Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 3)

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Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 3)
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Detlev Sakautzky

Maritime Erzählungen

Wahrheit und Dichtung

Band 3

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Gefährliche Vereisung

Willi hat ein Problem

Eine nicht erwiderte Liebe

Für immer seeuntauglich

Hochzeit im Seemannsheim

Vom Landgang gefallen

Muli im Steert

Arbeitsunfall mit Folgen

Krank durch Alkohol

Kontrolle ohne Beanstandungen

Die Entzündung klingt nicht ab

Unfall im Kofferdamm

Waschtag an Bord

Alltag in der verbleibenden Zeit

Durch Fischmehl verbrüht

Fünf Glas Bier für ein Tattoo

GEFÄHRLICHE VEREISUNG

Auf den Fangplätzen Westgrönlands, insbesondere auf der Fyllasbank, wurden im Februar große Mengen Kabeljau in guter Qualität gefangen. Die Bank liegt 25 Seemeilen westlich von Nukaret und erstreckt sich 50 Seemeilen bis zum Godthaabsfjord. Die Wassertiefen betragen vierzig bis hundert Meter. Westlich der Bank fällt der Meeresgrund stark ab. Auf der Bank und den schrägen, zur Tiefsee fallenden Hängen, konzentrierten sich große Kabeljauschwärme. Gefangen wurde aber auch Rotbarsch und Schwarzer Heilbutt.

Der Meeresgrund besteht aus Sand und Muscheln. Häufig hakte das Fanggeschirr an großen Steinbrocken, die verstreut am Meeresgrund liegen. Nicht selten brachen die Kurrleinen, nachdem sich die Seitenscherbretter an den felsigen und großen Steinen verhakt hatten. Totalverluste des Fanggeschirrs waren nicht selten. Kapitän Franz Lukas kannte den Fangplatz. Er hatte eine Arbeitskarte angefertigt, in der er die Hindernisse am Meeresgrund, Fischkonzentrationen zu bestimmten Zeiten und die Wassertiefen eingetragen hatte. Lukas setzte das Fanggeschirr unweit der Bank aus. Der Aussetzkurs war Südost und führte direkt von der Tiefsee zur Bank.


Fangplätze vor Westgrönland


Fischschwarm am Hang der Fyllasbank

Die Kurrleinen wurden zügig gefiert. Sobald der Echograph den steigenden steinigen Hang mit Kabeljauschwärmen anzeigte, ließ Lukas das Schleppnetz hieven. Das durch die Scherbretter offen gehaltene Netz wurde in den Fischschwarm gezogen. So wurden große Mengen Kabeljau gefangen.

Kapitän Lukas war erfahren in dieser Fangmethode und hatte in der Vergangenheit mit seinem Trawler, der „Beatrix“, große Mengen an Kabeljau gefangen.

Es gab aber auch verlustreiche Tage. Der Bruch einer Kurrleine oder eines Verbindungselementes, der Verlust eines Seitenscherbrettes, ein total zerrissenes Netz, sobald das Fanggeschirr sich an einem Hindernis verhakt hatte, einen zerrissenen Steert und geringe Fänge drückten die positive Stimmung der Decksleute und des Kapitäns.

„Viel Arbeit und keine Fangprämie“, fluchte der Bestmann. In der Regel wurden achtzehn Stunden ununterbrochen an Deck gearbeitet.


