Mord nach Vorlage

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Aus der Reihe: Valerie Voss, LKA Berlin #18
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Mord nach Vorlage
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Alles wird uns heimgezahlt,
wenn auch nicht von denen,
welchen wir geborgt haben.

Marie von Ebner-Eschenbach

(1830 - 1916), Marie Freifrau Ebner von Eschenbach, österreichische Erzählerin, Novellistin und Aphoristikerin

Quelle: Ebner-Eschenbach, Aphorismen, 1911

Vorwort

Obwohl dieser Roman während der Corona-Krise entstanden ist, habe ich mich dazu entschlossen, dieses Thema nicht in die Handlung einfließen zu lassen. Da ich der Meinung bin, dass die Medien schon in ausreichender Form darüber berichten. Wir leiden alle unter den Folgen, doch ein Roman soll in erster Linie unterhalten und vom Alltag ablenken. Handelt es sich, wie in diesem Fall, um einen Krimi, fließt schon zwangsläufig genug grausame Realität ein, denn die Fantasie eines Autors wird mitunter von den realen Ereignissen übertroffen. Ich bin mir bewusst, dass einige Leser mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sein werden, aber wie heißt es so schön? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Und eines möchte ich keinesfalls – langweilen. Ich hoffe dennoch, dass die Krise bald überstanden sein wird und in ein paar Jahren nur noch eine schlechte Erinnerung daran zurückbleibt. In diesem Sinne: Bleiben Sie bitte gesund!

Dietrich Novak

im September 2020

Prolog

Futschi, wie ihn alle hier nannten, kam in seinem Rausch kurzzeitig zu sich. Etwas stimmte nicht, bemerkte er sogleich. Obwohl er heftigen Harndrang verspürte, war es ihm nicht möglich, sein Wasser abzuschlagen. Zwischen seinem lückenhaften Gebiss steckte ein harter Gegenstand, der sich außerhalb seines Mundes deutlich verbreiterte. Und warum konnte er seine Arme und Beine nicht bewegen? Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass er zwar aufrecht stand, aber an Händen und Füßen an die Wand des schäbigen Bretterverschlages gekettet war.

Erst jetzt nahm er den Fremden im Halbdunkel wahr. Richtig, der hatte mit ihm eine Flasche Weinbrand geköpft. Keinen billigen Fusel, sondern ein Markenprodukt. Dass der großzügige Spender das Meiste seiner Ration weggeschüttet hatte, war Futschi freilich entgangen. Er war viel zu gierig auf den Schnaps gewesen. Seine anfängliche Skepsis gegenüber dem Fremden – der war für einen Obdachlosen viel zu gut gekleidet und machte insgesamt einen eher gepflegten Eindruck – bestätigte sich jetzt, denn er stand grinsend da und genoss offensichtlich die Hilflosigkeit seines Opfers. Die so gar nicht ins Bild passenden grünen Haushaltshandschuhe ließen nichts Gutes ahnen.

>>Na, Bruder. So einen gepflegten Rausch hast du schon länger nicht gehabt, was?<<, fragte er leise. Und dein Weg ins Paradies wird dir noch mehr davon bringen. Du darfst mir nicht böse sein. Im Prinzip habe ich nichts gegen dich. Du warst nur grade verfügbar.<<

Futschi verstand nicht, worauf der Fremde hinaus wollte. Der Trichter in seinem Mund ermöglichte ihm ohnehin nicht, Fragen zu stellen.

>>So, jetzt kommt die nächste Ration. Zwar reichlich mit Wasser verdünnt, denn der pure Sprit wäre in solcher Menge dann doch zu teuer. Außerdem würde dein Magen so viel Alkohol nicht verkraften. Aber wenn du Glück hast, wird die Verdünnung ausreichen, deinen Rausch zu vertiefen oder zu erneuern.<<

Der unheimliche Fremde nahm einen Wasserkanister und schüttete die bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam in den Trichter. Futschi blieb nichts anderes übrig, als zu schlucken, damit er nicht erstickte. Sein Druck in der Blase stieg enorm an, doch noch immer konnte er sich nicht erleichtern. Die viele Flüssigkeit sammelte sich in seinem Körper und ließ seinen Bauch wie bei einer Schwangerschaft anschwellen. Erst als sein Peiniger diesen mit einem einzigen scharfen Schnitt öffnete, ergossen sich wahre Fluten in die schäbige Behausung. Futschi konnte sich nicht mehr über die Überschwemmung seines Schlafplatzes ärgern, denn er überlebte die grausame Aktion nicht.

