verendeten in einem umfassenden Eispanzer, nahmen ihre verängstigten und alleingelassenen Bewohner mit in ein ewiges Grab.

Funksprüche der Beobachter klangen wie ein Abgesang. Es wurde gemeldet, mit fester Stimme, dann zitternd, es gab Schluchzen und Wut. Funkdisziplin auf den letzten, den aussichtslos dahintreibenden imperialen Einheiten war eine Angelegenheit der Vergangenheit. Die Reaktionen waren ein Abbild emotionaler Zustände, mühsam überdeckt durch die Reste militärischer Disziplin, vereint in der Erkenntnis, dass der Kalte Krieg in eine neue, endgültige und vernichtende Phase getreten war.

Auf der Brücke der Aume hatten sie sich alle versammelt. Alle schwiegen sie. Tani Vocis hielt die Hände ineinander verkrampft. Von ihnen allen war sie diejenige, die einem solchen Vorgang – anders, langsamer, aber vergleichbar – am nächsten gewesen war, auf vielen Welten. Sie hatte eine Ahnung davon, was dort geschah. Wenn ein Kollapsar kam, blieb allerdings tatsächlich oft noch Zeit für die Evakuierung. Eine Vereisung konnte sich über Wochen hinziehen, bei hartnäckigem Widerstand imperialer Truppen sogar über Monate. Es gab eine Chance für die Flucht. Nicht alle ergriffen sie, aus Dummheit oder Trotz, und nicht alle schafften es, aber die Chance bestand. Die Menschen da unten, von den wenigen einmal abgesehen, die man rechtzeitig hatte wegbringen können, hatten nicht einmal diese kleine Chance bekommen. Das war unfair. Krieg war unfair. Dieser hier besonders, denn es gab in ihm keine Gnade und kein Entkommen, egal für wen.

Sie spürte Hamid, wie er sich neben sie stellte, ihr seine Hand auf den Unterarm legte, eine Geste des Trostes, obgleich sie doch sicher hier oben stand, Aume jederzeit verschwinden konnte und ihr Leben nicht in unmittelbarer Gefahr war. Aber was bedeutete das noch, wenn man solch einer Katastrophe ausgesetzt war?

Der Kristallschirm breitete sich langsam aus, aber schnell genug, dass man Zeuge des absoluten Kataklysmus werden konnte. Und je weiter er die Welt, die Atmosphäre und alles Leben in Gefrierzustand versetzte, desto abgestumpfter fühlte sich Vocis, als sei dies ein Katastrophendrama eines überkandidelten Filmproduzenten, mit dem die Fantasie durchgegangen war und der seine Effekte mehr liebte als alles andere. Das Drehbuch war schlecht, dafür gewürzt mit einer unvorstellbaren Grausamkeit.

 

»Ich erhöhe den Sicherheitsabstand!«, brach die Stimme Aumes durch die erschrocken-andächtige Stille. »Es gibt ohnehin nicht mehr viel zu sehen, befürchte ich.«

Sie hatte recht, doch niemand wollte den Blick von dem Schauspiel abwenden, und auch als die optischen Instrumente bloß noch mit Mühe den Detailreichtum aufrechterhielten und die Übertragungen von der Planetenoberfläche allmählich erstarben, lösten sich die Augenpaare nur mit Widerwillen von den Schirmen. Nicht mehr hinzusehen, das war ein kollektives Eingeständnis von Hilflosigkeit und Scheitern, und sosehr sie sich auch voneinander unterschieden, das war nichts, was einer von ihnen sonderlich schätzte. Bedrückte Stille begrüßte die Entscheidung Aumes, Fahrt aufzunehmen, sich von den Resten der imperialen Flotte zu lösen und dem Rand des Systems zuzustreben.

»Wir müssen das Ding weiter beobachten«, sagte Darius, Prinz des Imperiums, die Stimme brüchig, die Haut erbleicht. »Wir müssen wissen, was es vorhat. Wird es hier bleiben? Was ist das nächste Ziel?«

»Es hebt zum alles entscheidenden Angriff an«, erwiderte Vocis tonlos. »Dem Imperium wird das Genick gebrochen und wir sehen aller einer kalten Zukunft entgegen. Es wird nicht hier bleiben. Es wird jetzt System um System abklappern. So wird es passieren.«

»Es muss doch etwas geben, was die Streitkräfte dagegen tun können«, murmelte Plastikk. Er sah wie betäubt drein, als wäre alle Kraft aus ihm gefahren.

»Gegen einen oder zwei Kollapsare? Ja.« Vocis zeigte auf das Gitternetz an Kollapsaren, das dieses System einfrostete. »Aber das da – das ist nach allem, was wir wissen, absolut unüberwindlich.«

Sie sagte es klar und deutlich und ohne Gejammer, Worte, die allein schon deswegen ihre Wirkung nicht verfehlten.

