Einführung in die philosophische Ethik

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Ethik ist eine akademische Fachrichtung, die nicht zuletzt in der Philosophie beheimatet ist. ›Philosophische Ethik‹ und ›Moralphilosophie‹ sind daher äquivalente Begriffe. Ethik wird allerdings auch in anderen Fachbereichen betrieben, etwa als Moralpsychologie oder als Moralsoziologie. Auch in der Theologie ist sie zu finden, wobei sich ›Moraltheologie‹ genauer mit der Moralität des individuellen Handelns, ›Sozialethik‹ hingegen mit der Moralität kollektiver Institutionen befasst.

(1) Vor dem Hintergrund dieser Definition ist eine Pluralverwendung von ›Ethik‹, anders als von ›Moral‹, auf den ersten Blick nicht naheliegend: Als Benennung eines Wissenschaftsgebiets scheint Ethik nicht gut in der Mehrzahl stehen zu können, ebenso wenig wie etwa ›Physik‹ oder ›Biologie‹.

Wenn man allerdings an die unterschiedlichen Fachbereiche denkt, in denen Ethik betrieben wird, und an die abweichenden Wissenschaftstraditionen, die hierbei zur Geltung kommen, kann eine solche Pluralverwendung durchaus sinnvoll werden: Philosophische Ethik, psychologische Ethik, soziologische Ethik oder theologische Ethik sind in gewissem Sinne verschiedene ›Ethiken‹. Analoges gilt für Physik oder Biologie: Antike Physik oder Biologie waren in ihren Ansätzen und Methoden ganz anders geartet als die modernen Versionen dieser Wissenschaften, so dass sich auch hier von unterschiedlichen ›Physiken‹ bzw. ›Biologien‹ sprechen lässt.

Zudem kann jede umrissene Strömung, jede konkrete Ausarbeitung innerhalb der Ethik als eine bestimmte Ethik gelten, so dass der Plural auch von hier aus anwendbar wird: Aristoteles’ Ethik, Kants Ethik oder Mills Ethik, ebenso wie die größeren Formationen Tugendethik, deontologische Ethik oder teleologische Ethik, lassen sich allesamt sinnvoll als verschiedenen ›Ethiken‹ bezeichnen. Entsprechendes gilt in Physik oder Biologie: Newtons Physik und Einsteins Physik sind unterschiedliche ›Physiken‹, taxonomische Biologie und synthetische Biologie sind unterschiedliche ›Biologien‹.

(2) Der Adjektivgebrauch, d.h. die Verwendung des Wortes ›ethisch‹, ist durch die obige Definition stark eingegrenzt. Insbesondere zeigt sich, dass die häufig zu hörenden Wendungen ›ethisches Verhalten‹ bzw. ›unethisches Verhalten‹ unpassend sind.

Das Wort ›ethisch‹ kann zunächst heißen ›in den Gegenstandsbereich der Ethik fallend‹. In diesem Sinne gibt es z.B. ethische Phänomene, ethische Probleme, ethische Fragen etc. Der Gegensatz hierzu wäre mit dem Wort ›nichtethisch‹ zu bezeichnen. Dabei ginge es um Themenkomplexe, mit denen die Ethik eben nicht befasst ist und denen sich stattdessen andere Wissenschaften zuwenden. Beispielsweise wäre es sinnvoll zu sagen: ›Ob moralische Urteile sich primär auf Charaktereigenschaften beziehen, ist eine ethische Frage. Ob schwere Körper immer der Gravitationsgleichung gehorchen, ist eine nichtethische Frage (nämlich eine physikalische).‹

Das Wort ›ethisch‹ kann auch bedeuten ›dem Wissensgebiet Ethik zugehörig‹. Entsprechend ist die Rede z.B. von ethischen Theorien, ethischen Methoden, ethischen Begriffen etc. Den Gegensatz würde man wieder durch das Wort ›nichtethisch‹ ausdrücken. Hierbei handelte es sich um Kenntnisformen, die nicht der Ethik zugehören, sondern anderen Fachdisziplinen. So könnte man etwa sagen: ›Tugendethik ist eine ethische Theorie. Evolutionstheorie ist eine nichtethische Theorie (nämlich eine biologische).‹

