Einführung in die philosophische Ethik

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Nun heißt Moores ›naturalistischer Fehlschluss‹ im englischen Original ›naturalistic fallacy‹. Und ›fallacy‹ bedeutet durchaus Fehlschluss, aber auch einfach Irrtum, Täuschung, Fehlannahme. Es ist daher eine naheliegende Vermutung, dass Moore eigentlich Letzteres meinte, eine angemessene Übersetzung seiner Konzeption also eher ›naturalistische Fehlannahme‹ als ›naturalistischer Fehlschluss‹ lauten sollte. Eine andere Erklärung seiner Wortwahl geht dahin, dass Moore vielleicht gar nicht das hier betrachtete Schlussmuster im Sinn hat, wenn er in der zitierten Passage von einem Fehlschluss spricht, sondern allein die Suche nach den natürlichen Eigenschaften Q, die allen guten Dingen zukommen, und die etwaigen Folgerungen, die aus den Ergebnissen einer solchen Suche gezogen werden. Wenn Philosophen nämlich meinten, derartige relevante Eigenschaften Q identifiziert zu haben, fielen sie zuweilen dem Fehlschluss anheim, sie hätten die wahre Definition von ›gut‹ gefunden. Eben diesen Irrtum könnte Moore als ›naturalistischen Fehlschluss‹ bezeichnen, d.h. nicht den falschen Schluss von ›A ist Q‹ auf ›A ist gut‹ über eine fehlerhafte Prämisse, sondern den falschen Schluss von einer entdeckten synthetischen Verbindung ›Q ist gut‹ auf eine angebliche analytische Identität ›gut bedeutet Q‹.

Ein naturalistischer Fehlschluss in Moores Sinne könnte in all den Beispielen begangen werden, die oben beim Sein-Sollen-Fehlschluss à la Hume aufgelistet wurden. Im Rahmen einer religiösen Moral könnte jemand behaupten: ›Gut ist per definitionem das, was Gott gebietet.‹ – statt: was Gott gebietet, ist gut, angesichts seines moralischen Status als höchster Herrscher oder wegen seiner größten Einsicht in moralischen Fragen. Der Rechtspositivist könnte meinen: ›Gerecht ist per definitionem das, was in den Gesetzen steht.‹ – statt: was in den Gesetzen steht, ist gerecht, als Ergebnis demokratischer Beschlüsse oder aufgrund der Verlässlichkeit gesetzgebender Organe. In der evolutionären Ethik würde die Annahme lauten: ›Moralisch relevant ist per definitionem das, was den Fortbestand der Gattung sichert oder befördert.‹ Der Hirnforscher müsste mit der Einlassung auftreten: ›Moralisch belangvoll sind per definitionem die Aktivitäten stammesgeschichtlich neuerer Hirnareale.‹ Diese Darstellungen mögen zunächst befremdlich anmuten. Aber ihr argumentativer Zweck wäre durchaus verständlich: Eine Definition wie ›gut bedeutet Q‹ geht mit einem stärkeren Anspruch völliger Selbstverständlichkeit einher als ein Prinzip wie ›Q ist gut‹. Über Definitionen braucht man in der Regel nicht zu diskutieren. Wenn es einem daher gelingt, seine oberste Prämisse in dieser Form zu präsentieren, so mag man damit gerade jene inhaltliche Diskussion vermeiden, in die man sich mit der Aufforderung zu ihrer Nennung eigentlich gedrängt sieht [MOORE, PE, § 14, 53]. Entsprechend listet Moore eine Reihe von Theorien auf, die seiner Ansicht nach mit ihren obersten Prämissen einen solchen naturalistischen Fehlschluss begehen. Prominentestes Beispiel ist John Stuart Mill mit seinem Beweis des Utilitarismus, der in Abschnitt 6.3 noch einmal genauer thematisiert wird [MOORE, PE, §§ 39–44, 108–120].

(3) Moore nennt einen einfachen Grund dafür, weshalb das moralische Prädikat ›gut‹ nicht über ein natürliches Prädikat Q definiert werden kann: Nach Moore ist ›gut‹ überhaupt nicht definierbar. Ihm zufolge ist es ein Grundbegriff, der seinerseits zur Definition anderer Begriffe benötigt wird, aber nicht mehr selbst über andere Begriffe definiert werden kann [MOORE, PE, § 10, 39f.]. Diesen Punkt versucht Moore insbesondere anhand des sogenannten ›Arguments der offenen Frage‹ (open question argument) plausibel zu machen: So kann man nach Moore bei jeder angebotenen Definition ›gut bedeutet Q‹ sinnvoll fragen, ob Q wirklich gut ist. Dies wäre nicht möglich, wenn ›gut‹ über Q definiert wäre [MOORE, PE, § 13, 46f., § 26, 79].