Zweiter Steuermann beim Öffnen des Steertes

Das Einholen und Aussetzen des Fanggeschirrs, Schlachten, Lebern und Waschen des Kabeljaus, vereisen der bearbeiteten Fische in den Hocken der Eisräume, die Reparatur der beschädigten Teile des Fanggeschirrs, Ruder und Wachdienst im Brückenraum – all das musste getan werden und wiederholte sich täglich für jedermann. In der verbleibenden Zeit waren die Männer in ihren Kammern, ruhten sich aus, tranken Kaffe und rauchten, lasen Bücher und schliefen fest, bis sie wieder für die weitere Arbeit an Deck geweckt wurden. Dann waren sie wieder den kalten Temperaturen, Wind, Sturm und Seegang ausgesetzt. Die Kleidung, wie Wattejacke und -hose, Strickpullover, Lungenschützer, Pelzmütze, Seestiefel und Ölhemd, Gummi- und Schlachthandschuhe schützten vor der arktischen Kälte und Nässe, behinderte aber die körperliche Beweglichkeit bei allen anfallenden Tätigkeiten an Deck. Sehr niedrige Lufttemperaturen bis Minus zwanzig Grad Celsius, Seerauch, Nieselregen, Spritzwasser, Starkwind und oft hoher Seegang erschwerten zusätzlich die Arbeit der Decksleute. Der Atem fror, die Augenbrauen und der Bart wurden weiß.

Es gefror alles, was feucht war. Sobald das Schleppnetz nach dem Einholen an Deck lag, wurde es knüppelhart. Die gefangenen Fische wurden steif. Die Bearbeitung, wie das Schlachten und Lebern des Kabeljaus war besonders für die Auszubildenden körperlich sehr anstrengend. Der Rücken und die Arme schmerzten. Das wiederholte Bücken, Greifen und Entweiden der Fische führte zu Sehnenscheidenentzündungen in den Armen bei einigen Decksleuten.

*

Der Funker überreichte Lukas den aktuellen Wetterbericht.

„Nördliche Winde, Frost, örtlich Seerauch, zunehmende Eisfelder, treibende Eisberge und Growler erwarten uns in den kommenden Stunden auf der Fyllasbank“, sagte der Funker, als er den Bericht an den Kapitän überreichte.

„Der zunehmende Frost und der Seerauch machen mir Sorgen. Beides führt zur zunehmenden Vereisung des Schiffes. Die Eisstärke nimmt zu und deren Gewicht verringert die Stabilität und den Freibord unseres Schiffes. Das Schiff könnte kentern“, erwiderte der Kapitän sorgenvoll.


Seerauch

„Hol mir den Ersten Steuermann auf die Brücke“, befahl Lukas dem Ausguckmann.

Eilig meldete sich der Erste beim Kapitän im Brückenraum.

„Was liegt an?“, fragte er den Kapitän.

„Schau dir die zunehmende Vereisung an. Das Backdeck, die Brückenaufbauten, die Masten und die Takelage sowie die Taljen und Läufer, die Decksrollen und Galgen sind vollständig von einer durchsichtigen glasurähnlichen Eisschicht umgeben. Bei diesen Wetterbedingungen wächst sie weiter“, antwortete der Kapitän seinem Ersten.

„Der Schwerpunkt des Schiffes verändert sich nach oben. Das Schiff könnte kentern“, meinte der Erste.

„Vor noch nicht langer Zeit sind englische Trawler durch den ‚Schwarzen Frost‘, so nannten die Männer die Art der Vereisung, gekentert. Die Besatzungen sind im eiskalten Wasser Ostgrönlands ertrunken“, sagte der Funker, der damals die Hilferufe über Funk mit verfolgt hatte.

Gesagt, getan.


Zunehmende Vereisung durch Frost, Wind und Seerauch

„Wir werden jetzt hieven und danach mit der Enteisung beginnen. Die Situation ist bedrohlich“, sagte der Kapitän zum Ersten Steuermann.

Das Fanggeschirr wurde gehievt. Die Fangmenge war diesmal gering und wurde durch zwei Decksleute bearbeitet. Alle anderen Decksleute, auch die wachfreien, wurden mit der Enteisung beauftragt.

Kapitän Lukas fuhr das Schiff in Richtung der nach Süden treibenden Eisfelder. Im Treibeisfeld gab es keine überkommende See, keine Gischt und kein Spritzwasser.