Wichtig ist, dass ›ethisch‹ in beiden Fällen wertfrei verwendet wird: Es geht um die Zugehörigkeit zu einem Themenkreis, um die Einordnung in ein Kenntnisfeld (analog zu den Wörtern ›physikalisch‹ oder ›biologisch‹). Diese Wertfreiheit schlägt sich darin nieder, dass der Gegensatz jeweils durch das Wort ›nichtethisch‹ statt durch das Wort ›unethisch‹ ausgedrückt wird: Für das Wort ›unethisch‹, anders als für das Wort ›unmoralisch‹, gibt es überhaupt keine verständliche Anwendung (ebenso wenig wie für die Wörter ›unphysikalisch‹ oder ›unbiologisch‹).

Entsprechend ist ›ethisches Verhalten‹ im Deutschen kein guter Wortgebrauch: Gemeint ist offenbar ein Verhalten, welches einem Normensystem entspricht, das der Sprechende selbst befürwortet. Dafür ist der korrekte Ausdruck aber ›moralisches Verhalten‹. Aus dem gleichen Grund ist ›unethisches Verhalten‹ kein guter Wortgebrauch: Gemeint ist ersichtlich ein Verhalten, welches das Normensystem verletzt, von dem der Sprecher ausgeht. Hierfür ist die richtige Bezeichnung jedoch ›unmoralisches Verhalten‹.

Moral ist ein Normensystem, Ethik ist dessen Reflexion. Moral ist der Gegenstand, Ethik ist die Wissenschaft. ›Moralisch‹ bezieht sich auf die Normebene (der betrachteten Person oder der sprechenden Person), ›ethisch‹ kennzeichnet die Reflexionsebene (ihre Objekte oder ihre Konzepte). ›Moralisch‹ heißt so viel wie ›sittlich‹ (aus jemandes Normen entspringend oder mit den eigenen Normen übereinstimmend), ›ethisch‹ heißt so viel wie ›sittenwissenschaftlich‹ (in jener Reflexion thematisch oder zu jener Reflexion gehörig). Moralische Ansichten sind ethische Themen. Moralische Auffassungen werden mit ethischen Instrumentarien bearbeitet. Damit lassen sich beide Adjektive zwar mitunter auf dieselben Substantive anwenden. Es verbleibt jedoch stets eine Differenz in der Bedeutung, die unterschiedlich ausgeprägt sein kann.

Eine sehr große Differenz findet sich im folgenden Fall: Es ist ein ethisches Problem, ob Tötung unter allen Umständen verboten ist. Entsprechend werden ethische (d.h. sittenwissenschaftliche) Ansätze herangezogen und ethische (d.h. sittenwissenschaftliche) Klassifikationen entwickelt, um diese Frage zu erörtern. Jemand hat ein moralisches Problem, wenn er einen Menschen umgebracht hat. Er wird möglicherweise subjektiv von moralischen (d.h. sittlichen) Schuldgefühlen geplagt, er hat womöglich objektiv eine unmoralische (d.h. unsittliche) Handlung begangen.

Dieser große Unterschied zwischen ›ethisch‹ und ›moralisch‹, trotz ihrer gemeinsamen Anwendung auf dasselbe Substantiv ›Problem‹, ist parallel zu den Unterschieden zwischen ›psychologisch‹ und ›psychisch‹ oder zwischen ›soziologisch‹ und ›sozial‹: Es ist ein psychologisches Problem, ob Prüfungsangst mit dem Geschlecht korreliert, es ist ein soziologisches Problem, inwieweit Außenseiterstatus mit der Hautfarbe zusammenhängt. Entsprechend werden psychologische (d.h. ›seelenwissenschaftliche‹) Projekte betrieben und soziologische (d.h. ›gemeinschaftswissenschaftliche‹) Modelle erarbeitet, um diese Fragen zu klären. Hingegen hat jemand ein psychisches Problem, wenn er unter Prüfungsangst leidet, und jemand hat ein soziales Problem, wenn er einen Außenseiterstatus innehat. Er erfährt subjektives Leid, er weist eine objektive Beeinträchtigung auf, in psychischer (d.h. seelischer) bzw. in sozialer (d.h. gemeinschaftlicher) Hinsicht.