Dieses Argument klingt zunächst wenig beeindruckend: Man nehme an, irgendeine Definition des Typs ›gut bedeutet Q‹ sei vorgeschlagen worden. Nun stelle Moore seine offene Frage, ob Q wirklich gut sei. Hierauf liegt die Entgegnung nahe, dass eben dies doch gerade gesagt worden sei. Seine Frage enthalte somit keinerlei Begründung dafür, weshalb jene Definition nicht gelten sollte. Stattdessen beschränke sie sich darauf, den gemachten Vorschlag ohne jegliche Erläuterung in Zweifel zu ziehen. Tatsächlich verfehlt diese Entgegnung aber die Pointe von Moores Argument: Denn in der fraglichen Definition wurde keineswegs nur gesagt, dass Q gut sei. Vielmehr wurde behauptet, dass ›gut‹ Q bedeute, und das ist etwas ganz anderes. Entsprechend geht es bei Moores Argument der offenen Frage nicht darum, dass man nicht glauben mag oder nicht verstanden hat, dass jenes Q gut sein soll, das einem angeboten wurde. Vielmehr geht es darum, dass die Frage immer sinnvoll bleibt, ob Q wirklich gut ist, gleichgültig um welches Q es sich handelt. Und dies zeigt, dass ›gut‹ nicht über Q definiert sein kann.

Was immer zur Definition von ›gut‹ verwendet wird, wie sorgfältig ausgesucht dieses Q auch sein mag, die Frage bleibt sinnvoll, ob Q wirklich gut ist. Die Frage bleibt sogar dann sinnvoll, wenn man sie bejaht: Auch wenn man zustimmt, dass Q gut ist, wird die Frage keineswegs sinnlos, ob Q wirklich gut ist. Das zeigt aber, dass der Zusammenhang zwischen ›gut‹ und Q nicht definitorischer Art sein kann. Denn dann wäre die Frage, ob Q wirklich gut ist, in der Tat sinnlos: Es ist sinnlos zu fragen, ob unverheiratete Männer wirklich Junggesellen sind. Daran kann man nicht zweifeln, wenn man die verwendeten Wörter versteht, denn dann weiß man, dass das Wort ›Junggeselle‹ nichts anderes bedeutet als unverheirateter Mann.

Man kann aber zweifeln, ob Q wirklich gut ist, auch bei vollem Sprachverständnis und auch beim bestgewählten Q. Das belegt, dass die Definition ›gut bedeutet Q‹ nicht gültig ist: Man kann stets sinnvoll darüber debattieren, ob dieses Q wirklich gut ist. Man kann nachfragen, ob Q immer gut ist oder ob es Ausnahmen gibt, man kann überlegen, aus welchem Grund Q gut sein sollte oder was dagegen spricht. All das wäre nicht möglich, wenn ›gut‹ über Q definiert wäre: Dann wäre keine dieser Erwägungen sinnvoll. Dann müsste man sich mit dem Hinweis auf die Wortbedeutung von ›gut‹ zufriedengeben.

Wenn Moore recht hat, so zeigt dies: Das moralische Prädikat ›gut‹ ist nicht über ein natürliches Prädikat Q definierbar. Die benötigte Prämisse, um von dem Faktum ›A ist Q‹ auf die Norm ›A ist gut‹ zu schließen, kann nicht ein analytischer Satz sein der Art ›gut bedeutet Q‹. Es muss ein synthetischer Satz sein des Typs ›Q ist gut‹.

Anders formuliert: Die obersten Prämissen moralischer Schlüsse sind nicht Definitionen, sondern Prinzipien. Ihr Zweck ist nicht, den Begriff ›gut‹ durch den Begriff Q zu erläutern, sondern den Begriff ›gut‹ durch den Begriff Q zu füllen. Q ist nicht die Bedeutung von ›gut‹, sondern Q ist das Kriterium für ›gut‹.

