Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung

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Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung
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Detlev Sakautzky

MARITIME ERZÄHLUNGEN

Wahrheit und Dichtung

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Seemannsgrab

Gefahr aus der Tiefe

Alle hielten den Atem an

Beweis des gemeinsamen Versprechens

Stolz auf das Erreichte

„Hilfe!“ „Hilfe!“ „Rettet mich!“

Gefahr des Kenterns

Nicht vergessen

Die See im Winter

Worterklärungen

SEEMANNSGRAB

Franz Bering, Kapitän der „Anna“, ein älterer, breitschultriger, erfahrener Hochseefischer, beobachtete den Seeraum von der Steuerbordseite des Brückenraumes. Tiefe Nebelschwaden behinderten die Sicht rundum. Bering hatte das vordere und seitliche Brückenfenster weit geöffnet, um Nebelsignale von den in der Nähe fischenden Trawlern rechtzeitig wahrzunehmen. In kurzen Zeitabständen gab er die vorgeschriebenen Nebelsignale mit dem Typhon, um auf sein Schiff, die „Anna“, aufmerksam zu machen.

Der Funker, Konrad Pietsch, ein junger schlanker Mann mit kurzem blonden Haar stand hinter dem Kapitän und wartete den Echographen. Er entnahm die verbrauchte Rolle Registrierpapier aus dem neuen Gerät, das den Verlauf und die Beschaffenheit des Meeresgrundes, die Wassertiefe, Fischschwärme und das Plankton in den letzten Tagen aufgezeichnet hatte. Er legte eine neue Rolle ein. Der Kapitän überprüfte die Funktionstüchtigkeit des für den Fischfang wichtigen Gerätes und äußerte seine Zufriedenheit über das Ergebnis der vorgenommenen Wartungsarbeiten.

„Conny, das hast du gut gemacht“, lobte der Kapitän den Funker.

„Wie immer“, war die spontane Antwort des Funkers.

Auf das technische Wissen und die Fertigkeiten des Funkers bei der Wartung und Reparatur konnte sich der Kapitän verlassen. Auf dem neu eingelegten Echographenpapier waren wieder Anzeigen von Fischschwärmen über dem Meeresgrund sichtbar, das hob die gute Stimmung des ehrgeizigen Kapitäns.

„Morgen ist der vorderste und damit der letzte Eisraum voll, dann geht es nach Hause“, antwortete der Kapitän auf die drängenden Fragen des Funkers nach dem möglichen Tag des Antritts der Heimreise.

„Meine Frau bekommt ihr erstes Kind, da möchte ich gern zu Hause sein“, sagte Pietsch besorgt.

„Wir sind zur Geburt deines ersten Kindes pünktlich zu Hause“, versicherte Bering seinem Funker. Pietsch zog sich in seinen beengten Funkraum zurück, um Telegramme und Meldungen zu empfangen. Er führte Wartungsarbeiten an den technischen Geräten ungern durch. Heute war der Tag für die wöchentliche Transitausgabe, auch eine von vielen Aufgaben, die der Funker erfüllte. Zollfreie Zigaretten, Kaffee, Wein und Schnaps verkaufte er an die Besatzung im Auftrag der Reederei. Auf der Heimreise berechnete er den Geldbetrag der verkauften, zollfreien Waren für jedermann. Der Betrag wurde durch die Lohnbuchhaltung der Reederei vom Verdienst der Reise abgezogen. Der Verkauf einer größeren Menge Alkohol ohne die Genehmigung des Kapitäns war nicht erlaubt. Auch in diesem Fall konnte sich der Kapitän auf Pietsch verlassen.

Es kam vor, dass einige Männer die Wirkung des Alkohols nicht richtig einschätzten und einige Stunden bei der Arbeit an Deck wegen Trunkenheit fehlten.

„Schnaps und Wein gibt es erst, wenn wir auf Heimreise sind“, war die strenge Order des Kapitäns an den Funker. Die Arbeit an Deck war in den letzten Tagen anstrengend gewesen. Die Decksleute waren von der körperlich schweren Arbeit erschöpft. Täglich achtzehn Stunden ununterbrochene Arbeit an Deck, sechs Stunden Ruhe, das war der Tagesrhythmus für die Decksleute. Einholen, Aussetzen, Bearbeiten des Fanges unter erschwerten Bedingungen. Frost und Schneefall, das Krängen und Stampfen des Trawlers sowie die überkommende See schlauchten die Männer.

„Keine Ausgabe von Alkohol. Order des Kapitäns, heute gibt es nur Zigaretten und Kaffee“, informierte Pietsch die Decksleute. Die Nachfrage nach hochprozentigem Alkohol war gering, die Männer waren müde und hatten Verständnis für die befristete Entscheidung ihres Kapitäns. Die Transitausgabe war schnell beendet, der Funker verschloss den Store und ging in den Funkraum zurück, um den Wetterbericht zu empfangen.

Der Store mit den zollfreien Waren wurde während der Reise verschlossen gehalten, nur zur festgelegten Ausgabezeit geöffnet und vor dem Einlaufen in den Hafen verplombt.

*

Große kantige und spitze Eisberge, einige Growler, riesige Treibpackeisfelder drifteten in der Nähe der „Anna“ langsam mit dem kalten Labradorstrom in südöstliche Richtung.


Driftende Treibpackeisfelder.

