Gänzlich ohne Spur

Text
Aus der Reihe: Valerie Voss, LKA Berlin #8
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Gänzlich ohne Spur
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Dietrich Novak

Gänzlich ohne Spur

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Das etwa dreizehnjährige Mädchen wirkte beinahe gespenstisch, so bleich war seine Haut und so fahl sein Gesicht. Die Augen blickten glanzlos und schienen empfindlich gegenüber dem Sonnenlicht zu sein. Deshalb legte die Kleine, die für ihr Alter sehr zart war und von nur geringer Körpergröße, meist schützend ihre blasse Hand an die Stirn. Sie trug saubere Kleidung und wirkte nicht ungepflegt. Nur um ihren Mund gab es kleine Herpesbläschen, die das hübsche Gesicht etwas entstellten.

Alles schien neu für die Kleine. Das saftige Grün der Bäume, die bunte Blumenpracht in den Vorgärten und selbst der Himmel mit seinem sanften Blau. Fremden gegenüber verhielt sie sich scheu, fast ängstlich. Deshalb senkte sie verschämt den Blick, wenn ihr jemand begegnete. Aber in den schmalen Straßen des noblen Berliner Stadtteils Dahlem war ohnehin kaum jemand zu Fuß unterwegs. Falls mal ein Pkw kam, fuhr er meist sofort in die grundstückseigene Garage oder die Fahrerin – es waren in der Mehrzahl Frauen, die mit einigen Tüten vom Einkaufen kamen – parkte am Straßenrand, stieg schnell aus, holte die Einkäufe aus dem Kofferraum und verschwand dann sogleich in einem der Einfamilienhäuser, die in ihrer Größe und Bauweise durchaus Villencharakter besaßen. Für das scheue Mädchen hatte keine von ihnen einen Blick übrig.

Als es eine Weile ziellos umhergewandert war, kam es zu einem Haus mit weißem Fachwerk und dunklem Holz, das es staunend betrachtete. Wirkte es doch beinahe wie eines der Häuser, die in seinem alten zerfledderten Märchenbuch abgebildet waren. Dieser Eindruck verstärkte sich noch durch die Kassettendecke im Stile eines Rittersaals im Inneren des Gebäudes. Mechanisch lief die Kleine die Treppen nach unten, um zu sehen, ob es unten so prächtig weiterging. Doch da gab es nur einen schmalen Bahnsteig und rechts und links tiefer gelegene Schienen.

Das Mädchen erschrak heftig, als es die hölzerne Sitzgruppe sah, die aus drei hoch aufragenden stilisierten Personen bestand. Darüber befand sich ein weißes Schild, auf dem in schwarzen Lettern: Dahlem-Dorf stand. Noch einen größeren Schreck bekam es, als mit lautem Getöse ein orange-gelber Zug einfuhr, aus dem einige Leute ausstiegen, und aus dem Lautsprecher eine Ansage ertönte. Da kamen plötzlich Erinnerungsfetzen auf. Ja, mit so einem Zug waren Mama und Papa damals mit ihr gefahren, als sie noch alle zusammenlebten. Allerdings unter der Erde. Deshalb hieß es auch U-Bahn.

Als es an die Eltern dachte, die schon länger geschieden waren, musste das Mädchen plötzlich weinen. So viele Jahre waren sie schon getrennt, und immer hatte es gehofft, Mama oder Papa würden es irgendwann holen. Aber diese Hoffnung hatte sich nie erfüllt.

»Warum weinst du denn?«, fragte eine ältere Frau, die aus dem Zug gestiegen war. »Hast du dich verlaufen? Wo wohnst du denn?«

Das Mädchen zuckte die Achseln.

»Was denn, du weißt nicht, wo du wohnst? Bist du fremd in der Stadt? Womöglich einer von diesen Flüchtlingen? Aber nein, das kann nicht sein. Dazu hast du zu helle Haut.«

»Bitte lassen Sie mich«, sagte das Mädchen.

Die Frau ging kopfschüttelnd weiter.

Als der nächste Zug einfuhr, stieg es einfach ein und stellte sich auf der gegenüberliegenden Seite an die Tür. Sein unergründlicher Blick erfasste die vorbeihuschende Landschaft, als der Zug weiterfuhr. An der fünften Station stiegen Fahrkartenkontrolleure ein, die man mit ihrer zivilen Kleidung nicht sogleich einordnen konnte. Nach und nach gaben sie sich zu erkennen, indem sie sich auswiesen, und ließen sich die Fahrscheine oder –Karten zeigen. Als eine junge Frau zu dem Mädchen kam, ließ sie ihren üblichen Spruch ab.