Pro und contra Fehlschluss

(1) Die Konzeptionen eines Sein-Sollen-Fehlschlusses bzw. eines naturalistischen Fehlschlusses sind primär epistemologischer bzw. sprachanalytischer Art: Es geht bei ihnen vordringlich um Folgerungsmöglichkeiten bzw. Begriffsbedeutungen im moralischen Argumentieren und Sprechen. Dies lässt unbenommen, dass im Hintergrund jener epistemologischen bzw. sprachanalytischen Thesen gewisse ontologische Auffassungen stehen mögen, die in Humes bzw. Moores Texten mehr oder weniger deutlich spürbar sind: Man kann Sein und Sollen als zwei grundsätzlich verschiedene ontologische Bereiche ansehen und deshalb keine unmittelbaren Schlüsse zwischen ihnen zulassen, man kann moralische und natürliche Eigenschaften als ontologisch fundamental unterschiedliche Qualitäten betrachten und deshalb jede definitorische Identität zwischen ihnen verneinen. Solch eine Trennung muss nicht darauf hinauslaufen, das Moralische allein im Beobachter zu vermuten, wie es Hume tut, und auch nicht darauf, eine besondere Sphäre moralischer Werte zu postulieren, die völlig unabhängig vom Sein der Dinge wäre, wie es sich bei Scheler oder Hartmann findet. Man kann das Moralische durchaus, wie etwa Moore, als eine Eigenschaft realer äußerer Gegenstände und Ereignisse betrachten, dabei aber darauf bestehen, dass es eine besondere Eigenschaft ist, die sich von natürlichen Qualitäten strikt unterscheidet und sich deshalb weder unmittelbar aus ihnen herleiten noch begrifflich auf sie reduzieren lässt.

(2) Gerade ontologische Perspektiven auf das Verhältnis von Sein und Sollen führen gelegentlich aber auch zu Kritik an den Konzeptionen des Sein-Sollen-Fehlschlusses bzw. des naturalistischen Fehlschlusses. Einige Philosophen gehen von einer tiefen Einheit von Sein und Sollen, von Fakten und Normen aus, indem sie etwa der menschlichen, der belebten oder auch der gesamten physischen Natur eine inhärente Werthaftigkeit attestieren, aufgrund welcher sie unmittelbarer Ursprung moralischer Normen sei. Insbesondere in der ökologischen Ethik finden sich Positionen, die im natürlichen Sein einen sinnhaften Zusammenhang erkennen wollen, eine werthafte Ordnung, welche als direkte Quelle normativer Vorgaben fungiere. Entsprechend gebe es sehr wohl unmittelbare epistemologische Beziehungen zwischen Sein und Sollen, ohne dass man auf höhere Prämissen rein moralischer Art zurückgreifen müsse (deren normative Geltung wieder unabhängig vom bloß naturalen Sein wäre), oder auch sprachanalytische begriffliche Identitäten zwischen Fakten und Normen, indem etwa ein Wort wie ›natürlich‹ in seiner Ursprungsbedeutung gleichermaßen beschreibend wie auch wertend sei (und damit durchaus zur Definition von ›gut‹ dienen könne).

Hans Jonas (1903–1993) etwa behauptet, dass dem Natursein insgesamt die Fähigkeit zukomme, Zwecke auszubilden. Diese natürliche Zweckhaftigkeit sei ein ontologischer Charakter, der eine faktische Seinsbeschaffenheit wie auch eine normative Sollensforderung ungetrennt einschließe [JONAS 1979/92, 153–155]. Damit sei die strikte Separation von Fakten und Normen aufgehoben. Der faktischen Verfasstheit der Natur seien direkt normative Orientierungen für das Handeln zu entnehmen, entgegen dem hergebrachten Gedanken eines Sein-Sollen-Fehlschlusses [JONAS 1979/92, 92–94].

 

Positionen dieser Art sind gegenwärtig in der Minderheit. Zum einen gelten ihre ontologischen Grundannahmen als überaus spekulativ und kaum belegbar. Zum anderen erscheinen ihre genaueren ethischen Implikationen als problematisch. Immerhin findet sich im natürlichen Sein eine Reihe von Strukturen und Prozessen, die alles andere als moralisch vorbildlich anmuten. Diese negativen Erscheinungen als solche zu markieren und von den positiven Komponenten abzutrennen, setzt eine unabhängige Perspektive voraus, die sich in epistemologischer wie auch in sprachanalytischer Hinsicht von naturalen Vorgaben freizumachen hätte. Dies ist schwer zu erreichen, wenn eine ontologische Einheit von Sein und Sollen angenommen wird.