1. Kapitel

Hauptkommissarin Valerie Voss war etwas spät dran, denn sie hatte wiederum eine unruhige Nacht gehabt. Im Traum war ihr Hinnerk, der Mann, den sie zweimal geheiratet hatte, Vater ihres gemeinsamen Sohnes, Ben, und ehemaliger Kollege, erschienen. Es hatte sich nicht um einen Albtraum gehandelt, eher im Gegenteil, doch Valerie war zutiefst bewegt, dass der geliebte Verstorbene so realistisch und lebendig ausgesehen hatte. Sein gewaltsamer Tod durch die Hand eines skrupellosen Verbrechers war jetzt fast ein Jahr her, aber Valerie konnte die furchtbaren Ereignisse einfach nicht vergessen. Sie hatte sogar in Erwägung gezogen, den Beruf aufzugeben. Bis Hinnerk sie in einer Vision daran erinnert hatte, welch gemeinsame Ideale und Ziele sie beide im Leben hatten. Das Verbrechen unermüdlich zu bekämpfen und die Welt etwas gerechter zu machen.

Auch in dieser Nacht hatte Hinni wieder darauf Bezug genommen.

>>Ich bin stolz auf dich, mein Mädchen. Du hältst dich wirklich tapfer und bist nebenbei auch noch erfolgreich wie eh und je. Wenn der olle Zeisig auch denkt, seine Beharrlichkeit sei der Grund für deine Rückkehr ins Präsidium.<<

>>Bestärke sie auch noch in ihrer Unvernunft<<, sagte Karen Schindler, Valeries Adoptivmutter, die an einem Krebsleiden verstorben war und plötzlich neben Hinnerk stand.

>>Mama, wie schön, dass du an Hinnis Seite bist<<, hatte Valerie glücklich ausgerufen.

>>Ja, an, aber nicht auf seiner Seite. Ich hatte so gehofft, dass du endlich diesen unsäglichen Beruf aufgibst. Aber der unmögliche Kerl redet dir auch noch gut zu.<<

>>Valerie macht immer das, was sie für richtig hält, liebste Schwiegermama. Nur hin und wieder nimmt sie einen Rat von einem ihr nahestehenden Menschen an.<<

>>Dass du ihr näher stehst als ich, musst du mir nicht so deutlich zu verstehen geben.<<

>>Oh Mama, ich hatte eigentlich gedacht, dass du in der anderen Dimension etwas weniger streitlustig und milder gestimmt sein würdest.<<

>>Na, so lange bin ich ja noch nicht hier und übe noch etwas. Aber mach dir keine Sorgen, uns geht es gut hier. Wir machen lange Spaziergänge und sind manchmal sogar einer Meinung. Danke übrigens für den wunderbaren Baum in deinem Garten, dessen Wurzeln sich mit meiner Asche vermengt haben. Eine schönere letzte Ruhestätte kann man sich kaum vorstellen.<<

>>Wir müssen jetzt wieder, Schatz. Sei tapfer und mach weiter so.<<

Valerie hatte ihr ganzes Kopfkissen nass geweint, obwohl es doch eigentlich ein sehr schöner Traum gewesen war. Nachdem sie ihr Gesicht mit Eiswasser behandelt, ein leichtes Tages-Make-up aufgelegt und ihre inzwischen goldblonden Haare frisiert hatte, musste sie erschreckt feststellen, dass ihre geröteten Augen jedem verraten würden, dass sie wieder geweint hatte. Zum Glück sprach sie im Präsidium niemand mehr darauf an, doch man dachte sich bestimmt seinen Teil.