»Also?« Darius sah Aume auffordernd an. »Also?«

Alle Augenpaare folgten seinem Blick. Hoffnung, Aufforderung, vielleicht sogar etwas Anklage. War sie nicht einst Dienerin von Dendh gewesen? War sie nicht, irgendwie, mitverantwortlich? Vocis hielt das für absurd, aber das musste ja nichts bedeuten. Dennoch, als hätte Aume ihre Gedanken gelesen, ging sie sofort auf das Thema ein.

»Wir müssen Dendh stoppen, meinen alten Kapitän«, erklärte die Schiffsintelligenz, ohne mit ihrem Tonfall um Entschuldigung zu bitten. »Das war von Anfang an die einzige Möglichkeit. Wir müssen den Eiskern oder das Hauptquartier finden, von dem aus er agiert, wo er die Kollapsare und die Geher und alles herstellen lässt und damit diese Galaxis überflutet. Wir müssen in die Höhle des Löwen und wir müssen uns damit beeilen.«

»Wo ist das?«, wollte Vocis wissen.

»Wir haben die Daten ja, wenn das stimmt, was Horton Vigil auf dem Bruchstück gefunden hat«, gab Aume unumwunden zu. »Ich gehe davon aus, dass dies die Position von Dendhs Operationsbasis ist. Oder zumindest ein Ort, an dem wir nachsehen sollten. Und wenn nicht Dendhs Basis, dann könnte uns diese Spur immerhin näher an die wahren Koordinaten heranführen. Wir müssen uns bewegen. Wir dürfen nicht abwarten. Stehen bleiben wäre fatal, denn Dendh hat seinen Zug gemacht.«

»Also fliegen wir einfach in die Richtung?« Vocis machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen. »Mit diesem Schiff? Bist du mächtig genug dafür? Kann Dendh uns nicht aufhalten? Schmeißen wir Bomben auf ihn drauf?«

»Ich kann mich einem Kollapsar nähern, ohne gleich entdeckt zu werden. Ich weiß nicht, ob das auch für Dendhs Hauptquartier gilt. Natürlich: Wenn ich angreife oder gar ein Enterkommando absetze …« Aume ließ den Satz in Stille verklingen, alle wussten auch so, was sie sagen wollte.

»Es gibt jene, die vielleicht mehr wissen«, sagte Darius nach einem Moment der Stille. »Die über Insiderinformationen verfügen, die uns sehr nützlich sein können.«

»Wen?« Holoban Kerr sah den Prinzen an, immer noch mit jener verhaltenen Ehrfurcht vor kaiserlichem Geblüt, das aus ihm ebenso schwer herauszubekommen war wie bei Vocis und Hamid, die einst heilige Eide auf ihre Treue zum Kaiserhaus geschworen hatten. Nein, es war etwas anders. Kerr war naiver. Vocis und Hamid begannen, in Darius den Menschen zu sehen, der unter dem royalen Heiligenschein tatsächlich existierte.

»Erinnern wir uns noch einmal für einen Moment an die Beobachtungen, die der Agent Horton Vigil in dem auseinandergebrochenen Kollapsar gemacht hat«, sagte der Prinz langsam, so als müsse er seine Gedanken selbst noch daraufhin prüfen, ob sie tatsächlich in dieser Situation Sinn ergaben. »Eine Aufzeichnung eines Wissenschaftlerteams, das in den Anfangsjahren des Kalten Krieges verschwunden ist, als verschollen gilt, spurlos. Wie kann es sein, dass eine solche Nachricht in einem Kollapsar verewigt wurde – und kann dies nicht auch bedeuten, dass diese Menschen noch am Leben sind?«

»Das ist viele Jahre her. Sie müssen Greise sein, falls sie überhaupt noch leben«, sagte Vocis. »Ich finde diese Geschichte … fantastisch, um es mal vorsichtig zu sagen.«

»Sie trauen Vigil nicht?«, fragte Kerr.

»Er ist ein Agent der Krone. Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendetwas gibt, was er sagt, das man nicht auf die Goldwaage legen muss.«

Darius ließ das nicht gelten und überging die Diskussion einfach. »Aber sie sind offenbar keine völlig hilflosen Gefangenen, wenn sie noch am Leben sind. Noch einmal weiter gedacht: An Bord des Kollapsars fand Vigil so etwas wie eingefrorene oder konservierte Lebewesen. Wir wissen nicht, welche Funktion sie erfüllten. Aber dass einfach nur Leichen transportiert wurden, das will ich bezweifeln. Also leben sie auf gewisse Weise, existieren zu einem genauen Zweck. Wenn das so ist, warum sollten dann jene, die den Hilferuf formuliert haben, nicht auch noch existieren, auf ähnliche Weise? Wenn es eine Hibernationstechnologie ist, dann spielt das biologische Alter nur eine untergeordnete Rolle.«

»Gut«, sagte Plastikk. In dem einen Wort lag eine Menge Gefühl, vor allem ein tiefer Unglaube und die lauernde Überzeugung, dass der Prinz vielleicht doch nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. »Und nehmen wir an, das wäre so: wie nehmen wir mit diesen potenziell tiefgefrorenen Greisen aus der Vergangenheit Kontakt auf, ohne dass Dendh uns auf die Schliche kommt und dem gleichen Schicksal zuführt? Mindestens.«

Darius nahm den Unterton des Schrotthändlers mit Gleichmut hin. Er war von seiner eigenen Idee überzeugt, das sah man ihm an. Vocis selbst, die schweigend zuhörte, war ein wenig hin- und hergerissen. Sie hatte in letzter Zeit viele fantastische Dinge gehört und gelernt. Da erschien ihr die Hypothese des Prinzen auch nicht absurder als alles andere.