»Den Fahrschein, bitte!«

Das Mädchen reagierte nicht.

»Sie haben keinen? Gut, steigen Sie bitte an der nächsten Station mit uns aus!«

Auf dem Bahnsteig verlangte die Kontrolleurin dann den Ausweis.

»So etwas habe ich nicht. Man hat mich entführt und jahrelang in einem Keller eingesperrt«, sagte das Mädchen tonlos.

1. Kapitel

5 Jahre zuvor

Der Mann war schon tagelang unterwegs, um seinen Plan zu Ende zu führen. Im Verlies war alles bereit für die kleine Bewohnerin, wie immer sie auch heißen mochte. Mit seinem Kombi war er die Straßen abgefahren, in denen sich jeweils eine der vielen Berliner Grundschulen befand. Bevorzugt richtete er dabei sein Augenmerk auf die Bezirke, die möglichst weit von seinem Wohnort entfernt lagen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, fand er endlich eine, wo alles passte. Es war die Grundschule am Bürgerpark in Marzahn. Seitlich von der Rudolf-Leonhard-Straße gab es einen Parkplatz, der durch die vielen Bäume nur schwer einsehbar war. Dort parkte er und lief ein wenig in der Gegend herum.

Er musste nicht lange warten, bis ihm ein kleines Mädchen mit Schulranzen entgegenkam. Der Zufall wollte es, dass die Kleine ins Stolpern geriet und auf die Knie fiel. Ritterlich half er ihr auf die Beine und untersuchte die Wunden.

»Wie ich sehe, hast du dir wehgetan«, sagte er freundlich, »da sollte schnellstens ein Pflaster drauf, damit kein Schmutz hineinkommt.«

»Ja, in der Schule wird man mich versorgen.«

»Bis dahin ist es aber noch ein Stück. Dort auf dem Parkplatz steht mein Wagen. Und es ist vorgeschrieben, dass man einen Verbandskasten dabei hat. Komm, das geht ganz schnell.«

»Ich weiß nicht.«

»Ach, du hast doch nicht etwa Angst vor mir? Ich habe auch eine kleine Tochter, die etwas jünger als du ist und Lotte heißt. Wie alt bist du, acht oder neun?«

»Acht.«

»Und wie heißt du?«

»Annika Gerlach.«

»Das ist ein hübscher Name. Ich bin der Tom. Wohnst du hier in der Nähe?«

»Ja, da drüben in der Rudolf-Leonhard-Straße.«

»Dann hast du es ja nicht weit zur Schule. Ich kann dich auch zu deiner Mutter bringen, bevor die anderen Kinder etwas von deinem Missgeschick mitkriegen.«

»Nein, die schläft noch. Und später geht sie putzen. Aber wenn ich am frühen Abend nach Hause komme, ist sie wieder da.«

»Dann hast du heute Morgen gar kein Frühstück bekommen?«

»Nein, das kriege ich nie. Macht aber nichts. Im Hort, wo ich nach dem Unterricht auch hingehe, gibt es schon ab sechs Uhr Frühstück für die Kinder.«

»Na prima, einen Papa habt ihr wohl nicht?«

»Mein Papa ist von zu Hause ausgezogen, weil er und die Mama sich immer so viel gestritten haben. Und als die Mama dann noch zu trinken anfing …«

»Verstehe. Dann hast du es auch nicht immer leicht. Vielleicht willst du einmal meine Tochter kennenlernen. Wir könnten zusammen einen Ausflug machen, wenn du magst.«

»Hm …«

»Aber zunächst sollten wir deine Knie versorgen. Kannst du laufen, oder tut es zu sehr weh?«

»Es geht …«

»Na los, bevor es schlimmer wird.«

Der Mann, der sich Tom nannte, nahm Annika an die Hand und führte sie zum Parkplatz.

»Komm, krabble mal da auf die Ladefläche!«, sagte er, als er die Heckklappe geöffnet hatte, »siehst du, der Verbandskasten steht gleich links.«

Annika folgte brav und sah zu, wie der Mann einige Utensilien aus dem grauen Kasten nahm.