>>Ah, die werte Kollegin. Schön, dass du auch schon kommst<<, sagte Konstantin Bremer, der im Team Hinnerks Platz eingenommen hatte. Ob er es privat auch gern täte, blieb vorerst sein Geheimnis.

>>Ich glaube, dass ich dir das Du angeboten habe, bekommt dir nicht gut<<, konterte Valerie. >>Oder bist du jetzt Dr. Zeisigs Erfüllungsgehilfe, der auf die Einhaltung der Dienstzeiten achtet?<<

>>Aua, nicht gleich hauen<<, feixte Konstantin.

>>Wie heißt es so schön? Wie es in den Wald hineinschallt ...<<, sagte Kommissar Heiko Wieland.

>>Die Kalendersprüche sind nicht dein Ressort, auch wenn du gut in die Lehre gegangen bist<<, meinte Marlies Schmidt, die auch nach ihrer Heirat ihren Namen behalten hatte, wie ehemals Valerie und Hinnerk auch.

>>Und du bist hier nicht die Mutter von`s Janze. Auch wenn du dich gelegentlich so aufführst<<, sagte Heiko säuerlich.

>>Achtung, Schmidtchen. Man nimmt heute übel<<, sagte Valerie. >>Ärger mit Fabian, Heiko?<<

>>Das tut hier nichts zur Sache.<<

>>Wenn wir dann wieder die Kriegsbeile begraben könnten ...<<, meinte Konstantin. >>Wir haben nämlich einen neuen Fall.<<

>>Wie schön, damit uns ja nicht langweilig wird. Wer hat denn diesmal wen umgebracht?<<

>>Wenn das jetzt schon feststehen würde, wären wir ziemlich überflüssig, liebe Kollegin.<<

>>Valerie reicht. Also, wo müssen wir hin?<<

>>In die Schlieperstraße in Tegel. In einer Musikalienhandlung ist ein Mitarbeiter erdrosselt aufgefunden worden. Wollen wir losen, wer fährt?<<

>>Quatsch, natürlich wir beiden Hauptkommissare. Heiko kommt schon noch zum Zuge, wenn es an die Feinarbeit geht.<<

>>Na bravo, wie üblich<<, meckerte Heiko.

>>Och, willst du auf den Arm?<<, fragte Marlies.

>>Darauf nimmt man mich doch ohnehin ständig.<<

Als Valerie und Konstantin wenig später in Tegel ankamen, empfing sie ein geschockter Ladenbesitzer, der mühsam nach Worten rang.

>>Ich kann es nicht fassen. Herr Bauer war ein langjähriger Mitarbeiter, der schon bei meinem Vater gearbeitet hat.<<

>>Ich gehe davon aus, dass Sie zur Zeit des Mordes nicht anwesend waren<<, sagte Valerie.

>>Ich war nur kurz etwas besorgen. Wer ahnt denn, dass sich zwischenzeitlich so ein Drama abspielen würde? Das übersteigt doch die schlimmste Fantasie.<<

 

>>Demnach sind Sie bisher von Überfällen verschont geblieben?<<

>>Gott sei Dank, ja. Wer klaut schon ein Musikinstrument?<<

>>Nun, die Ladenkasse dürfte da wahrscheinlich interessanter sein. Allerdings noch nicht am frühen Morgen, denke ich<<, sagte Konstantin.

>>Ganz recht. Das Wechselgeld hält sich ohnehin in Grenzen.<<

>>Ist denn überhaupt etwas gestohlen worden? Konnten Sie das schon feststellen?<<

>>Ja, ich meine, nein. Das ist ja das Merkwürdige. Man könnte meinen, dem Täter wäre es nur auf den Mord angekommen. Womöglich aus reiner Lust am Töten.<<

>>Für voreilige Schlussfolgerungen ist jetzt nicht der rechte Augenblick. Sind denn die Kollegen von der KTU und der Rechtsmedizin schon vor Ort?<<, fragte Valerie.