Eine eher geringere Differenz bildet sich in der folgenden Konstellation ab: ›Peter hatte moralische Gründe, auf ein Eingreifen zu verzichten.‹ Dieser Satz besagt, dass aus der Sicht von Peters Moral, und womöglich auch aus Sicht der Moral des Sprechers, einiges dafür sprach, nicht einzugreifen. Das ist vergleichsweise nah am Sinngehalt jener Aussage: ›Peter hatte ethische Gründe, auf ein Eingreifen zu verzichten.‹ Mit diesem Satz wird behauptet, dass die ethischen Aspekte der gegebenen Situation, und zudem vermutlich theoretische Überlegungen ethischer Art, dafür sprachen, nicht einzugreifen.

Diese gelegentliche Nähe von ›ethisch‹ und ›moralisch‹, etwa in ihrer Anwendung auf das Substantiv ›Gründe‹, wurzelt darin, dass Ethiken zuweilen bestimmte Moralen unterstützen oder sogar hervorbringen: Ethische Argumente können einzelne moralische Einstellungen bekräftigen, ethische Theorien können ganze moralische Systeme generieren. Wenn daher etwas ›ethisch gerechtfertigt‹ genannt wird, so wird es sicherlich auch als ›moralisch richtig‹ angesehen. Eine leichte Bedeutungsnuance bleibt aber selbst in diesem Fall bestehen: Während Moral das bloße Vorliegen bestimmter Überzeugungen bezeichnet, meint Ethik die wissenschaftliche Fundierung dieser Überzeugungen. In diesem Sinne geht ›ethisch gerechtfertigt‹ mit einem höheren Anspruch auf kritische Prüfung einher als ›moralisch richtig‹.

(3) Die bisherigen Begriffsbestimmungen geben die vorrangigen Verwendungsweisen von ›Moral‹ und ›Ethik‹ im deutschen Sprachgebrauch wieder. Vorsicht ist angezeigt bei verwandten Wörtern, die sich in anderen Sprachen finden, oder auch angesichts von besonderen Bedeutungstraditionen, die sich im Deutschen herausgebildet haben.

Im Englischen etwa benennt ethics zum einen die akademische Disziplin (wie ›Ethik‹ im Deutschen). Zum anderen aber kann ethics auch ein bestimmtes Normensystem bezeichnen, weitgehend synonym zu den englischen Alternativen morality oder morals (bzw. zum deutschen ›Moral‹). Das Adjektiv ethical zeigt entsprechend manchmal die Ebene der wissenschaftlichen Reflexion, manchmal aber auch die Ebene der unmittelbaren Stellungnahme an (im letzteren Fall gleichbedeutend zum Adjektiv moral). Folglich ist es im Englischen durchaus korrekt, von ethical behaviour oder unethical behaviour zu sprechen (was wesentlich sinngleich zu moral behaviour bzw. immoral behaviour ist).

In das Deutsche und in andere Sprachen ist zudem das griechische ēthos bzw. ethos auch unmittelbar eingewandert, eben in Gestalt des Wortes ›Ethos‹. Darunter versteht man in der Regel eine spezielle Art von Moral, deren Gehalte und Vorschriften besonders prägend für die Identitätsbildung und das Selbstverständnis sind. Ein ›Ethos‹ ist eine oftmals über lange Zeiträume gewachsene und tradierte Moral, die ihre Geltung auf bestimmte Personen oder festumrissene Gruppen erstreckt und deren Lebensformen und Tätigkeiten wesentlich gestaltet oder überhaupt erst definiert. In diesem Sinne spricht man etwa von einem ›Standesethos‹ oder einem ›Berufsethos‹, vom ›Ethos eines Arztes‹ oder vom ›Ethos der Wissenschaft‹.

 

In der Tradition der Diskursethik, wie sie von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas begründet wurde, findet sich eine spezielle Verwendungsweise namentlich der Adjektive ›ethisch‹ und ›moralisch‹, die gelegentlich für Verwirrung sorgt. Insbesondere hat es auf den ersten Blick den Anschein, als hätten die beiden Begriffe in dieser Tradition gegenüber dem oben erläuterten Wortgebrauch eine geradewegs vertauschte Bedeutung. So spricht Habermas zum einen von ›ethischen Überzeugungen‹ im Sinne von Einstellungen bezüglich eines guten Lebens. Dies sind private, existenziell bedeutsame Werthaltungen, die der gelungenen Orientierung des eigenen Daseins dienen. Er spricht zum anderen von ›moralischen Normen‹ im Sinne von Regelungen für eine gerechte Gemeinschaft. Dies sind öffentliche, universell verbindliche Ordnungsformen, welche den unparteilichen Ausgleich von widerstreitenden Interessen anzielen [HABERMAS 1991, 36–40, 100–118].