Bereits im ökologischen Kontext kann eine unmittelbare Orientierung am natürlichen Sein fragwürdig werden, da zu jenem natürlichen Sein nicht nur stabile Systeme oder biologische Vielfalt gehören, sondern auch katastrophale Vernichtungen und gegenseitige Ausrottung. Noch eindrücklicher wird dieses Problem in sozialen Zusammenhängen, da natürliches Sozialverhalten nicht allein Fürsorge zwischen Familienangehörigen oder Unterstützung in Kleingruppen umfasst, sondern ebenso Ausschluss von Kranken,Aggressivität gegenüber Fremden,Vergewaltigung und Tötung. Vor diesem Hintergrund darf nicht überraschen, dass auch sozialdarwinistische, rassistische oder sexistische Positionen sich oftmals naturalistischer Argumentationen bedienen: Nicht selten stellen sie das Überleben des Stärkeren, die Wahrung von Gruppengrenzen oder die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern als natürliche Ordnungen dar, die entsprechend als normative Vorgaben für das menschliche Zusammenleben anzuerkennen seien. Der bloße Hinweis, dass die faktischen Annahmen hierbei gelegentlich zweifelhaft sein mögen, wird kaum genügen, um diese Positionen zurückzuweisen: Letztlich bedarf es wohl der Einsicht, dass sich Moral aus anderen Quellen als der bloßen Natur speisen muss, um das Vorbildhafte in ihr vom Unvorbildhaften argumentativ zu entkoppeln und begrifflich zu unterscheiden.

(3) Eine ganz andere Motivation für eine Aufweichung der Konzeptionen von Sein-Sollen-Fehlschluss bzw. naturalistischem Fehlschluss kann daraus entstehen, dass die Unterscheidungen, die darin geltend gemacht werden, zuweilen anderen Positionen Vorschub leisten, welche man möglicherweise vermeiden will. So deutete sich bereits bei Hume an, dass er nicht allein Seinsaussagen und Sollensaussagen in epistemologischer Hinsicht streng voneinander unterscheidet. Vielmehr hält er darüber hinaus allein das Sein für einen Gegenstand vernünftiger Überlegung, das Sollen hingegen lediglich für einen Gegenstand des moralischen Sinnes. Möglicherweise betrachtet er sogar allein das Sein für ein Objekt wahrheitsfähiger Aussagen, das Sollen demgegenüber lediglich für einen Ausdruck subjektiver Gefühlslagen. Die hiermit artikulierten epistemologischen Positionen, Sensualismus bzw. Nonkognitivismus, werden von vielen Autoren nicht geteilt. Eine Möglichkeit, sie zu vermeiden, liegt aber darin, die kategorische Trennung von Sein und Sollen zu unterlaufen. Immerhin wird das Sein in aller Regel als Objekt vernünftiger Betrachtungen und als Gegenstand wahrer Behauptungen anerkannt. Wenn nun das Sollen aus dem Sein unmittelbar ableitbar bzw. definitorisch bedeutungsgleich mit ihm wäre, müssten sich diese Eigenschaften des Seins auf das Sollen übertragen.

Dieser Gedanke steht hinter einem berühmten Aufsatz von John Searle (*1932), in dem er zu zeigen versucht, wie sich angeblich doch aus einem reinen Seinssatz ein Sollenssatz gewinnen lässt. Die Herleitung erfolgt in insgesamt fünf Schritten, die in der Fragesektion zum Ende dieses Kapitels aufgeführt sind. Sie beginnt mit dem Faktum, dass jemand einer anderen Person ein Versprechen gibt, und endet mit der Norm, dass er dieses Versprechen gegenüber jener Person auch einzulösen habe [SEARLE 1964, 44]. Searle erklärt diesen Übergang damit, dass in den Vorgang nicht nur bestimmte ›nackte Tatsachen‹ (brute facts) involviert seien, etwa dass jemand gegenüber einer anderen Person bestimmte Worte äußert. Vielmehr lägen auch gewisse soziale Rahmenbedingungen vor, insbesondere Gepflogenheiten bezüglich der Abgabe von Versprechen und der Einklagbarkeit von deren Einlösung. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen führe die ›nackte Tatsache‹, dass jemand bestimmte Wörter äußert, zu der ›institutionellen Tatsache‹ (institutional fact), dass er zu der versprochenen Handlung auch verpflichtet sei [SEARLE 1964, 54–56].

Searles Argument wird nur selten als stimmig anerkannt. Die Einwände belaufen sich im Wesentlichen darauf, dass die Schlussfolge vor einem Dilemma steht: Entweder der Schlusssatz benennt in der Tat nur eine ›institutionelle Tatsache‹, nämlich dass die fragliche Person innerhalb gegebener Institutionen die beschriebene Verpflichtung trägt, ohne jedoch Stellung zu beziehen, ob diese Institutionen überhaupt moralisch adäquat sind und jene Verpflichtung damit wirklich als bindend angesehen werden sollte. Dann ist indessen auch dieser Schlusssatz kein echter Sollenssatz, sondern immer noch ein Seinssatz, der allein über ein Faktum berichtet, nämlich über bestehende Erwartungen innerhalb bestimmter Gesellschaften. Oder dieser Schlusssatz ist eine normative Aussage, nämlich eine moralische Forderung, dass die fragliche Person die versprochene Handlung auch tatsächlich ausführen sollte. Dann wird aber innerhalb der Schlusskette eine höhere normative Prämisse benötigt, der zufolge die vorliegenden Gepflogenheiten gut und gegebene Versprechen folglich einzuhalten sind.