>>Was denkst du denn? Hallo, Valerie<<, hörte man die Stimme von Manfred Hoger. >>Welche Freude dich zu sehen. Und wie du wieder aussiehst ...<<

>>Lass gut sein, Manfred. Ich weiß, dass du es gut meinst. Könnt ihr schon was sagen?<<

>>Kaum mehr als der Ladeninhaber. Heinrich Bauer, 63, wohnhaft in ...<<

>>Geschenkt. Die Wohnung dürfte ohne Belang sein. Gibt es hier irgendwelche Spuren?<<

>>Auf den ersten Blick nicht. Es handelt sich ja nicht um einen Einbruch. Die Tatwaffe ist zurückgelassen worden. Aber ein Draht gibt nicht viel her.<<

>>Demnach ist Herr Bauer mit einer Drahtschlinge erdrosselt worden?<<

>>Jep, genauer gesagt mit einer Klaviersaite.<<

>>Bäh, kein schöner Weg zu sterben.<<

>>Nein, aber welcher ist das schon, wenn es nicht freiwillig geschieht?<<

>>Da hast du auch wieder Recht. Dann frage ich mal Knud. Der ist doch da, oder?<<

>>Ja, und Bernd Siebert, falls du Stella Kern erwartet hast.<<

>>Habe ich nicht. Stella ist jetzt mit einer anderen Dame glücklich, ihres Zeichens Staatsanwältin.<<

>>Ich weiß. Geht schon ganz schön lange mit den beiden, oder?<<

>>Ja, aber ich gönne es ihr. Mit mir war es dann doch zu unsicher.<<

Valerie ging in die hinteren Räume des Ladens, wo sie von den beiden Rechtsmedizinern begrüßt und von Konstantin erwarte wurde.

>>Haben die Kunden auch zum hinteren Bereich Zutritt?<<, fragte Valerie. >>Oder ist die Leiche bewegt worden?<<

>>Normaler Weise nicht<<, sagte Konstantin. >>Doch da Zubehör wie Klaviersaiten nicht vorne gelagert werden, hat er den augenscheinlichen Kunden vielleicht nach hinten gebeten.<<

>>Oder die beiden haben sich gekannt. Vielleicht war es ein privater Besuch, der eskaliert ist?<<

>>Guter Ansatz. Ich werde noch mal den Ladeninhaber befragen.<<

>>Tu das. Ich halte mich an die Rechtsmedizin.<<

>>Hat Ihr Mitarbeiter gelegentlich privaten Besuch erhalten?<<, fragte Konstantin.

>>Nein, nie. Er war ja unverheiratet und hatte keine Kinder.<<

>>Halten Sie es für möglich, dass Herr Bauer homosexuell war?<<

>>Nein, bestimmt nicht. Ich kannte seine Frau.<<

>>Sagten Sie nicht eben, er sei unverheiratet gewesen? Oder haben die beiden in wilder Ehe gelebt?<<

>>Da habe ich mich wohl etwas missverständlich ausgedrückt. Herr Bauer war Witwer. Seine Frau ist vor einigen Jahren plötzlich verstorben.<<

>>Und eine neue gab es nicht?<<

>>Nein, Heinrich meinte, ganz gut allein zurecht zu kommen.<<

>>Hatte er vielleicht Geschwister? Nichten und Neffen oder sonstige Anverwandte?<<

>>Nicht dass ich wüsste. Aber wenn dem so war, besucht hat ihn im Laden niemand.<<

>>Hat es mal Probleme mit einem Kunden gegeben? Ältere Herren können mitunter etwas bärbeißig sein.<<

>>Heinrich nicht. Er war bei den Kunden sehr beliebt.<<

>>Ja, dann weiß ich auch nicht. Vielleicht ging es dem Täter gar nicht um die Person des Herrn Bauer.<<

>>Es gibt eben nicht nur Beziehungstaten, obwohl die gewöhnlich überwiegen<<, sagte Valerie, die dazu kam. >>Womöglich war Herr Bauer ein willkürliches Opfer.<<