Vereiste Ankereinrichtung

 

Der Zweite Steuermann überwachte die Enteisung. Mit großen Hämmern, Brechstangen, Feuerwehrbeilen, Äxten und Kusenbrechen wurde das Eis abgeschlagen und gleich außenbords geworfen oder geschaufelt, um das Schiff zu entlasten.

*

„Wir haben es hier mit Spritzwasservereisung und Süßwasservereisung zu tun“, meinte der Erste, der sich auf der Brücke aufhielt und den Kapitän zum Mittagessen ablösen wollte.

„Die Spritzwasservereisung, der ‚Weiße Frost‘, entsteht, wenn die Lufttemperatur niedriger als die Temperatur des Seewassers ist“, sagte der Kapitän und zeigte auf das Außenthermometer in der Brückennock.

„Die Vereisung, die sich jetzt weiter bildet, ist nicht nur von der Luft- und Wassertemperatur, sondern auch von der Windstärke, vom Seegang und vom Verhalten des Schiffes in der See abhängig“, ergänzte der Funker die Einschätzung des Kapitäns.


Spritzwasservereisung

„Eine Süßwasservereisung, der ‚Schwarze Frost‘, entsteht bei Lufttemperaturen unter dem Gefrierpunkt durch Seerauch. Die örtlichen Seerauchfelder ermöglichen die Eisbildung und es entsteht eine sehr harte feste Eisschicht, die sich nur schwer abschlagen lässt“, sagte der auf diesem Gebiet erfahrene Kapitän.

„An vielen Stellen lässt sich das Eis nicht abschlagen. Es ist eisenhart und stellenweise sehr dick“, berichtete der Zweite, der sich auf Anweisung des Kapitäns im Brückenraum meldete. Das Schiff fuhr mit „Langsamer Fahrt“. Auf einmal trat eine feste Krängung nach Steuerbord ein. Der Krängungsmesser zeigte fünfzehn Grad. Der örtlich auftretende Seerauch führte weiter zur gefährlichen Vereisung. „Kapitän, wir schaffen es mit unseren Kräften nicht, das Schiff wirksam zu enteisen. Das zeigt auch die zunehmende Krängung“, sagte der Zweite.


Schwarzer Frost

Die Gefahr des Kenterns nahm zu. Das glatte Deck und die Schräglage des Schiffes erschwerten die Enteisung. Die Männer rutschten aus dem Stand, ohne die Einwirkung von Schiffsbewegungen, aus.

Lukas nahm die Hinweise ernst. Er setzte sich über Funk mit den Kapitänen der Trawler der eigenen Reederei, die sich nördlich auf der Bananenbank befanden, in Verbindung und bat um Hilfe. Die Schiffe auf der Bananenbank hatten keine so starke Vereisung – die meteorologischen Bedingungen waren dort günstiger.

Am Treibeisgürtel, nordwestlich der Fyllasbank, traf die „Beatrix“ auf die zur Hilfeleistung bereiten Trawler. Auf den schiffseigenen Schlauchbooten setzten die Decksleute, in wetterfeste Bekleidung und Schwimmwesten, mit ihrem Enteisungswerkzeugen auf die „Beatrix“ über. Alle hatten sich freiwillig bereit erklärt, den Männern des stark vereisten Schiffes zu helfen.

Planmäßig begannen sie auf den Decks, an den Aufbauten und Masten mit den Enteisungsarbeiten. Die Einnahme der Mahlzeiten erfolgte gruppenweise. Zwischendurch versorgte der Koch alle mit warmen Getränken. Die Arbeiten waren mühevoll und kräftezehrend, da das Eis sich nur langsam beseitigen ließ. An Schlaf und Ausruhen war nicht zu denken. Jeder wusste um die Gefahr des Kenterns und die Folgen für die persönliche Gesundheit und das eigene Leben. Die Angst, im kalten Wasser vor Westgrönland zu ertrinken, motivierte alle bis zur Entkräftung zu enteisen. Der Untergang der englischen Trawler durch den „Schwarzen Frost“ vor Ostgrönland – alle Decksleute hatten davon gehört – war eine weitere Motivation, alle körperlichen Kräfte zu mobilisieren. Nach zwölf Stunden ununterbrochener Enteisungsarbeiten verringerte sich die Krängung des Schiffes, die sich bei der Ankunft im Bereich des Treibeisgürtels um weitere zehn Grad vergrößert hatte.