Die meisten Autoren reagieren auf die Herausforderungen von Sensualismus oder Nonkognitivismus nicht, indem sie wie Searle versuchen, die Kluft zwischen Sein und Sollen, zwischen Fakten und Normen aufzuheben. Stattdessen betonen sie, dass auch das Sollen, bei aller Getrenntheit vom Sein, Sache der Vernunft sei – gewiss nicht der theoretischen Vernunft, sondern der praktischen Vernunft, aber nichtsdestoweniger eine Angelegenheit rationalen Überlegens und Argumentierens. Vor allem beharren sie darauf, dass auch Normen, bei aller Unabhängigkeit von Fakten, wahrheitsfähig seien – sicherlich besonderer Rechtfertigungen bedürftig, abseits empirischer oder logischer Begründungen, aber dennoch Träger objektiver Richtigkeit oder Falschheit. Mit diesen Themen befassen sich die Abschnitte 3.2 und 3.4.

3.2 Kognitivismus und Nonkognitivismus

Die Debatte um Kognitivismus und Nonkognitivismus hat nicht nur inhaltliche Bezüge zum Problemkreis des Sein-Sollen-Fehlschlusses bzw. des naturalistischen Fehlschlusses, insofern das Verhältnis, das man zwischen Sein und Sollen, zwischen Fakten und Normen annimmt, Auswirkungen darauf haben kann, wie man den Wahrheitsbezug des Moralischen einschätzt. Sie weist zudem eine strukturelle Parallele auf, da wiederum eine epistemologische und eine sprachanalytische Ebene zu unterscheiden sind. Einmal mehr haben diese beiden Ebenen durchaus miteinander zu tun. Insbesondere sind epistemologische Kognitivisten oftmals auch sprachanalytische Kognitivisten, epistemologische Nonkognitivisten häufig auch sprachanalytische Nonkognitivisten. Dennoch handelt es sich um unterschiedliche Dimensionen mit je eigenen Standpunkten. Nicht zuletzt gibt es Fälle, in denen die entsprechenden Positionen nicht miteinander übereinkommen, also epistemologische Kognitivisten sich als sprachanalytische Nonkognitivisten entpuppen, epistemologische Nonkognitivisten sich als sprachanalytische Kognitivisten herausstellen.

Die Möglichkeit moralischer Erkenntnis

Eine grundsätzliche Frage innerhalb der Metaethik lautet, ob man so etwas wie moralische Erkenntnis annehmen darf oder nicht. Hiermit ist ein primär epistemologischer Fragenkreis angesprochen: Stehen moralische Überzeugungen überhaupt unter einer objektiven Differenz von wahr oder falsch? Kann es moralische Einsichten mit objektiver Gültigkeit geben?

(1) Der epistemologische Kognitivismus bejaht diese Fragen: Ihm zufolge ist in moralischen Angelegenheiten, ähnlich wie in faktischen Zusammenhängen, objektive Erkenntnis möglich. Gewiss sind nicht alle moralischen Aussagen richtig, und vielleicht sind moralische Überzeugungen mit größeren Unsicherheiten behaftet als faktische Einsichten. Aber zumindest lässt sich sinnvoll von moralischer Erkenntnis sprechen, wie schwer sie auch zu erlangen sein mag. Dies hat zur Voraussetzung, dass es im Moralischen, ähnlich wie im Faktischen, überhaupt objektive Wahrheit gibt. Entsprechend läuft dieser epistemologische Kognitivismus notwendig auf einen moralischen Objektivismus hinaus: Es gibt eine objektive moralische Wahrheit jenseits willkürlicher menschlicher Setzungen. Nur unter dieser Voraussetzung ist objektive Erkenntnis im moralischen Bereich grundsätzlich denkbar.

Offensichtlich ist der epistemologische Kognitivismus Bedingung dafür, dass normative Ethik, d.h. die philosophische Suche nach moralischer Erkenntnis, eine sinnvolle Beschäftigung sein kann. Dabei lässt er sich noch einmal in zwei Hauptvarianten untergliedern, die ihrerseits Stellung dazu nehmen, wie moralische Wahrheit genauer zu denken ist.