>>Wie dem auch sei. Für uns ist es ein schwerer Verlust.<<

>>Hatten Sie in letzter Zeit das Gefühl beobachtet zu werden? Hat sich jemand vor dem Laden auffällig herumgetrieben?<<

>>Nein, mir ist jedenfalls niemand aufgefallen. Es gibt immer mal wieder Leute, die die Auslagen betrachten, aber dass jemand den Laden ausgekundschaftet hat, kann ich nicht sagen.<<

>>Heute offensichtlich doch. Sonst hätte er nicht wissen können, dass Herr Bauer allein im Laden ist.<<

>>Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ach, wäre ich doch nur hiergeblieben.<<

>>Geißeln Sie sich nicht. Es ist müßig, darüber nachzudenken, was gewesen wäre, wenn … Hat Herr Bauer hier in der Nähe gewohnt?<<

>>Kann man so sagen. In der Gorkistraße 3, quasi über der Apotheke in der Fußgängerzone. Den Fußweg morgens und abends hat er sehr genossen, auch bei schlechtem Wetter. Er hatte noch einen sehr alten Mietvertrag. Heutzutage kann man sich die Mieten dort kaum leisten.<<

>>Gut, dann werden wir uns von den Kollegen die Wohnungsschlüssel aushändigen lassen. Es ist immer gut, wenn man nicht die Tür aufbrechen muss.<<

>>Was hoffen Sie in Heinrichs Wohnung zu finden?<<

>>Das kann man nie so genau wissen. Auch wenn er keine Angehörigen hatte, vielleicht gibt es Hinweise auf irgendwelche Kontakte.<<

>>Was geschieht denn jetzt? Ich meine, unter diesen Umständen ist es schwer, den Betrieb aufrecht zu erhalten.<<

>>Gewiss, aber nachdem die Rechtsmedizin die Leiche abtransportiert und die KTU alles fotografiert und sämtliche Spuren erfasst hat, wird der Raum wieder freigegeben. Wollten Sie denn heute noch den Laden für Kunden offen halten?<<

>>Nein, das wäre wohl etwas pietätlos gegenüber Heinrich, aber morgen ...<<

>>Das wird sicher machbar sein. Ich gehe davon aus, dass Herr Bauer sein Schlüsselbund nicht am Leib getragen hat. Würden Sie dem Kollegen bitte zeigen, wo er seine Garderobe abgelegt hat?<<

>>Ja natürlich. Bitte kommen Sie!<<

Valerie ging noch einmal zu Manfred Hoger. >>Manfred, lässt du dir bitte den Schlüsselbund von Herrn Bauer aushändigen?<<

>>Ach, ich denke, die Adresse ist geschenkt?<<

>>Ich habe es mir anders überlegt. Auch wenn es kein Tatort ist, vielleicht haben wir Glück und finden Hinweise auf den Täter.<<

>>Meine Rede ...<<

>>Hat Herr Bauer ein Handy besessen?<<

>>Wir haben keins gefunden.<<

>>Heinrich mochte diese Dinger nicht. Er meinte, sein Festnetzanschluss reiche völlig. Ob man ihn dort oder auf einem Handy nicht anrufe, sei egal.<<

>>Wenn man‘s von der Warte aus betrachtet ...<<

Wenig später parkte Konstantin in der Berliner Straße, und er und Valerie gingen die paar Schritte in die Fußgängerzone. Der in schlichtem Beige gehaltene Altbau aus der Gründerzeit mit Erkern und Balkonen machte einen gepflegten Eindruck. Als Konstantin die Wohnungstür aufschloss, wurde die Tür der Nachbarwohnung geöffnet.

>>Wer sind Sie, und was machen Sie da?<<, fragte die Frau in mittleren Jahren.