In der hier verwendeten Terminologie bilden Habermas’ ›ethische Überzeugungen‹ also einen Teilbereich der moralischen Stellungnahmen, nämlich jenen Ausschnitt, der sich mit der Entscheidung für die persönliche Lebensführung befasst. Demgegenüber machen Habermas’ ›moralische Normen‹ einen anderen Sektor der moralischen Festlegungen in obiger Wortbedeutung aus, nämlich jene Normbereiche, die sich mit der Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens beschäftigen. In einem gewissen Sinne steht damit bei Habermas ›Moral‹ höher als ›Ethik‹: Das ›Moralische‹ kennzeichnet die vorrangigen, universellen und unparteilichen Normen der gerechten Interessenabwägung, das ›Ethische‹ die nachrangigen, individuellen oder kollektiven Entwürfe einer guten Lebensführung. Im üblichen Wortgebrauch ist das Stufungsverhältnis umgekehrt, allerdings nicht in einem inhaltlichen, sondern in einem systematischen Sinne: Dort ist Ethik die übergeordnete, wissenschaftliche Reflexionsebene, Moral die untergeordnete, vorwissenschaftliche Gegenstandsebene.

Die Habermas’sche Wortverwendung scheint sich dadurch zu erklären, dass sein Adjektiv ›ethisch‹ eher von ›Ethos‹ als von ›Ethik‹ abgeleitet sein könnte: Immerhin bezeichnet ein ›Ethos‹ im üblichen Verständnis gerade eine solche Moral, die wesentlich für die individuelle oder kollektive Lebensgestaltung und Identitätsbildung ist (also genau die ›ethischen‹ Werteinstellungen in Habermas’ Wortsinn). Den Begriff ›Ethik‹ benutzt demgegenüber auch Habermas mitunter in herkömmlicher Weise für jene philosophische Disziplin, die sich allgemein mit der Beschaffenheit und Gültigkeit von Wertungen befasst (also sowohl von ›ethischen‹ Überzeugungen als auch von ›moralischen‹ Normen in seinem Wortsinn).

Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen dem Habermas’schen Vokabular und der üblichen Terminologie spannungsreich: Habermas verwendet den Terminus ›Ethik‹ zuweilen auch, um speziell den Bereich seiner ›ethischen Überzeugungen‹ zu benennen (statt dass er hier bevorzugt von ›Ethos‹ sprechen würde). Entsprechend hält er die Bezeichnung seiner eigenen Theorie als ›Diskursethik‹ für streng genommen unpassend, eben weil ›ethische Diskurse‹ allein die gute Lebensführung betreffen, und würde die Wendung ›Diskurstheorie der Moral‹ grundsätzlich vorziehen, weil erst ›moralische Diskurse‹ sich mit verbindlichen Handlungsnormen befassen (und dieses Thema ihn vorrangig interessiert) [HABERMAS 1991, 7].

1.4 Einteilung der Ethik

Ethik, definiert als Wissenschaft von der Moral, kann im Wesentlichen drei verschiedene Zugänge zu ihrem Gegenstand wählen. Entsprechend lässt sich Ethik in drei Ebenen einteilen, denen sich dieses Buch im weiteren Verlauf in unterschiedlicher Ausführlichkeit widmet.

Die deskriptive Ethik befasst sich mit der Frage, welche Moralen es überhaupt gibt: Sie klärt, welchen Moralen sich Individuen, etwa im Laufe ihrer Entwicklung oder je nach ihrer Herkunft und Erziehung, bevorzugt zuwenden. Sie untersucht, welche moralischen Auffassungen in bestimmten Gesellschaften, etwa in verschiedenen Kulturkreisen oder in sozialen Kleingruppen, vertreten werden. Somit wählt sie, wie der Name bereits sagt, eine beschreibende Perspektive. Sofern sie einen hinreichenden Anteil an Beobachtungen oder Experimenten enthält, wird sie auch als ›empirische Ethik‹ bezeichnet. Das folgende Kapitel 2 dieses Buchs stellt beispielhaft einige wichtige Ansätze der deskriptiven Ethik vor.