Gemäß dem Realismus werden moralische Normen, und damit auch die moralischen Wahrheiten, die in ihnen zum Ausdruck kommen, in ihren wesentlichen Teilen entdeckt. Sie werden als objektive Bestände vorgefunden, ähnlich wie faktische Zusammenhänge, die durch Vernuft oder Sinne erfasst werden. Solch ein Realismus muss nicht davon ausgehen, dass moralische Entitäten eigentümliche Gegenstände in einem besonderen Seinsbereich wären. Er behauptet allein, dass moralische Einsichten sich menschlichen Akteuren als ein unabhängig Gültiges darstellen. Moral hat nach realistischer Auffassung den Charakter des Gefundenen. Moralische Wahrheit besteht unabhängig von menschlicher Setzung und ist durch den Menschen lediglich mittels Nachdenken oder Beobachtung zu erschließen bzw. wahrzunehmen. Diese Position wird in den meisten Ethiken vertreten.

Dem Konstruktivismus zufolge werden moralische Normen, womöglich anders als faktische Zusammenhänge, nicht als ein bereits Vorliegendes entdeckt, sondern zu größeren Teilen entworfen. Dieser Entwurf hat allerdings nach objektiven Regeln zu erfolgen, die gewährleisten, dass die entstehenden Normen nicht beliebig sind, sondern wiederum die verbindliche Gültigkeit von moralischen Wahrheiten beanspruchen können. Beispielsweise müssen sie das tatsächliche Ergebnis eines gleichberechtigten, zwangsfreien Diskurses sein, wie in der Diskurstheorie. Oder sie müssen dem hypothetischen Resultat eines freien, fairen Vertragsschlusses entsprechen, wie im Kontraktualismus. In solchen konstruktivistischen Ethiken erscheint Moral in gewissem Umfang als etwas Gestaltetes. Gleichwohl haben die gewonnenen Normen objektive Gültigkeit. Dies liegt letztlich daran, dass die Verbindlichkeit der jeweiligen Konstruktionsregeln, etwa der Diskursprinzipien oder der Vertragsszenarien, aus denen die fraglichen Normen entspringen sollen, ihrerseits als objektive Wahrheit angesehen wird.

(2) Der epistemologische Nonkognitivismus bezieht eine gegenteilige Position: Nach seiner Auffassung gibt es im moralischen Bereich, anders als vielleicht in faktischen Fragen, keine objektive Erkenntnis. Moralische Aussagen sind nicht nur gelegentlich unrichtig, analog zu faktischen Irrtümern.Vielmehr sind sie grundsätzlich unberechtigt, wenn sie mit einem Anspruch auf objektive Gültigkeit vorgetragen werden. Im Hintergrund dieser Einschätzung steht in aller Regel die Auffassung, dass eine objektive Wahrheit im Moralischen überhaupt nicht existiere. Somit geht der epistemologische Nonkognitivismus üblicherweise mit einem moralischen Skeptizismus einher: Es gibt keine objektive moralische Wahrheit. Aus diesem Grund können moralische Aussagen niemals objektive Geltung beanspruchen.

Offenbar hätte der epistemologische Nonkognitivismus, mit seiner ausdrücklichen Leugnung moralischer Erkenntnis, zur Folge, dass normative Ethik keine ernsthafte Wissenschaft darstellen kann. Dabei tritt er wiederum in zwei Hauptvarianten auf, die genauer Stellung dazu beziehen, wie moralische Normen zu interpretieren sind.

 

Der Subjektivismus sieht in moralischen Normen allein die persönlichen Einstellungen von Individuen am Werk. Statt eine moralische Wahrheit zu transportieren, gehen sie lediglich auf Präferenzen Einzelner zurück und artikulieren deren private Geschmacksurteile bezüglich menschlichen Verhaltens.

Der Relativismus erkennt demgegenüber in moralischen Normen allein die kulturellen Gepflogenheiten von Kollektiven. Damit bringt sich in ihnen wiederum keine objektive Gültigkeit zum Ausdruck, sondern lediglich der Inhalt von öffentlichen Erwartungen und überlieferten Bräuchen in Gemeinschaften.

Kognitivismus und Nonkognitivismus in epistemologischer Bedeutung

Kognitivismus: Es gibt moralische Erkenntnis. Notwendige Voraussetzung: Es gibt objektive moralische Wahrheit (Objektivismus).

a) Realismus: Moralische Normen werden als objektive Bestände entdeckt.

b) Konstruktivismus: Moralische Normen werden nach objektiven Regeln entworfen.

Nonkognitivismus: Es gibt keine moralische Erkenntnis.

Üblicher Hintergrund: Es gibt keine objektive moralische Wahrheit (Skeptizismus).

a) Subjektivismus: Moralische Normen geben allein individuelle Einstellungen wieder.

b) Relativismus: Moralische Normen geben allein kollektive Gepflogenheiten wieder.