>>Wir sind vom LKA<<, sagte Valerie. >>Aber wenn Sie so wachsam sind, können Sie uns vielleicht sagen, mit wem Herr Bauer verkehrt hat.<<

>>Was heißt wachsam? Ich stehe nicht den ganzen Tag hinter der Tür, aber Herr Bauer kommt um diese Zeit nie nach Hause. Warum eigentlich LKA? Ist ihm etwas passiert?<<

>>Herr Bauer ist heute Morgen an seinem Arbeitsplatz ermordet worden.<<

>>Nein, wie schrecklich. Wer tut so etwas?<<

>>Das wüssten wir auch gern. Aber wir werden es herausfinden. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?<<

>>Bitte, kommen Sie herein. Aber viel kann ich Ihnen nicht sagen.<<

>>Dann mach mal<<, sagte Konstantin. >>Ich sehe mich schon mal in der Wohnung um.<<

Entgegen dem alten Gemäuer war die Wohnung der Nachbarin sehr modern eingerichtet. Mit wenig teuren Möbeln, sodass eine leicht unterkühlte Atmosphäre herrschte.

>>Bitte nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten?<<

>>Nein, vielen Dank, nicht nötig. Frau Biberti, richtig? Ich habe den Namen am Klingelschild gelesen.<<

>>Ja, Marianne Biberti. Nicht mit der Schauspielerin verwandt. Und auch nicht mit dem Sänger der Comedian Harmonists.<<

>>Na, das macht ja nichts, hätte mein Mann jetzt gesagt. Entschuldigung. Was können Sie mir über Herrn Bauer berichten?<<

>>Nicht viel, wie gesagt. Er lebte sehr zurückgezogen seit dem Tod seiner Frau, Cordula. Ich glaube, wenn er die Arbeit im Musikgeschäft nicht gehabt hätte … Glauben Sie, er hat seinen Mörder gekannt?<<

>>Eben das wollen wir herausfinden. Hat Herr Bauer abends öfter mal Besuch bekommen von jungen Männern oder auch Frauen?<<

>>Sie meinen, ob er sich Stricher oder Huren in die Wohnung bestellt hat? Bestimmt nicht. Dafür war er gar nicht der Typ. In den ganzen Jahren ist er immer allein nach Hause gekommen. Und wenn mein Mann und ich ihn sonntags mal zum Kaffee eingeladen haben, hat er stets dankend abgelehnt. Offensichtlich hat ihm der Kontakt mit den Kunden völlig ausgereicht, sodass er privat seine Ruhe haben wollte.<<

>>Wissen Sie, ob es irgendwelche Angehörige gibt?<<

>>So viel ich weiß, nicht. Bis auf einen Neffen. Frau Bauer hatte nämlich eine Schwester. Aber beide haben sich hier schon seit Jahren nicht blicken lassen.<<

>>Sind Ihnen zufällig die Namen bekannt?<<

>>Er heißt Volker, glaube ich. Und die Mutter Gerlinde, wenn ich mich nicht irre. Aber die Nachnamen sind mir nicht bekannt.<<

>>Die müssten sich ja herausfinden lassen. Vielen Dank fürs Erste. Wenn sich noch weitere Fragen ergeben, melden wir uns noch mal.<<

Valerie verabschiedete sich und klopfte an die Tür der Nachbarwohnung. Konstantin öffnete grinsend.

>>Na, bist du mit dem neuesten Klatsch versorgt worden?<<

>>Mitnichten. Frau Biberti war sehr zurückhaltend. Herr Bauer war ihrer Meinung nach der typische Einzelgänger, der sehr zurückgezogen gelebt hat und nicht einmal ein Sexualleben hatte.<<

>>Da muss ich leider widersprechen. Die Sammlung von Porno DVDs ist eindeutig.<<

>>Was bleibt einem Mann, Anfang der Sechzig, schon anderes übrig? Nicht jeder ist ein Fan von Etablissements wie Café Keese. Prostituierte hat er jedenfalls scheinbar nicht kommen lassen. Weder weibliche noch männliche.<<

>>Manchen ist die Wohnung heilig. Vielleicht ist er zu welchen gegangen?<<

>>Darüber kann uns vielleicht sein Chef Auskunft geben. Lange genug kannten die beiden sich ja. Oder hast du irgendwelche einschlägigen Telefonnummern gefunden?<<