In der normativen Ethik geht es um die Frage, wie sich Moralen begründen lassen: Sie bemüht sich, grundlegende Argumente für oder gegen moralische Regeln und Positionen zu formulieren. Sie versucht, bestehende Moralen zu verteidigen oder zu widerlegen, vorgeschlagene Moralen zu prüfen und die richtige Moral auszuwählen oder sogar ein eigenständiges Moralsystem zu entwerfen. Entsprechend ist sie durch eine legitimatorische Perspektive gegenüber der Moral gekennzeichnet. In überwiegendem Umfang ist es diese normative Ethik, die in der Philosophie unter dem Titel ›Ethik‹ betrieben wird, etwa in den klassischen ethischen Werken von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, Bentham, Mill oder Sidgwick. Entsprechend steht sie auch in weiten Teilen dieses Buches, nämlich in den Kapiteln 4 bis 6, im Vordergrund, wenn es um die Ansätze von Tugendethik, Deontologie und Teleologie geht.

Die Metaethik schließlich beschäftigt sich mit dem Problem, welchen grundsätzlichen Status moralische Begriffe, Aussagen oder Argumentationen haben: Was ist die Bedeutung des moralischen Begriffs ›gut‹? Lässt er sich über andere Begriffe definieren, oder ist er ein undefinierbarer Grundbegriff? Welche Art von Einsicht vermitteln moralische Aussagen? Können sie einen objektiven Wahrheitsanspruch erheben, oder vermitteln sie nur subjektive Geschmacksurteile? Worauf beziehen sich moralische Argumentationen? Stützen sie sich auf allgemeine Prinzipien, oder gründen sie in konkreten Einzelfallurteilen? Bei all diesen Fragen geht es nicht darum, bestimmte moralische Wertungen zu rechtfertigen oder anzugreifen, sondern allein darum, in sehr grundsätzlicher Perspektive herauszufinden, welche Sprachgestalten, Kenntnisweisen und Objekttypen im moralischen Denken präsent sind. Nicht zuletzt steht hierbei auf dem Spiel, ob ›normative Ethik‹ überhaupt ein sinnvolles Geschäft ist. Falls sich nämlich herausstellen sollte, dass moralische Aussagen ohnehin keinen Wahrheitsanspruch geltend machen können, bräuchte man sich auch nicht damit abzugeben, nach der richtigen Moral zu suchen. Eine solche richtige Moral gäbe es dann gar nicht, und die vielfältigen faktischen Moralen, welche die ›deskriptive Ethik‹ auflistet, wären nichts als letztlich beliebige Setzungen ohne höheren verbindlichen Gehalt. Diesem und anderen metaethischen Problemen widmet sich Kapitel 3 dieses Buches.

Drei Ebenen der Ethik

– Welche Moralen gibt es? → deskriptive Ethik

– Wie lassen sich Moralen begründen? → normative Ethik

– Welchen grundsätzlichen Status haben moralische Begriffe, Aussagen, Argumentationen? → Metaethik

Fragen und Aufgaben

1. Betrachten Sie den Satz ›Wenn du einen guten Freund hast, solltest du ihm stets die Wahrheit sagen‹. In welchem Sinne ließe sich dieser Satz als moralische Regel interpretieren, in welchem als nichtmoralische?

2. Denken Sie sich Fälle aus, in denen man von einem schweren moralischen Problem, aber nicht von einem schwierigen ethischen Problem sprechen könnte. Finden Sie umgekehrt Beispiele, in denen interessante ethische Probleme, aber keine relevanten moralischen Probleme sichtbar werden.

3. Ein Forscherteam will das Sozialverhalten innerhalb einer religiösen Randgruppe untersuchen und dabei alle drei Ebenen der Ethik berücksichtigen. Wie könnten konkrete Forschungsfragen aussehen, die der deskriptiven Ethik, der normativen Ethik oder aber der Metaethik zugehören?