»So, das wird jetzt etwas brennen. Geht aber gleich vorbei«, sagte er, als er die Watte mit Jod benetzte. »Und jetzt noch zwei Pflaster, und alles ist wieder gut.«

Die Kleine biss tapfer die Zähne zusammen, obwohl sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Aber als das Pflaster draufkam, hörte das Brennen schon auf.

»Wozu brauchst du denn die Säcke?«, fragte Annika interessiert.

»Damit spielen wir im Garten Sackhüpfen. Manchmal stülpe ich Lotte auch nur so zum Spaß einen über den Kopf. Aber vorher kommt noch etwas Klebeband auf den Mund, damit man das Schreien nicht hört. Siehst du so!«

Tom schnitt blitzschnell ein Stück von dem grauen Tape ab und klebte es Annika auf den Mund. Dann stülpte er ihr den Sack über und verknotete ihn unten. Das Mädchen merkte, dass es kein Spiel mehr war und fing heftig an zu strampeln.

 

»Hör sofort damit auf. Sonst muss ich dich mit einem Schlag auf den Kopf betäuben. Das willst du doch nicht, oder?«

Schnell sprang er aus dem Wagen, schloss die Heckklappe, setzte sich hinters Steuer und fuhr kurz darauf zufrieden ab. Das Ganze hatte kaum zehn Minuten gedauert. Und Beobachter hatte es keine gegeben. Was wollte man mehr?«

2017

Hauptkommissarin Valerie Voss gehörte zu den Frauen, die mit zunehmendem Alter immer hübscher wurden. Dass sie Mutter eines achtzehnjährigen Sohnes war, der gerade sein Abitur gemacht hatte, sah man ihr nicht an, wenn man es nicht besser wusste. Ihre weißblond aufgehellten Haare trug sie nicht mehr so lang, um nicht billig zu wirken. Die Länge reichte aber noch aus, um zu einem kleinen Schwanz zusammengebunden zu werden. Ihr für sein Alter immer noch sehr attraktiver Mann und Kollege Hinnerk Lange trug die gleiche Frisur. Der Partnerlook veranlasste Lästerzungen, hinter ihrem Rücken oder auch ganz offen von „Hinni und Nanni“ zu sprechen – angelehnt an das alte Kinderbuch „Hanni und Nanni“. Doch da standen die beiden drüber. Ihre Liebe, die einen gewissen Anlauf gebraucht und einige Hindernisse überstanden hatte, war stärker denn je. Das entging auch nicht ihrem gemeinsamen Sohn Ben.

Hinnerk war so etwas wie ein Womanizer und hatte früher zahlreiche Affären gehabt. Das hatte auch Valerie zu spüren bekommen, als er ausgezogen und bei seiner Geliebten gewohnt hatte. Nach deren Tod war er reumütig zurückgekehrt. Inzwischen geschieden, hatten sie dann jahrelang in sogenannter wilder Ehe gelebt. Seit Kurzem waren sie wieder offiziell ein Paar, denn sie hatten zum zweiten Mal geheiratet. Ganz still und ohne Tamtam, das beide nicht mochten. Nicht anders hatten es Valeries Mutter Karen und ihr Lebensgefährte Herbert gehalten. Karen, die schon mit Herbert zusammenlebte, seitdem sie überraschend Witwe geworden war, hatte sich anfangs gesträubt, ein zweites Mal zu heiraten, und daran, jetzt Schindler statt Voss zu heißen, konnte sie sich auch nur schwer gewöhnen. Doch die neumodische Variante, wo beide Ehepartner ihren Nachnamen behielten, wie im Falle ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes, fand sie unmöglich und für sich selbst nicht akzeptabel.

Valerie nannte Karen zwar „Mama“, doch seit dem achtzehnten Lebensjahr wusste sie davon, adoptiert zu sein. Erst im letzten Jahr hatte Valerie ihre leibliche Mutter Tyra in Schweden kennengelernt, von der sie angenommen hatte, dass sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr am Leben sei. Die beiden Frauen, die sich sehr ähnlich sahen, hatten sich glücklich in die Arme geschlossen und von Anfang an sehr gut verstanden. Ein Umstand, der bei Karen heftige Eifersucht verursachte.