>>Nein, und auch keinen Laptop oder PC. So modern war Herr Bauer wohl nicht. Aber vielleicht findest du noch irgendwelches eindeutiges Material.<<

Valerie sah sich interessiert um. Die Wohnung war so ziemlich das Gegenteil von der der Nachbarin. Es gab viele kostbare, alte Möbelstücke wie einen Biedermeiersekretär, ein sogenanntes Loriot Sofa und eine Jugendstilanrichte. Tyra, Valeries leibliche Mutter, die in Stockholm ein Antiquitätengeschäft betrieb, hätte ihre helle Freude an den schönen Dingen gehabt, dachte Valerie.

>>Es ist doch ein Jammer<<, sagte sie. >>All diese herrlichen Sachen werden jetzt von irgendeiner Wohnungsauflösungsfirma verramscht. Wenn er doch wenigstens ein Testament gemacht hätte, um jemanden damit zu bedenken.<<

 

>>Vielleicht hat er ja. So weit bin ich noch nicht, mich durch den ganzen Papierkram zu wühlen.<<

>>Selbst wenn es eins gibt. Wen hätte er bedenken sollen? Seine Schwägerin und dessen Sohn sollen ihn schon jahrelang nicht besucht haben, meint Frau Biberti.<<

>>Also, wenn du mich fragst, ich würde sofort hier einziehen und das Meiste behalten.<<

>>Du bist ja ein Schöngeist und immer wieder für eine Überraschung gut. Klopf doch mal bei der Hausverwaltung an. Vielleicht kannst du die Wohnung möbliert mieten, falls du dir das leisten kannst.<<

>>In Steglitz wohne ich auch nicht gerade umsonst zur Miete.<<

>>Das ist mir klar, doch das hier dürfte ein anderes Kaliber sein. Es geht mich zwar nichts an, aber was willst du mit drei großen Zimmern plus zwei Kammern?<<

>>Etwas mehr Platz ist mir allemal lieber als zu wenig. Hier hätte ich auch noch eine umfangreiche Pornovideosammlung sozusagen frei Haus.<<

>>Das habe ich jetzt nicht gehört. Und deine sexuellen Vorlieben interessieren mich schlicht und einfach nicht.<<

>>Schade.<<

>>Also, Herr Kollege. Wenn wir Freunde bleiben wollen, unterlässt du künftig solche Anzüglichkeiten.<<

>>Sorry, du hast ja Recht. Wie lange musste Hinnerk eigentlich um dich kämpfen? Entschuldige, das war taktlos.<<

>>Ihr braucht mich nicht mit Glacéhandschuhen anfassen, das habe ich schon mehrmals geäußert. Wenn es mir allerdings zu privat wird, werde ich nicht antworten. Doch um auf deine Frage zurückzukommen: Jeder in der Abteilung weiß, dass Hinni sich fast die Zähne an mir ausgebissen und fast aufgegeben hätte.<<

>>Na, das lässt ja hoffen. Verzeihung, vergiss, was ich gesagt habe. Manchmal ist meine Klappe einfach vorne weg.<<

Am Abend bekam Valerie überraschend einen Anruf aus Stockholm.

>>Mama, wie schön, dass du anrufst.<<

>>Wie geht es dir, mein Mädchen? Fühlst du dich sehr allein in dem großen Haus?<<

>>Schon, es wird Zeit, dass du mal wieder kommst.<<

>>Herzlich gern, nur im Moment ist es etwas ungünstig. Nicht dass ich keine Zeit hätte, aber … Ach, was soll ich lang drum herumreden, ich habe mich verliebt. Und das in meinem Alter. Bengt Jonasson ist ein kultivierter, attraktiver Mann in den besten Jahren. Ein Wunder, dass er noch alleine lebt.<<

>>All das trifft doch auch auf dich zu. Die schwedischen Männer scheinen keine Augen im Kopf zu haben, sonst wärst du schon längst nicht mehr allein.<<

>>Das ist auch ein bisschen meine Schuld. Ich habe niemand an mich herangelassen.<<