2. Deskriptive Ethik – Ansätze aus Philosophie, Psychologie und Soziologie

Die folgenden Abschnitte geben einen Einblick in das Gebiet der deskriptiven Ethik. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wollen lediglich anhand einiger wichtiger Beispiele einen Eindruck vermitteln, welches Spektrum dieser Ethikbereich eröffnet und welche Beiträge hierzu aus unterschiedlichen Disziplinen geleistet worden sind.

Deskriptive Ethik scheint auf den ersten Blick nicht vorrangig Sache der Philosophie zu sein. Die Beschreibung faktischer Moralen würde man womöglich eher von anderen Wissenschaften erwarten, mit Blick auf die Moralüberzeugungen von Individuen etwa von der Psychologie oder der Erziehungswissenschaft, mit Blick auf die Moralvorstellungen in Kollektiven vor allem von Soziologie, Politikwissenschaft, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie oder Religionswissenschaft. Auch die Philosophie kann sich indessen in die deskriptive Ethik einbringen und eigenen Gewinn daraus ziehen: Philosophischer Sachverstand mag gefragt sein, um die genaueren begrifflichen, propositionalen und argumentativen Zusammenhänge freizulegen, die in beobachteten Moralen am Werk sind. Außerdem stellen manche philosophischen Autoren zunächst deskriptive Betrachtungen zur Beschaffenheit menschlicher Moralauffassungen an, um hieraus normative Überlegungen zu den Eckpunkten eines richtigen Moralsystems zu entwickeln (ein Beispiel gibt Abschnitt 2.1). Ein solcher Übergang von deskriptiver zu normativer Ethik lässt sich auch in anderen Wissenschaften beobachten: Zuweilen stellen diese ebenfalls nicht allein verschiedene Moralen dar, wie sie bei Individuen oder in Kollektiven faktisch vorkommen mögen. Vielmehr nehmen sie überdies mehr oder weniger offen Stellung dazu, wie diese Moralen in ihrem Inhalt oder in ihrer Wirkung zu bewerten sind (hierzu finden sich Beispiele in den Abschnitten 2.2 und 2.3). Der Zusammenhang von deskriptiver und normativer Ethik ist Thema einiger abschließender Bemerkungen (Abschnitt 2.4). Diese leiten in das nachfolgende Kapitel 3 zur Metaethik über.

2.1 Smith: Vom ›aufmerksamen Zuschauer‹ zum ›unparteiischen Zuschauer‹

Adam Smith (1723–1790) ist primär als Ökonom bekannt geworden. Insbesondere sein Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) gehört zu den ersten Untersuchungen, die sich in wissenschaftlicher Form mit den Mechanismen der freien Marktwirtschaft auseinandersetzen. Smith hat aber auch als Moralphilosoph gearbeitet. Sein Hauptwerk in diesem Bereich ist The Theory of Moral Sentiments (1759). In diesem Buch entwickelt er einerseits eine normative Ethik utilitaristischen Typs (die in Kapitel 6 dieses Buchs noch einmal Thema ist), andererseits deskriptive Überlegungen zur Natur und Gestalt moralischer Empfindungen (wie es der Titel der Schrift andeutet). Dabei stehen deskriptive und normative Erörterungen in einem engen argumentativen Zusammenhang, der sich vor allem an Smiths Zentralbegriffen eines ›aufmerksamen Zuschauers‹ bzw. eines ›unparteiischen Zuschauers‹ nachzeichnen lässt.

(1) Smith stellt zunächst fest, dass reale Menschen in der Regel über die Fähigkeit verfügen, die Gefühle anderer, primär betroffener Menschen in gleichsam spiegelbildlicher, sekundär mitempfindender Weise in sich nachzubilden. Auf die Wahrnehmung freudiger Empfindungen reagieren sie mit eigener Freude, auf die Beobachtung fremden Leids mit mitleidenden Regungen. Dieses Nachempfinden nennt Smith ›Sympathie‹, und sie zeichnet einen Menschen als ›aufmerksamen Zuschauer‹ aus:

»Der Affekt, der durch irgendeinen Gegenstand in der zunächst betroffenen Person erregt wird, mag […] welcher immer sein, stets wird in der Brust eines jeden aufmerksamen Zuschauers [attentive spectator] bei dem Gedanken an die Lage des anderen eine ähnliche Gemütsbewegung entstehen.« [SMITH, TMS, I.1.1, 4]