Die stille Doppelhochzeit hatte natürlich nicht ohne Tyra und ihren Sohn Tusse stattfinden können. Aber da sie ein Antiquitätengeschäft in Stockholm unterhielt, war ihr Aufenthalt nur von kurzer Dauer gewesen. Sowohl Hinnerk als auch Ben hatten Tyra sofort ins Herz geschlossen, und bei ihrem Abflug waren wiederum heiße Tränen vergossen worden, zumindest bei den Frauen. Die Einzige, die sichtlich aufgeatmet hatte, war Karen gewesen.

»Seht mal! Wir haben schon wieder so einen Wisch bekommen«, sagte Marlies Schmidt, die gute Seele der Abteilung, die seit geraumer Zeit ihre krausen Locken gemäßigt kurz trug.

»Zeig mal her!«, sagte Hinnerk und ließ sich das Blatt herüberreichen. »Elena ist jetzt bei ihrem Vater«, las er laut vor. »Könnt ihr euch an einen Fall erinnern, bei dem es um eine Elena ging?«

»2014 ist ein kleines Mädchen mit diesem Namen verschwunden«, meinte Valerie, »so viel ich weiß, ist es nie wieder aufgetaucht.«

»Demnach haben wir uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert«, sagte Hinnerk, »ich kann mich gar nicht erinnern.«

»Wohl deshalb, weil die Kollegen vom Dezernat 13 den Fall bearbeitet haben. Man ging schnell von einem Sexualdelikt aus, da ein rückfallgefährdeter Sexualstraftäter verdächtigt wurde. Sogar von Kinderpornografie war die Rede. Allesamt Gebiete für die die Kollegen zuständig sind.«

»Ja, jetzt kommt’s langsam. Du hast dich damals fürchterlich aufgeregt, weil du anderer Meinung warst.«

»Gib mal her!«, sagte Valerie, und Hinnerk reichte das Blatt weiter. Dabei stöhnte er kurz auf. »Was ist? Wieder dein Arm?«

»Ja, was denn sonst?«

»Ich habe gleich gesagt, du solltest dich besser in den Innendienst versetzen lassen …«

»Damit ich mir den ganzen Tag den Arsch platt sitze? Nein, danke. Außerdem habe ich nicht draußen Schmerzen, sondern hier.«

Hinnerk war vor knapp einem Jahr während einem seiner typischen Alleingänge angeschossen worden. Damals hatte er in Sachen eines internationalen Babyhändlerrings ermittelt. Zu einer Zeit, als Valerie gerade in Stockholm ihre Mutter wiedergefunden hatte. Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als würde Hinnerk seinen linken Arm nie wieder richtig bewegen können. Doch die Reha hatte gute Erfolge erzielt. Nur manchmal genügte eine falsche Bewegung …

»Warum nimmst du auch nicht den rechten Arm?«, sagte Valerie tadelnd.

»Weil ich nun mal zwei habe. Ist auch schon wieder vorbei. Zurück zu dem Fall. Warum schickt man den Wisch zu uns? Für mich bedeutet das, dass uns jemand fälschlich in Sicherheit wiegen will und es sich eben doch um Mord handelt.«

»Für mich sieht es so aus, als würde der Kerl mit uns spielen«, insistierte Valerie. »Erinnere dich, als Ben damals entführt wurde. Das war auch so ein kranker Spinner. Es ergibt doch gar keinen Sinn, auf einen Fall aufmerksam zu machen, der längst zu den Akten gelegt wurde. Er hätte nur die Füße stillhalten zu brauchen. Sollte mich nicht wundern, wenn bald noch neue Nachrichten kommen.«

»Ich gehe mal die Akte besorgen. Etwas Bewegung wird mir guttun«, sagte Hinnerk und war kurz darauf schon verschwunden.

»Musst du ihn immer wieder auf seinen … Unfall ansprechen?«, fragte Schmidtchen, wie Valerie sie nannte. »Es ist für ihn und für uns peinlich.«

»Entschuldige mal, ich bin schließlich hautnah davon betroffen. Mir laufen kalte Schauer über den Rücken, wenn ich die Austrittswunde sehe, die einfach nicht richtig heilen will. So tun, als ob nichts war, ist auch nicht die Lösung. Und Lars werde ich nie verzeihen, dass er damals den Unsinn mitgemacht hat.«

»Komm, das ist ungerecht. Hinni hat sich noch nie was sagen lassen. Da konnte Lars auch nichts gegen ausrichten.«

»Doch, es war seine Pflicht, Verstärkung anzufordern. Aber Herr Scheibli fährt eben auch gerne die eigene Tour. Das hat er leider von uns gelernt, der gute Lars.«

»Habe ich da gerade meinen Namen gehört?«, fragte Kommissar Lars Scheibli und kam grinsend zur Tür herein.