(3) Die meisten Ethiker sind epistemologische Kognitivisten. Dies trifft insbesondere für jene Autoren zu, die innerhalb der normativen Ethik arbeiten. Wie oben dargestellt wurde, ist die kognitivistische Auffassung, dass es moralische Erkenntnis gibt, unabdingbar für eine normative Ethik, welche moralische Normen begründen will. Die zentralen Ethikströmungen, die sich auf Aristoteles, Kant oder Mill berufen, kommen somit, trotz aller Differenzen in den Einzelfragen, in jener kognitivistischen Grundüberzeugung überein.

Die Einteilung der verschiedenen Standpunkte im Umfeld von epistemologischem Kognitivismus und Nonkognitivismus ist leider nicht einheitlich. Daher weichen Auflistungen zu diesem Thema zumeist mehr oder weniger stark voneinander ab. Dies hat teilweise systematische Gründe, insofern manche Zuordnungen nur tendenzieller Art sind und keine zwingende Identifikation zulassen. Es hat teilweise historische Gründe, da die einzelnen Positionen in der philosophischen Entwicklung unterschiedlich prominent vertreten worden sind und daher in einschlägigen Übersichten unterschiedlich explizit berücksichtigt werden.

Bereits erwähnt wurde, dass der Kognitivismus notwendig mit dem Objektivismus verbunden ist: Wenn es moralische Erkenntnis geben soll, muss es auch eine objektive moralische Wahrheit geben. Ähnlich tritt der Nonkognitivismus fast immer als Skeptizismus auf: Der Grund dafür, weshalb es keine moralische Erkenntnis geben könne, wird zumeist darin gesehen, dass es überhaupt keine objektive moralische Wahrheit gebe. Entsprechend werden Kognitivismus und Objektivismus sowie Nonkognitivismus und Skeptizismus häufig miteinander identifiziert. Eine strikte Identität liegt indessen nicht vor: Grundsätzlich sind auch Nonkognitivismus und Objektivismus miteinander vereinbar. Jemand könnte die Existenz einer objektiven Wahrheit im Moralischen zugestehen (Objektivismus), aber den Menschen keinerlei Erkenntnis dieser moralischen Wahrheit zutrauen (Nonkognitivismus). Die Alternativen von Realismus und Konstruktivismus nähmen dann quasi virtuellen Charakter an, indem die zugestandene objektive Moral zwar grundsätzlich entdeckt bzw. entworfen werden müsste, dies aber angeblich niemandem gelänge. Die Alternativen von Subjektivismus und Relativismus beschrieben demgegenüber die menschliche Wirklichkeit, insofern die tatsächlich vertretenen moralischen Normen allein individuelle Einstellungen bzw. kollektive Gepflogenheiten darstellten.

Beim Kognitivismus bzw. Objektivismus wird zuweilen die Alternative des Konstruktivismus übersehen (die in der Tat seltener ist). Oder dieser Konstruktivismus wird sogar als eine Gestalt des Skeptizismus eingestuft (weil in seinen moralischen Entwürfen der objektive Bezug als zu schwach bzw. als gänzlich fehlend eingeschätzt wird). Die Folge ist, dass der Objektivismus in diesem Fall identisch mit dem Realismus wird. In der Tat werden die Begriffe ›Objektivismus‹ und ›Realismus‹ oftmals synonym verwendet. Beim Nonkognitivismus bzw. Skeptizismus wird mitunter nicht zwischen der individuellen und der kollektiven Variante unterschieden. Damit können beide untergeordneten Begriffe zur Benennung der Gesamtposition herangezogen werden. Entweder wird der Skeptizismus umfassend als ›Subjektivismus‹ bezeichnet (was insofern passend erscheint, als hierdurch Objektivismus und Subjektivismus Gegenbegriffe auf gleicher Ebene werden). Oder der Skeptizismus wird insgesamt als ›Relativismus‹ tituliert (wobei die Relativität sich nun sowohl auf Individuen als auch auf Kollektive beziehen kann).

In der anglo-amerikanischen Tradition werden häufig ›Naturalismus‹ und ›Intuitionismus‹ als erschöpfende Varianten des Objektivismus aufgeführt. Diese Aufgliederung geht auf George Edward Moore zurück: Als ›Naturalismus‹ bezeichnet er Positionen, die entgegen seiner Theorie des naturalistischen Fehlschlusses moralische Eigenschaften auf natürliche Eigenschaften reduzieren wollen (vgl. Abschnitt 3.1). Der ›Intuitionismus‹ benennt demgegenüber die nach Moores Einschätzung einzige Alternative, der zufolge moralische Eigenschaften allein einer intuitiven Erfassung zugänglich sind (vgl. Abschnitt 3.4). Diese Einteilung dürfte indessen bei Weitem nicht vollständig sein: Viele Ethiker würden zustimmen, dass moralische Qualitäten nicht auf natürliche Qualitäten zurückführbar sind, aber keineswegs einräumen, dass sie durch ein besonderes Vermögen der intuitiven Erkenntnis zu erfassen wären. Somit deckt die Einteilung wohl nur einen Ausschnitt des Objektivismus, genauer des Realismus, ab. Viele Objektivisten, nicht zuletzt Konstruktivisten, sind weder Naturalisten noch Intuitionisten.