Die Enteisung der Reling, des Schanzkleides, des Wetterschutzdaches und der Masten trug wesentlich zur Verringerung der Eislast des Schiffes bei. Die Männer waren übermüdet. So sehnten sich die meisten nach einer warmen Koje und einer Mütze voll Schlaf. Kapitän Lukas ließ aber keine Schwäche zu.

„Es muss weiter enteist werden, bis das Schiff wieder gerade liegt“, war die Weisung des Kapitäns an alle Decksleute, die durch das Maschinenpersonal unterstützt wurden.



Decksleute enteisen die Reling auf dem Vorschiff

Nach weiteren sechs Stunden trat das ein, auf das alle gehofft hatten. Die Krängung ging weiter zurück. Kapitän Lukas bat die Kapitäne der Hilfe leistenden Trawler ihre Männer abzuholen. Die meteorologischen Bedingungen hatten sich wesentlich verbessert. Örtlicher Seerauch war nicht mehr vorhanden. Der Wind hatte nachgelassen und kam nur schwach aus nördlicher Richtung. Die Gefahr einer neuerlichen Vereisung durch den „Weißen und Schwarzen Frost“ war vorbei.

Die Decksleute der anderen Trawler wurden total übermüdet und körperlich geschwächt, übergesetzt. Dankbar wurden sie von den an Deck stehenden Männern der „Beatrix“ verabschiedet.


Beatrix

*

Jetzt gingen alle wieder ihren regulären Arbeiten nach. Kapitän Lukas suchte mit dem Echographen und der Fischlupe nach weiteren Fischanzeigen im Nordwesten der Fyllasbank, bevor er das Fanggeschirr wieder aussetzen ließ. Er ortete Kabeljaukonzentrationen größeren Ausmaßes direkt auf der Bank. Nach einer relativ kurzen Schleppzeit ließ er das Fanggeschirr hieven. Hundertzwanzig Körbe mit großem Kabeljau wurden an Deck gehievt. Bis zum späten Abend kamen noch vierhundertzwanzig Körbe Kabeljau und Rotbarsch dazu, die bearbeitet werden mussten.

Um Mitternacht trat das Schiff die Heimreise an. Kapitän und Besatzung waren mit dem Fangergebnis zufrieden. Die Menge und die Qualität des gefangenen Grönlandkabeljaus sicherten allen einen guten Verdienst.

Die körperlichen Anstrengungen bei der Enteisung und die Angst vor dem Kentern des Schiffes hatten die Decksleute schnell vergessen. Alle freuten sich auf die baldige Heimkehr und das Zusammensein mit ihren Angehörigen.

WILLI HAT EIN PROBLEM

Es war ein schöner Sommerabend. Das Treibnetz war ausgesetzt. Der Logger „Adele“ trieb vor der Fleet.


Logger Adele vor der Fleet

Warme Lufttemperaturen, ein klarer Sternenhimmel und ein schwacher Wind aus Nordwest sorgten für eine gute Stimmung unter den Decksleuten. Der am Tag gefangene Hering war gekehlt, gesalzen, in Fässer gepackt und im Laderaum verstaut worden. Die Decksleute erholten sich lang ausgestreckt oder am Schanzkleid sitzend auf dem Backdeck, rauchten Zigaretten und tranken Bier, besprachen diese und jene Dinge, die sie interessierten. Einige spielten Karten.

Paul Thiel, der Kapitän, und Willi Fretwurst, der Koch, waren alte Bekannte. Beide kamen aus Ribnitz, waren dort aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegangen.