»Ja, das hast du«, sagte Valerie, »dein Fehler, der dich und Hinni fast das Leben gekostet hätte, ist nämlich nicht vergessen. Dein Leichtsinn wird dich noch einmal teuer zu stehen kommen.«

»Das sagt gerade die Richtige. Ihr wart mir ein gutes Vorbild. Und keine Verstärkung zu rufen, war einzig und allein die Entscheidung deines Mannes.«

»Du hast doch einen eigenen Kopf zum Denken. Wäre schön, wenn du ihn öfter mal benutzen würdest.«

»Darüber brauchst du dich ja nun bald nicht mehr aufzuregen. Ich habe meine Versetzung beantragt.«

»Und das knallst du uns so einfach vor den Latz?«

»Ich wollte erst sicher gehen, ob die Sache Erfolg hat. Und jetzt sieht es ganz gut aus.«

»Gehst du zurück ins Ländle?«, fragte Marlies flapsig, um ihre Überraschung zu verbergen.

»Genau, ich habe mich beim LKA Baden-Württemberg beworben, das bekanntlich seinen Sitz in Stuttgart hat. Womöglich kann ich dort als verdeckter Ermittler arbeiten.«

»Na, da hast du ja schon etwas Erfahrung«, meinte Marlies.

»Nur geht es dort nicht um mordendes Pflegepersonal, sondern um organisierte Kriminalität, Rauschgifthandel oder Waffenkriminalität.«

»Was die organisierte Kriminalität angeht, konntest du doch mit unserem Fall über Babyhandel punkten«, sagte Valerie, »was sagt denn deine Anna zu dem Standortwechsel?«

»Du wirst lachen, die könnte sofort in einem Altenheim anfangen. Und unser Oliver könnte in Stuttgart eingeschult werden und nicht in einer dieser unsäglichen Berliner Schulen.«

»Wenn du auf den hohen Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund anspielst: das dürfte in Stuttgart kaum anders sein.«

»Ja, ich weiß. Deshalb wollte ich auch lieber nach Tübingen, aber da hat eine Umorganisation stattgefunden. Das neue Polizeipräsidium steht jetzt in Reutlingen, und die Tübinger Beamten werden reihenweise dorthin oder nach Esslingen versetzt. Die Tübinger Kripo soll sich künftig nur noch mit den einfacheren Fällen befassen. Aber wie dem auch sei, Berlin kommt mir besonders problematisch vor, was die Ausländerkriminalität, Banden- und Ghettobildung angeht. Am Kottbusser Tor blüht der Drogenhandel, und die Polizei sieht zu.«

»Dann kann man dir nur Glück wünschen. Weiß der Alte schon Bescheid?«

»Natürlich. Es muss ja rechtzeitig für mich ein Nachfolger gefunden werden.«

»Und der hat nichts gesagt, der Schlawiner, typisch. Mal sehen, ob die Stelle überhaupt besetzt wird.«

Kurz darauf kam Hinnerk wieder und staunte ebenso wie die anderen bei den Neuigkeiten.

»Na, wird ja auch Zeit, dass du mal flügge wirst und nicht immer in unserem Schatten stehst«, sagte er grinsend.

»Meine Rede. Obwohl ihr mir schon fehlen werdet.«

»Du uns doch auch. Lieschen wird heiße Tränen vergießen.«

»Nur ich? Ihr werdet erst wissen, was ihr an Lars hattet, wenn der Neue sich als Niete herausstellt.«

»Vielleicht ist es ja auch eine Neue. Damit wären hier endlich mal die Frauen in der Überzahl«, feixte Valerie.

»Träum weiter! Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege …«

Der Aktenordner, den Valerie nach Hinnerk warf, verfehlte nur knapp sein Ziel.

Die kleine Annika strampelte heftig in dem Sack, als ihn der Mann über seine Schulter warf und über den Keller in den Bunker brachte. Der kleine Raum sah wie so viele aus, die man in den siebziger Jahren als Schutz vor einem neuen Weltkrieg errichtet hatte. Es gab eine Liege, ein Waschbecken und eine Chemotoilette. Sogar schmale Bücherregale und eine Art Schreibplatte.