Die Begriffe ›Subjektivismus‹ und ›Objektivismus‹ tauchen gelegentlich auch außerhalb der hier geführten metaethischen Diskussion auf, um stattdessen bestimmte Typen normativer Ethiken zu bezeichnen. Dabei nehmen ›subjektivistische‹ Ethiken in ihren Normvorschlägen auf die individuellen Interessen oder Wünsche der betroffenen Personen Bezug (wie etwa der Utilitarismus, vgl. Kapitel 6). Demgegenüber formulieren ›objektivistische‹ Ethiken ihre Moralgrundsätze unabhängig von den persönlichen Glücksempfindungen und Präferenzlagen der betroffenen Menschen (wie etwa der Kantianismus, vgl. Kapitel 5). Diese Verwendungsweisen von ›Subjektivismus‹ und ›Objektivismus‹ sind allerdings selten.

Schließlich gibt es für Kognitivismus und Nonkognitivismus neben der hier besprochenen epistemologischen Formulierung auch eine sprachanalytische Fassung. Diese weist zwar gewisse Bezüge zu der bisher erörterten Unterscheidung auf, bewegt sich aber auf einer anderen Ebene und ist auch in ihrem Inhalt keineswegs deckungsgleich.

Der Sinn moralischer Aussagen

Eine zentrale Debatte innerhalb der Metaethik befasst sich damit, wie moralische Aussagen korrekt zu deuten sind. Hiermit ist eine dezidiert sprachanalytische Diskussion eröffnet: Wie ist eine moralische Aussage wie ›A ist gut‹ oder auch ›Q ist gut‹ überhaupt zu verstehen? Was für eine Art von Sprechakt wird mit ihr vollzogen?

(1) Der sprachanalytische Kognitivismus interpretiert diese Aussage genauso wie andere Sätze mit analoger Grammatik, etwa ›A ist gelb‹: ›A ist gut‹ ist eine Behauptung, eine Feststellung, eine Proposition. Zur Not kann dies explizit gemacht werden durch die Umschreibung: ›Ich behaupte hiermit, dass A gut ist.‹ Der Einschub ›hiermit‹ hat dabei verdeutlichende Funktion: Der Satz ›Ich behaupte, dass A gut ist‹ könnte sich auf eine andere Gelegenheit beziehen, bei welcher der Sprecher die fragliche Behauptung über A gemacht hat. Beispielsweise könnte der Sprecher damit auf ein Buch verweisen, in dem er über A geschrieben und es als gut eingeschätzt hat, ohne dass er mit diesem Verweis jene Behauptung wiederholen oder bekräftigen wollte. Dann wäre der Satz keine Behauptung über A, sondern allein eine Feststellung, an anderer Stelle eine Behauptung über A gemacht zu haben. ›Ich behaupte hiermit, dass A gut ist‹ soll klarstellen, dass die Aussage selbst eine Behauptung über A darstellt: Mit dem Satz wird ein Sachverhalt bezüglich A konstatiert, nämlich dass A gut ist. Insbesondere wird ein Wahrheitsanspruch erhoben, nämlich dass jener Sachverhalt in der Tat besteht. In diesem Sinne ist die Aussage ›kognitiv‹, d.h. sie steht unter der Differenz von wahr oder falsch. Die Aussage ›A ist gut‹ gilt somit im Kognitivismus als Behauptung, und zwar genauer als Behauptung über den Charakter von A. Sicherlich ist es eine besondere Art von Behauptung: Es ist keine Tatsachenbehauptung, dass A ein bestimmtes natürliches Prädikat zukomme, sondern eine Wertbehauptung, dass A gewisse moralische Eigenschaften aufweise. Nichtsdestoweniger ist es eine Behauptung, nämlich dass dies der Fall sei. Insbesondere kann auf diese Behauptung sinnvoll entgegnet werden: ›Stimmt nicht‹, im Sinne von: ›Du irrst dich, in Wahrheit ist A gar nicht gut.‹ Inhaltlich mag diese Entgegnung fehlerhaft sein. Sprachlich ist sie in jedem Fall adäquat.