»Wenn wir nahe genug herankommen und ich recht habe und diese Leute bei Bewusstsein sind, dann gibt es eine Möglichkeit, wie Sie wissen, egal in welchem Aggregatzustand sie sich befinden.« Jetzt schaute Darius Plastikk bedeutungsvoll an. Mit dem Schrotthändler ging eine bemerkenswerte Veränderung vor sich. Er holte tief Luft, war mit einem Male etwas blass um die Nase.

Vocis sah ihn an. Ein kühler Luftzug blies in ihren Nacken. Sie drehte sich irritiert um, doch die Gitter der Luftumwälzung waren weit weg. Vielleicht nur ein Gefühl, ausgelöst durch die emotionale Reaktion Plastikks, der offenbar nun an etwas erinnert wurde, was ihm sichtlich unangenehm war.

»Es sind Leute von … damals«, sagte er mit einem Aufstöhnen. »Das habe ich ganz vergessen. Es kann sein … ach verdammt, ich bin mir sicher, dass sie die Kontrollkapsel im Kopf haben. Ich habe nicht mehr daran gedacht.« Er tastete sich an den eigenen Schädel. »Sie haben die Narbe gesehen, mein Prinz.«

»Darius reicht. Ja, ich habe sie gesehen. Die Kapsel wurde bei Ihnen entfernt, als der Imperiale Gerichtshof damals seine Entscheidung fällte. Sie waren im letzten Jahrgang, die sie noch bekam, richtig?«

»Ja«, bestätigte Plastikk heiser und rieb sich immer noch die gleiche Stelle unter seinem Haar. »Wurde nie benutzt, ich habe nichts gemerkt, aber … ja. Ich habe sie noch vor Ende meiner Dienstzeit herausoperiert bekommen. Und diese Leute … damals hatte es noch nicht einmal die Klage gegeben!«

»Vielleicht kann mich jemand aufklären, worum es hier geht?«, fragte Sol, der etwas verwirrt wirkte und fragend von einem zum anderen schaute. Sein alter Freund Darius beeilte sich, die Verwirrung zu beseitigen. Doch ehe er das Wort erheben konnte, mischte Plastikk sich ein.

»Eine Erklärung ist notwendig. Aber nicht ohne Vorbemerkung«, sagte der ältere Mann und schaute den Prinzen zwingend an. »Sie dauert nicht lange und lautet in etwa so: Das Imperium wird von Arschlöchern regiert. Arschlöcher, die meinen, mit jenen, die ihnen freiwillig dienen, die patriotisch denken und fühlen und ihr Leben riskieren, umgehen zu können wie mit irgendwelchen Sklaven, Kriminellen oder jenen, die es zu erobern gilt. Ich war einer von diesen Menschen.« Er sah Darius an. »Ein Patriot bin ich seitdem nicht mehr.«

Der Prinz nickte. Er war offenbar nicht verärgert, ganz im Gegenteil. Ein Teil des Schmerzes, der in Plastikks Worten gelegen hatte, fand sich in seinem Gesicht widergespiegelt. Er seufzte, als würde ihn eine schwere Last niederdrücken, wartete noch, ob der Mann etwas hinzufügen wollte, doch alles schien von seiner Seite aus gesagt zu sein.

»Das ist richtig«, erklärte Darius nun leise. »Es sind Dinge, Entscheidungen und Irrungen wie diese, die mich auf den Konfrontationskurs gegen meinen Vater geführt haben. Ich rechtfertige nichts von dem, was getan wurde, auch wenn ich damals noch ein Kind war und nicht einmal davon wusste. Ich entschuldige es nicht. Ich entschuldige aber auch mich nicht. Ich repräsentiere diese Art von Vorgehensweise nicht, das habe ich wohl unter Beweis gestellt.«

Plastikk widersprach nicht, obgleich es ihm sichtlich schwerfiel. Darius wandte sich an Sol.

»Für lange Zeit wurde Rekruten der Streitkräfte sowie Zivilpersonal im Militäreinsatz eine kleine Kapsel unter die Schädeldecke implantiert. Man erzählte den Betroffenen damals, es handele sich um eine medizinische Vorsichtsmaßnahme, die vor allem gegen Infarkte helfen würde, und tatsächlich haben die meisten Soldaten nie mehr etwas mit der Kapsel zu tun gehabt, weder im Bösen noch im Guten. Die meisten dürften sie irgendwann vergessen haben.« Er sah Plastikk an. »Wie war es bei Ihnen?«