Doch dieser Raum war nur eine geschickte Täuschung, denn „Toms“ Vater hatte schon damals an einer Erweiterung der Anlage gearbeitet, und sein Sohn hatte Jahre für die heimliche Fertigstellung aufgewendet. Nicht einmal seine Frau hatte davon etwas mitbekommen. Niemand konnte ahnen, dass es mehrere Ebenen gab, denn der Eingang zu dem eigentlichen Bunker lag versteckt unter einer schweren Bodenplatte, auf der zusätzlich ein Schrank stand, der nur wenige Millimeter größer war. Deshalb konnte man keinen Spalt im Boden entdecken. Die Platte mit dem Schrank darauf konnte man nur mit der entsprechenden Fernbedienung zur Seite bewegen. Danach ging es unterhalb der Öffnung einige Stufen abwärts und durch einen runden Tunnel, an dessen Ende sich eine Stahltür befand, die auch nur auf gleiche Weise zu öffnen war.

Dahinter befanden sich Räume, die einem kleinen Appartement ähnelten, mit zwei Schlafräumen, einer Küchenzeile mit Kühlschrank, Kochplatte und Spüle. Die Nasszelle wies eine Dusche und sogar eine Waschmaschine auf. Der Wohnraum hatte eine Essecke und ein gemütliches Sofa. Alles hätte direkt anheimelnd wirken können, wären nicht die fehlenden Fenster gewesen.

Der Mann, der sich Tom nannte, legte den Sack vorsichtig auf eines der beiden Betten und befreite Annika vom Klebeband und aus ihrer misslichen Lage.

»So, jetzt kannst du schreien, so viel du willst. Denn hier unten wird dich niemand hören«, sagte er lächelnd. »Ich rate dir aber, brav zu sein. Wir werden es nämlich eine lange Zeit miteinander aushalten müssen.«

Annika war viel zu eingeschüchtert, um schreien zu können. Sie sah sich nur fassungslos um.

»Wo bin ich hier, und warum tun Sie das?«

»Das ist sozusagen Onkel Toms Hütte. Hattet ihr das Buch schon in der Schule? Nein? Dann können wir es gemeinsam lesen. Warum ich das mache? Um dich vor der Welt da draußen und den bösen Menschen zu schützen. Wir stehen kurz vor einem Atomkrieg, bei dem auch chemische Waffen eingesetzt werden. Wenn du nicht gleich stirbst, wirst du als hässliches Monster mit verbrannter Haut rumlaufen und furchtbare Schmerzen haben.«

Annika fing sofort an zu weinen, und damit löste sich etwas der Schreck, den sie in der letzten Stunde erfahren hatte.

 

»Nun wein mal nicht, meine Kleine. Hier bist du ja in Sicherheit. Und wenn du alles tust, was der Tom dir sagt, wird es dir richtig gutgehen.«

»Warum darf Mama nicht mit hier sein?«

»Weil sie es nicht verdient hat. Sie kümmert sich nicht richtig um dich und denkt nur daran, wo sie die nächste Flasche Alkohol herbekommt. So jemanden können wir hier nicht gebrauchen. Wir wollen es doch schön haben. Komm, sieh dich mal um in deinem neuen Reich. Und in dem Schrank da findest du ganz viele Spielsachen und hübsche Kleidchen für dich.«

»Ich trage aber lieber T-Shirts und Jeans.«

»Du wirst anziehen, was mir gefällt, verstanden?« Der Ton des Mannes hatte sich derart verändert, dass Annika vor Schreck verstummte und nahe daran war, erneut zu weinen.

»Na, ist es nicht hübsch hier?«, säuselte er jetzt wieder, »da im Kühlschrank gibt es sogar ein Eis für dich. Geh mal nachsehen!«

Annika folgte der Aufforderung nicht. Stattdessen betrachte sie fasziniert einen Brummkreisel, der für ein kleineres Kind und bestimmt nicht für sie angeschafft worden war.

»Gehört der Lotte?«, fragte sie.