»Das Wort ›Sympathie‹ [sympathy] kann […] dazu verwendet werden, um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten zu bezeichnen.« [SMITH, TMS, I.1.1, 4]

 

Insofern Smith hier von dem üblichen faktischen Einfühlungsvermögen tatsächlicher Beobachter spricht, macht er eine primär deskriptive Aussage. Allerdings schwingt in diesen Ausführungen auch bereits eine gewisse normative Wertung mit. Jene Fähigkeit zur ›Sympathie‹ ist fraglos positiv zu beurteilen. Auf sie gründen sich »[d]ie sanften, die zarten, die liebenswürdigen Tugenden, die Tugenden aufrichtiger Herablassung und nachsichtiger Menschlichkeit« [SMITH, TMS, I.1.5, 27]. Ein ›unaufmerksamer Zuschauer‹, der sie vermissen ließe, wiese ein merkliches moralisches Defizit auf.

(2) Allerdings ist die Position der Sympathie bzw. des aufmerksamen Zuschauers für Smith noch unzureichend für eine vollgültige moralische Haltung. Insbesondere ist sie anfällig für Verzerrungen durch die Eigenliebe, falls man selbst von den fraglichen Entscheidungen und Handlungen betroffen ist. Die eigentlich moralische Perspektive wird erst mit jener völligen ›Selbstbeherrschung‹ erreicht, wie sie ein ›unparteiischer Zuschauer‹ aufbringen könnte:

»[…] nur durch das Auge dieses unparteiischen Zuschauers [impartial spectator] können die natürlichen Täuschungen der Selbstliebe richtiggestellt werden.« [SMITH, TMS, III.3, 203]

»[…] die ehrwürdigen und achtunggebietenden Tugenden [bestehen] in jenem Grade von Selbstbeherrschung [self-command], der uns durch seine wunderbare Gewalt über die unlenkbarsten Leidenschaften der menschlichen Natur in Erstaunen setzt.« [SMITH, TMS, I.1.5, 29]

Einfühlungsvermögen allein genügt nicht den Anforderungen von Smiths normativer Ethik. Erst wenn auch das Selbstinteresse des Handelnden überwunden und Unparteilichkeit zwischen den eigenen Wünschen und den mitfühlend erschlossenen Bedürfnissen anderer Betroffener erreicht ist, sind die Forderungen der Moral erfüllt. Entsprechend ist jene ›Selbstbeherrschung‹ noch weitaus höher zu schätzen als die Sympathie. Sie verkörpert »die erhabenen, ehrwürdigen und achtunggebietenden Tugenden, die Tugenden der Selbstverleugnung, der Selbstbeherrschung und jener Herrschaft über die Affekte, welche alle unsere Gemütsbewegungen dem unterordnet, was unsere Würde und Ehre und die Schicklichkeit des Betragens von uns fordern« [SMITH, TMS, I.1.5, 27]. Ein ›parteiischer Zuschauer‹, bei aller Einfühlung und Menschlichkeit, hätte noch nicht die volle Moralität erreicht.

(3) Mit welchen inhaltlichen Forderungen Smiths Modell eines ›unparteiischen Zuschauers‹ genauer einhergeht, erläutert Abschnitt 6.5: Dort wird nachgezeichnet, wie Smith aus seinem Ansatz das Moralprinzip des Utilitarismus zu gewinnen versucht. Die spezielle Verbindung von Sympathie und Unparteilichkeit im ›unparteiischen Zuschauer‹ läuft dann darauf hinaus, die Gesamtsumme an Glück über alle Betroffenen hinweg zu maximieren. Hier interessiert zunächst allein, auf welchem grundsätzlichen Weg Smith aus seiner deskriptiven Ethik eine normative Ethik entwickelt, nämlich über eine zunehmende Idealisierung: Reale Beobachter weisen im Allgemeinen bestimmte moralische Gefühle auf, insbesondere eine einfühlende Sympathie mit dem Leid oder der Freude anderer (deskriptive Ethik). Diese Sympathie ist als solche begrüßenswert, sie eröffnet eine moralisch wertvolle Perspektive. Aber sie muss erweitert werden, hin zur eigentlich moralischen Position der Selbstbeherrschung. Dies ist jene moralische Haltung völliger Unparteilichkeit gegenüber den Glücksempfindungen aller Betroffenen, wie sie ein idealer Beobachter zu einem Geschehen einnehmen würde (normative Ethik).