Paul Thiel hatte seine nautische Befähigung bei der deutschen Kriegsmarine erworben. Er stammte aus einer Fischerfamilie, die traditionell Jahrzehnte lang im Saaler Bodden fischte. Sein Wissen und seine Fähigkeiten über den Fischfang hatte er hier erworben. Paul Thiel war ein großer breitschultriger Mann mit lockigem, rostrotem Haar. Seine körperliche Größe und Fülle sowie seine überdurchschnittlichen Kenntnisse und Fertigkeiten im Fischfang flößten allen Decksleuten Respekt ein.

Willi Fretwurst diente während des Krieges auf verschiedenen Marinefahrzeugen. Hier war er häufig als Koch tätig gewesen. Auf diesen, oft kleinen Fahrzeugen, erwarb er seine Qualifikation zur Beköstigung der Besatzung. Er war ein mittelgroßer, dicker, kräftiger Mann mit Glatze, der immer Schwierigkeiten hatte, durch das Mannloch zwischen Proviantlast und Kombüse zu steigen, wenn er den Trockenproviant für den kommenden Tag brauchte. Gemüse, Obst und Kartoffeln lagerte der Koch auf dem Bootsdeck zwischen den Rettungsbooten, Frischfleisch und Wurst in Aluminiumwannen im vorderen Eisraum auf einer mit Stückeneis gefüllten Hocke. Der Herd wurde mit Briketts geheizt. Nicht selten hatte Fretwurst das Aussehen eines Heizers, wenn bei schlechtem Wetter der Abzug des Herdes nicht richtig funktionierte. Die Kombüse hatte einen Zugang zur Messe und ein Außenschott, das der Koch bei mäßigem Wind von vorn offen hielt. Die Besetzungsvorschriften verlangten aufgrund des Arbeitsanfalls in der Kombüse und Messe die Musterung eines Kochsmaates. Fretwurst arbeitete mit Zustimmung des Kapitäns ohne Kochsmaat. Von der Reederei erhielt er am Ende der Fangreise die vorgesehenen finanziellen Zuschläge des Kochmaates ausgezahlt. Unterstützung erhielt Willi Fretwurst täglich durch Olaf, einen Auszubildenden, der zu festgelegten Zeiten Küchenarbeiten verrichten musste. Olaf war mit dieser Regelung nicht einverstanden.

„Kapitän, in meinem Ausbildungsvertrag steht nichts über Küchenarbeiten“, sagte Olaf zaghaft.

„Das Heuerbüro hatte am Auslauftag keinen Kochsmaat zur Verfügung. Essen und Geld verdienen wollen wir alle. Einer muss dem Koch helfen. Du bist der Beste“, lobte ihn der Kapitän.

Olaf fühlte sich geschmeichelt und meldete sich beim Koch. „Zum Abendbrot gibt es sauer eingelegte Bratheringe und Bratkartoffeln. Beeil dich. Es ist noch ein halber Eimer mit gekochten Kartoffeln zu pellen“, war die schroffe Order des Kochs.

Olaf nahm den Eimer mit Kartoffeln, verließ die Kombüse durch das Außenschott und begann sitzend auf einem Hocker die Kartoffeln an der frischen Seeluft zu pellen. Wiederholt wurde er vom Koch angesprochen, sich zu beeilen.

„Beeil dich“, rief der Koch und zeigte auf die Uhr in der Messe.

Olaf war sauer. Er wusste von den Decksleuten, dass der Koch auf die Musterung eines Kochsmaates verzichtet hatte, um mehr Geld zu verdienen. Dies war nur mit Unterstützung des Kapitäns möglich. Olaf nahm sich bei seiner Tätigkeit viel Zeit. Willi Fretwurst wurde wütend und drohte Olaf mit allen möglichen Schikanen. Letztlich pellte Fretwurst den Rest der Kartoffeln selbst. Olaf meldete sich zum Brückenwachdienst und versah wieder seine Aufgaben als Ausguck.