»Wie? Nein, die war schon lange nicht mehr hier. Ihre Mama lässt sie nicht in meine Nähe, das Rabenaas.«

»Aber vorhin haben Sie doch gesagt, ich könnte sie treffen …«

»Habe ich das? Na, irgendwann wird es vielleicht eine neue Lotte geben, damit du etwas Gesellschaft hast.«

Mit dieser Aussage konnte Annika nichts anfangen. Sollten er und seine Frau noch eine Tochter bekommen, der sie denselben Namen geben würden? Seltsam, aber wenn seine Frau den Kontakt mit ihm mied, wie konnte das angehen?, überlegte Annika. Für ihre kleine Seele war es sicher gut, dass sie den Sinn dieser Aussage nicht verstand. Denn es sollte auch so noch unendliches Leid auf sie zukommen.

Hinnerk nahm sich die Akte Elena Dengler vor und studierte sie ausgiebig. Das Mädchen war vor drei Jahren spurlos verschwunden. Die nicht unvermögenden Eltern hatten tagelang auf eine Lösegeldforderung gewartet, die aber nie eintraf. Der Zufall wollte es, dass zwei Wochen zuvor der sechsundfünfzigjährige Anton Barth aus der Haft entlassen worden war. Als Wiederholungstäter hatte er fünf Jahre Freiheitsentzug bekommen, weil er sich immer wieder Kindern sexuell genähert hatte, indem er vor ihren Augen masturbierte oder sie unsittlich berührte beziehungsweise zu sexuellen Handlungen zwang.

Da Barth ganz in der Nähe der Denglers wohnte, hatte man umgehend eine Hausdurchsuchung durchgeführt, die allerdings ergebnislos verlaufen war. Bei den zahlreichen Verhören hatte Barth immer wieder beteuert, Elena nie gesehen und nichts mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Da er in einer Mietwohnung wohnte und kein Laubengrundstück besaß und sowohl die Spürhunde in seiner Wohnung als auch die KTU keinerlei Spuren von Annika an seiner Kleidung feststellen konnten, hatte man ihn laufen lassen müssen.

Auch der anschließende Verdacht, an der Verbreitung oder Nutzung von kinderpornografischem Material beteiligt zu sein, musste fallengelassen werden, da es keine hinlänglichen Beweise dafür gab. Man ging viel mehr davon aus, erzürnte Eltern hatten ihm eins auswischen wollen. Eine Observation seiner Person war schließlich aufgegeben worden, da Barth sich in keiner Weise verdächtig verhielt.

»Ich habe mir unterwegs ein paar Gedanken gemacht«, sagte Hinnerk. »Was soll das heißen, das Mädchen ist jetzt bei ihrem Vater? Sind die Eltern inzwischen geschieden, und Elena lebt bei ihm?«

»Möglich wär’s. Ehen aus denen entführte Kinder stammen, sollen öfter kaputtgehen«, meinte Valerie, »womöglich, weil man sich gegenseitig die Schuld zuschiebt oder ganz einfach den psychischen Druck nicht aushält.«

»Es gäbe noch eine andere Deutungsmöglichkeit: Es kann auch heißen, dass sie jetzt beim himmlischen Vater ist, also tot«, sagte Lars.

»Um das zu klären, sollten wir die Eltern aufsuchen. Wer kommt mit?«, fragte Valerie.

»Natürlich der Göttergatte. Ihr wisst, ich bin in Sachen Trauerbotschaft nicht besonders gut«, antwortete Lars.

»Du hast aber nicht die Absicht, dich für die letzten Tage auf die faule Haut zu legen? Entschuldige, war nicht so gemeint«, fügte Hinnerk sogleich hinzu, als er sah, wie Lars errötete. »Wenn ich Schmerzen habe, neige ich zu Humor der bitteren Art.«

»Ein bisschen mehr solltest du dich schon unter Kontrolle haben«, insistierte Valerie. »Alles andere wäre ungerecht gegenüber Lars.«

»Ja, du hast ja Recht.«

Als sie wenig später vor der Haustür der leidgeprüften Eltern standen und ihre Dienstausweise zeigten, machte Katharina Dengler, eine gepflegte Erscheinung mit halblangen, brünetten Haaren und melancholischem Blick, große Augen.

»Gibt es etwas Neues? Haben Sie unser Mädchen gefunden?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Nein leider nicht«, sagte Valerie, »aber es gibt neue Anhaltspunkte. Dürfen wir einen Moment hereinkommen?«

»Ja, natürlich, gehen Sie bitte durch ins Wohnzimmer.«

»Wir haben eine etwas heikle Frage: Könnte es sein, dass Sie sich von Ihrem Mann haben scheiden lassen?«

Katharina Dengler bekam sofort feuchte Augen.