2.2 Kohlberg: Die sechs Stufen der Moralentwicklung

Psychologische Untersuchungen zur Moralität von Individuen finden sich bei einer Reihe von Autoren. Auf besonderes Interesse ist dabei die Frage nach der zeitlichen Entwicklung moralischer Einstellungen über verschiedene Lebensstadien hinweg gestoßen. Jean Piaget (1896–1980) hat sich in dieser Hinsicht als einer der ersten Psychologen intensiv mit der Moralentwicklung von Kindern auseinandergesetzt. Bekannter noch sind die Arbeiten von Lawrence Kohlberg (1927– 1987) geworden, der diese entwicklungspsychologische Perspektive über die Kindheit hinaus bis in das Erwachsenenalter ausgedehnt hat.

(1) Zu diesem Zweck hat Kohlberg über Zeiträume von bis zu 30 Jahren umfangreiche Längsschnittstudien angestellt, deren Hauptbestandteil halbstrukturierte Interviews von ca. 45 Minuten Dauer waren. In diesen Interviews konfrontierte er seine Probanden mit kurzen Fallgeschichten, die moralische Dilemmasituationen zum Thema hatten. Beispielsweise standen darin gesetzliche Vorgaben in Konflikt mit menschlichem Wohlergehen, oder Solidaritätsbeziehungen gerieten in Widerspruch zu Wahrhaftigkeitspflichten. Ein typisches Fallbeispiel ist das sogenannte ›Heinz-Dilemma‹:

»In einem fernen Land lag eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 200 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 1000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, daß seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: ›Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.‹ – Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll.« [KOHLBERG 1968–1984, 495]

Kohlberg ließ seine Probanden Einschätzungen abgeben, wie man sich in Fällen der geschilderten Art verhalten solle. Vor allem fragte er eindringlich nach den Begründungen, die sie für ihre Entscheidungen angeben konnten. Das Hauptergebnis, das er aus diesen Studien ableitete, lautet wie folgt: Jeder Mensch, unabhängig von Kultur oder Geschlecht, durchläuft eine feste Stufenfolge von Typen moralischer Urteile. Die Reihenfolge der absolvierten Stufen ist stets dieselbe, insbesondere können keine Stufen während der Entwicklung übersprungen werden. Rückfälle kommen in der Regel nicht vor, allerdings werden die höchsten Stufen von den meisten Menschen nicht erreicht.

(2) Genauer identifiziert Kohlberg drei Niveaus mit jeweils zwei Stufen der moralischen Entwicklung. Das Gesamtschema von insgesamt sechs Stufen hat er gelegentlich leicht modifiziert und ergänzt, in seinen wesentlichen Komponenten aber beibehalten [vgl. KOHLBERG 1968–1984, 26f., 51–53, 128–132].

Auf dem präkonventionellen Niveau bewegen sich üblicherweise Kinder bis zum Alter von ca. neun Jahren, aber auch jugendliche oder erwachsene Straftäter. Diese Ebene zeichnet sich durch eine strikt egozentrische Moralität aus, deren Urteile sich allein an den direkten Konsequenzen für den Handelnden selbst orientieren. Die 1. Stufe ist auf die Vermeidung von Strafe ausgerichtet (how can I avoid punishment?). Moral wird hier als bloßer Gehorsam gegenüber bestehenden Autoritäten konzipiert. Als erlaubt gilt, was von Mächtigeren zugelassen wird, Verhaltensregeln werden als zu befolgen angesehen, um Sanktionen zu vermeiden. Auf der 2. Stufe kommen die bewusste Erkenntnis fremder Bedürfnisse und die gezielte Befriedigung eigener Bedürfnisse hinzu (what’s in it for me?). Dies umfasst die negative Strafvermeidung der vorangehenden Stufe, ergänzt sie aber um das positive Abzielen auf mögliche Belohnungen. Zudem werden nun fremde Wünsche wahrgenommen und befriedigt, damit die eigenen Wünsche beachtet und zufriedengestellt werden, so dass Moral insgesamt als ein Austausch von Gefälligkeiten verstanden und gelebt wird, gemäß dem Motto ›Wie du mir, so ich dir‹.