„Kartoffel pellen muss gelernt sein“, hatte Olaf dem Koch auf seine Drohungen immer wieder geantwortet. Die Unzufriedenheit beider führte wiederholt zu Spannungen und Reibungen.

*

Das Abendessen, eingelegte Bratheringe und Bratkartoffeln, hatte der Koch pünktlich zubereitet. Die Decksleute kamen in die Messe, holten sich ihr Besteck aus einer Schublade und setzten sich auf die Bänke beidseitig der Back. Willi Fretwurst füllte die Teller.

Olaf reichte die Teller mit Bratkartoffeln und Bratheringen den an der Back sitzenden Decksleuten.

„Nimm deinen schmutzigen Daumen vom Teller“, ermahnte der Netzmacher Olaf.

„Du musst den Teller auf der Innenhandfläche tragen“, war der Hinweis des Kochs. Olaf hielt sich an die Weisung und bediente alle Männer wie gewünscht.

Auf der Back befanden sich zwei nasse Feudel, auf denen Schüsseln für die Gräten standen. Eingelegte Heringe gab es genug. Fretwurst wurde wiederholt von den Decksleuten für das wohlschmeckende Abendessen gelobt. Nach dem Abendbrot verließen die Decksleute die Messe. Jetzt waren Willi Fretwurst und Olaf dran, denn der Kapitän, die Steuerleute und das Maschinenpersonal hatten noch vor den Decksleuten zu Abend zu gegessen.

„Seit heute früh habe ich Magenschmerzen. Es ist bestimmt eine Entzündung der Magenschleimhaut“, klagte Fretwurst.

„Was ist die Ursache der Entzündung?“, fragte Olaf den Koch argwöhnisch.

„Zur Magenschleimhautentzündung kommt es häufig nach übermäßigem Alkohol- oder Nikotingenuss und Stress. Der Maschinist hatte mich und seinen Maschinenassistenten gestern Abend zum Skatspiel in seine Kammer eingeladen. Wahrscheinlich habe ich zu viel getrunken von seinem Schnaps und Bier“, jammerte der Koch und trank mit der Einnahme des Abendessen eine „Muck“ voll mit leicht gesüßtem Tee.

 

„Es wäre besser gewesen, wenn Sie keine Bratheringe und Bratkartoffeln heute Abend gegessen hätten“, sagte Olaf und meinte es ehrlich. „Herr Fretwurst, Sie müssen Diät essen“, empfahl Olaf.

Der Brechreiz und das Druckgefühl in der Magengegend steigerten sich bei Willi Fretwurst bis zur Übelkeit. Er musste brechen. Schnell lief er zur Toilette, die sich auf der Backbordseite des Betriebsganges befand. Das gerade verzehrte Abendessen erbrach er durch den Mund und die Nase.

Willi Fretwurst spukte mit dem Abendessen auch seinen Zahnersatz aus. Alles verschwand im Fallrohr der Toilette. Für den Koch brach eine Welt zusammen. Der Mund war durch die fehlende Prothese entstellt. Er traute sich nicht in den Toilettenspiegel zu schauen. Hässlich sah er aus. Olaf, der nach ihm schaute, traute seinen Augen nicht. Die Wangen des Kochs waren eingefallen und blass. Der Koch hatte Sprachschwierigkeiten, sabberte und lispelte. Olaf lief zum Kapitän und informierte ihn über das Geschehene. Paul Thiel verließ eilig den Brückenraum, nachdem er die Wache an den Zweiten Steuermann übergeben hatte, und eilte zur Toilette. Dort fand er den jammernden Koch in einem erbärmlichen Zustand. Thiel packte ihn an den Schultern und schob ihn aus dem Toilettenraum in den Betriebsgang.

„Geh in deine Kammer! Deine ‚Beißer‘ werden wir finden“, tröstete Paul Thiel den Koch.