»Mein Mann ist vor einem Jahr an Krebs gestorben. Das Leid über den Verlust unserer Tochter hat ihn buchstäblich dahingerafft. Warum fragen Sie?«

»Zunächst einmal unser tief empfundenes Beileid«, sagte Valerie. »Das Schicksal meint es wahrlich nicht gut mit Ihnen. Warum wir hier sind: Es ist da eine seltsame Botschaft aufgetaucht mit dem Wortlaut: Elena ist jetzt bei ihrem Vater.«

»Das kann nur eins bedeuten, dass sie auch tot ist«, sagte Katharina mit gebrochener Stimme.

»Das muss es nicht«, versuchte Hinnerk sie zu beruhigen. »Der Täter muss nicht zwangsläufig vom Tod Ihres Mannes erfahren haben. Es kann auch der misslungene Versuch sein, von sich abzulenken und uns etwas vorzugaukeln.«

»Nett von Ihnen, dass Sie mich trösten wollen«, sagte Katharina, »aber wenn ich ehrlich bin, fühle ich schon länger, dass mein Kind nicht mehr am Leben ist. Der unbekannte Schreiber hätte also Recht, wenn er behauptet, Elena sei bei ihrem Vater.«

»Wir wollen Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, aber die Erfahrung lehrt uns, dass es nicht bei einer Nachricht bleibt. Die nächste kann ganz anders lauten.«

»Egal, was derjenige behauptet, mein Gefühl sagt mir, dass Elena nicht wiederkommt. Inzwischen sind drei entscheidende Jahre vergangen. Mein Kind würde mich vielleicht gar nicht mehr wiedererkennen. Ich hoffe nur, dass es ihr besser geht, da wo sie jetzt ist. Sei es bei einer anderen Familie oder im Himmel. Wie gesagt, meinem Gefühl nach …«

Katharina brach hilflos ab. Valerie nahm sie vorsichtig in den Arm. Die verzweifelte Mutter ließ es eine Weile geschehen, löste sich dann aber aus der Umarmung.

»Danke für Ihr Mitgefühl. Ich gehe davon aus, dass Sie auch Mutter sind?«

»Ja, unser Sohn ist aber bereits volljährig. Doch es gab eine Zeit, da waren wir in einer ähnlichen Situation wie Sie. Deshalb kann ich mich gut in Ihre Lage versetzen.«

»Das dachte ich mir. Wenigstens haben Sie Ihr Kind wiederbekommen, wie ich Ihrer Rede entnehme.«

»Zum Glück. Wenn es auch eine schlimme Zeit lang nicht so aussah. Sollen wir Sie über die laufenden Ermittlungsergebnisse informieren, Frau Dengler? Es besteht aber auch die vage Möglichkeit, dass wir keine weitere Nachricht erhalten.«

»Bitte nicht. Diese Ungewissheit halte ich nicht noch einmal aus. Nur wenn Sie Elena finden sollten. Lebendig, um sie zu mir zurückzubringen, oder … dass ich sie wenigstens beerdigen kann, um meinen Frieden zu finden. Über den Strolch, der ihr das angetan hat, möchte ich möglichst nichts erfahren. Allein die Schilderung über das Leid meines kleinen Mädchens würde mir das Herz brechen. Er wird von anderer Seite gerichtet werden. Daran glaube ich fest.«

»Wir respektieren Ihren Wunsch und nehmen nur noch einmal Kontakt zu Ihnen auf, falls es nötig erscheint. Könnten Sie uns eventuell noch ein Kleidungsstück Ihrer Tochter geben? Eins, das Sie vielleicht noch nicht gewaschen haben?«

»Ja, ihr Zimmer ist unberührt. Das gilt auch für die Bett- und Nachtwäsche. Einen Moment!«

»Danke«, sagte Valerie, als Katharina Dengler zurückkam. »Alles Gute, und vor allem viel Kraft.«

»Vielen Dank, ich begleite Sie noch zur Tür.«

Draußen auf der Straße musste sich Valerie erst einmal sammeln und legte ihren Kopf an Hinnerks (unversehrte) Schulter. Das waren genau die Momente, die sie an ihrem Beruf hasste.