>>Ich freue mich für dich. Zum Verlieben ist es nie zu spät. Liebe ist alterslos. Wo kommt er plötzlich her?<<

>>Er ist ein langjähriger Kunde, weißt du? Der schon länger um mich wirbt. In rührend zurückhaltender Weise, ohne jede Aufdringlichkeit.<<

>>Wunderbar, dann bring ihn doch einfach mit.<<

>>Meinst du wirklich? Ich weiß nicht. Das möchte ich dir eigentlich nicht zumuten.<<

>>Doch, doch. Dann kehrt hier wieder etwas Leben ein.<<

>>Was ist mit Herbert? Siehst du ihn öfter?<<

>>Vielleicht einmal im Monat. Seitdem er in der Seniorenresidenz wohnt, macht er sich ziemlich rar. Aber wir freuen uns beide an dem herrlich blühenden Kirschbaum bei mir im Garten. Stell dir vor, Karen hat sich sogar dafür bei mir bedankt. Im Traum natürlich. Nicht dass du denkst, ich wäre unter die Esoteriker gegangen.<<

>>Und wenn schon. So etwas kann in Zeiten der Trauer oder Einsamkeit eine große Hilfe sein. Bengt ist solchen Dingen gegenüber auch nicht abgeneigt. Er ist eben vielseitig interessiert und … einfach wunderbar.<<

>>Ich sehe, du stehst in hellen Flammen. Bin schon ganz gespannt auf das Wundertier. Was ist mit Tusse? Seid ihr euch wieder nähergekommen?<<

>>Nein, für meinen Sohn scheine ich nicht mehr zu existieren. Zum Glück habe ich jetzt dich. Wie geht es Ben?<<

>>Gut, danke. Du weißt ja, dass er erfolgreich seinen Bachelor of Arts gemacht hat. Danach war er etwas unsicher, in welchen Bereich er gehen sollte. Da kam ihm der Zufall zu Hilfe. Eine Stellenausschreibung mit der eine Fachkraft für die Abteilung Schauspiel gesucht wurde. Er ist also tatsächlich zur Bühne zurückgekehrt. Zwar nicht als Schauspieler, aber in einer pädagogischen Tätigkeit für Menschen mit Beeinträchtigung. Keine leichte Aufgabe, ich beneide ihn nicht darum, doch er scheint sehr zufrieden zu sein. Und da er nach wie vor im ehemaligen Osten Berlins wohnt, passt es ganz gut, dass sein Arbeitsplatz im Ortsteil Weißensee liegt. Somit braucht er nur zwanzig Minuten.<<

>>Wer hätte das gedacht, dass er der Bühne treu bleibt. Allerdings die Arbeit mit Behinderten stelle ich mir sehr schwer vor.<<

>>Genau das reizt ihn. Wie sich die gelegentlichen Dienstreisen in Form von Gastspielen in Abhängigkeit des Spielplans mit Betreuungsaufgaben auf seine Beziehung auswirkt, möchte ich lieber nicht hinterfragen.<<

>>Ich glaube, die hält einiges aus. Nicht umsonst gelten sie als Dauerverlobte. Ob es wohl irgendwann eine Hochzeit gibt?<<

>>Zwangsläufig, wenn sie ihre Adoptionspläne verwirklichen wollen.<<

>>Wenn das allein der Grund für die Heirat ist ...<<

>>Meine Rede. Aber dann muss ich mir wieder sagen lassen, dass er alt genug ist, um seine Entscheidungen zu treffen. Also, Mama, ich freue mich auf euch. Gib noch Bescheid, wann ihr ankommt.<<

>>Bestimmt. Und falls Bengt nicht will, komme ich eben allein.<<

>>Genau. Er weiß gar nicht, was ihm entgeht.<<

>>Noch hat er ja nicht abgesagt. Adjö, mein Mädchen. Lass es dir gutgehen, bis wir uns wiedersehen.<<

>>Ich werde mir die größte Mühe geben. Adjö, Mama.<<