„Bringe mir den Schlüssel für die Toilette aus dem Schlüsselkasten im Brückenraum und informiere den Bestmann, den Netzmacher und den Ersten Maschinisten. Sie sollen unverzüglich in der Messe erscheinen!“, sagte der Kapitän laut und hitzig zu Olaf.

Nachdem Olaf den Schlüssel gebracht hatte, verschloss Thiel die Toilette und begab sich in die Messe. Hier informierte er die Anwesenden über das Geschehene. „Der Zahnersatz des Kochs befindet sich noch im Fallrohr. Wir müssen die ‚Beißer‘ finden, sonst haben wir keinen Koch mehr. Ohne Koch gibt’s Probleme“, sagte der Kapitän mit Nachdruck.

„Solange nicht gespült wird, befindet sich der Zahnersatz vor der Sturmklappe im Fallrohr“, sagte der Erste Maschinist, der während der Werftzeit die Sturmklappe schon einmal ausgebaut und gewartet hatte.

„Wir müssen mit Wasser spülen. Dann öffnet sich die Klappe und der Zahnersatz fällt nach außen weg“, sagte der Maschinist.

„… und ins Meer“, sagte der Bestmann höhnisch.

„Der Zahnersatz muss, sobald er durch die Sturmklappe rutscht, aufgefangen werden“, erklärte der Kapitän den Männern.


Sturmklappe

Es wurde ein Schlauchboot ausgesetzt und in den Bereich der Sturmklappe gezogen. Zwei Decksleute und der Bestmann gehörten zur Bootsbesatzung. Sie sollten während des Spülens des Fallrohrs den Zahnersatz mit dem Korb auffangen. Das Schlauchboot wurde durch zwei Decksleute mit der Vor- und Achterleine fest am Schanzkleid gehalten. Der Netzmacher brachte einen Decksschlauch mit Strahlrohr unter Druck in die Toilette. Dort steckte er das Mundstück des Strahlrohres in das Fallrohr.

„Ich werde unsere Aktion überwachen. Sobald ich den Befehl ‚Wasser marsch‘ gebe, öffnet der Netzmacher das Strahlrohr und die Bootsbesatzung fängt mit dem Korb die herausrutschenden Fäkalien und den Zahnersatz auf“, war die Order des Kapitäns.

Alle waren bereit. Der Koch erschien an Deck und beobachtete das Tun der Männer. Er sah unglücklich aus und hoffte auf das Gelingen des Vorhabens.

„Wasser marsch“, rief der Kapitän.

Der Netzmacher öffnete kurzzeitig den Hebel des Strahlrohres und der Wasserstrahl drückte die vorhandenen Fäkalien und den Zahnersatz aus dem Fallrohr durch die Sturmklappe in den Korb. Beides wurde aufgefangen. Der Bestmann reichte den Korb in die Höhe des Schanzkleides, wo der Koch ihn entgegennahm und in den Fäkalien nach seinem Zahnersatz suchte. Er fand den Zahnersatz und war überglücklich. Unverzüglich reinigte er diesen mit Seifenpulver, Handbürste und fließendem Wasser im Abwaschbecken der Kombüse. Zum Glück war der Zahnersatz unbeschädigt und so steckte er ihn geschwind in den Mund. Er passte noch. Fretwurst war glücklich. Er strahlte Thiel zufrieden an und bedankte sich für die ‚Erste Hilfe‘.

„In der kommenden Werftzeit bekommt das Schiff einen Fäkalientank, dann gibt es keine Rettung mehr für Zahnersatz und sonstige ausgespuckte Dinge“, sagte der Kapitän warnend zum Koch.

„Sollte sich so ein Vorfall wiederholen, werde ich einen Eimer benutzen“, sagte der Koch in sich gekehrt. Er entschuldigte sich beim Kapitän und den anwesenden Rettern für sein Verhalten.

„Willi! In den folgenden Tagen ist für dich Diät angesagt“, war die unmissverständliche Weisung des Kapitäns.

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