Lang gestreckte Waken unterbrachen die riesigen Treibeisfelder am Rande des Schelfgebietes, die das Schleppen des Grundnetzes an der Nordostkante der Neufundlandbank noch ermöglichten. Große und kleine Eisschollen, die auch hier vorhanden waren, erschwerten das Halten des vorgesehenen Kurses und zwangen den Kapitän wiederholt zu Ausweichmanövern.

„5 Grad Steuerbord“, befahl der Kapitän mürrisch.

„5 Grad Steuerbord“, wiederholte laut der Rudergänger und begann mit der Ausführung des Ruderkommandos.

Nicht selten kam es in der Außenhaut des Schiffes, insbesondere im Bereich des Vorstevens, durch das Anstoßen von hartem Eis, zu Einbeulungen.

Der Kapitän schaute auf das Radarbild. Reflexionspunkte zeigten die in der Nähe fischenden Fahrzeuge, breite Treibeisfelder und mehrere Eisberge. Er bestimmte durch Radarpeilungen deren Richtung und Entfernung zur „Anna“ und befahl rechtzeitig Kursänderungen, die der Rudergänger weisungsgemäß vornahm. Er wusste, die Kollision mit einem, auch kleineren Eisberg, kann zu Schäden am Schiff, im schlimmsten Fall zum Untergang des Schiffes führen.

Der Kontakt zu den Kapitänen und Wachhabenden der anderen fischenden Fahrzeuge wurde mittels des UKW-Sprechfunkgerätes, das ständig in Betrieb war, gehalten. Auf vereinbarten Arbeitskanälen erfolgte der tägliche Informationsaustausch zu den Fangergebnissen, Anzeigen von Fischschwärmen, Wassertiefen und „Hackern“. Häufig wurden Ausweichmanöver mit entgegen kommenden und kreuzenden Fahrzeugen vereinbart, um Kollisionen und Netzschäden zu vermeiden.

Der Seitentrawler „Anna“ war eines von vielen fischenden Fahrzeugen in diesem Gebiet. Fahrzeuge verschiedener europäischer Länder fingen jedes Jahr zu dieser Zeit, große Mengen Kabeljau, Schwarzen Heilbutt und Rotbarsch.

Das Grundschleppnetz der „Anna“ wurde mithilfe starker, sechskardeeliger, markierter Drahtkurrleinen über den rauen Meeresgrund geschleppt. Seitlich offen gehalten wurde das Netz durch die Scherwirkung von zwei großen Seitenscherbrettern, nach oben durch Auftriebskugeln und einem Höhenscherbrett. Grundtaukugeln und Klotje aus Stahl, Gummi, Guss unterschiedlicher Größe, befestigt auf Drahtstandern, sicherten den Bodenkontakt des Netzes. Geschleppt wurde in verschiedenen Wassertiefen auf unterschiedlichem Meeresbodenprofil. Der durch das Vornetz gefangene Fisch sammelte sich im Tunnel und dann im Steert, dem letzten und doppelt gestrickten Netzteil. Beschädigungen durch die am Grund liegenden Steine führten häufig zu Schäden an den Unterflügeln, am Tunnel und Steert sowie zum Verlust des schon gefangenen Fisches. Statt Fisch wurden Steine im Steert an Deck gehievt, die gesammelt und auf der Heimreise im tiefen Wasser des Atlantiks ins Meer geworfen wurden.

*

Chris hatte einen großen abgerundeten Stein für den Vorgarten des Hauses seiner Mutter am vorderen Mast abgelegt und gegen Verrutschen gesichert. Er hatte die Erlaubnis des Kapitäns für sein Vorhaben erhalten.

„Mein Bruder hat ein Gütertaxi, er wird den Stein holen. Ich helfe dir beim Auf- und Abladen“, versprach Martin seinem Freund.

Chris hatte schon eine Brook aus alten Netzstücken für den Transport des Steines gefertigt.

 

„Meine Mutter wird sich bestimmt freuen. Der Vorgarten des kleinen Hauses ist ihr Schmuckstück. Sie wünschte sich so sehr einen großen Stein für die weitere Verschönerung der Blumenrabatten“, sagte Chris zu Martin. Diesen Wunsch erfüllte er ihr gerne.

Die aktuellen Ausschläge der Fischlupe ließen Fischvorkommen bei gleichbleibender Wassertiefe dicht über dem steinigen Meeresgrund vermuten, deren Position der Kapitän in eine Arbeitskarte eintrug.

An Deck wurde noch der Fang des Nachthols bearbeitet. Ölzeug schützte die Decksleute vor der überkommenden See und zunehmenden Kälte.

Der in den Deckshocken ausgeschüttete Rotbarsch wurde mit Handpicken in geflochtenen Körben gesammelt, der Kabeljau und Schwarze Heilbutt mit scharfen, speziellen Messern geschlachtet und gewaschen.

„Heiße Getränke mit Schuss gefällig?“, rief der Kochsmaat mit lauter Stimme. Er brachte zwei große Blechkannen, gefüllt mit heißem Tee, an Deck. Das Angebot des Kochmaates wurde sehr gern angenommen. Der Tee wurde in „Mucken“, kleinen Tassen, ausgeschenkt und durchwärmte die durchgefrorenen Körper der Decksleute. Der „Schuss“ erhöhte den Arbeitselan bei der weiteren Bearbeitung des in den Deckshocken ausgeschütteten Fisches.

„Nachschlag mit mehr „Schuss“ im Tee!“, rief der Netzmacher, der keinen Tee mehr erhalten hatte. Der leichtbekleidete Kochsmaat stellte sich taub und verließ schnell ohne Zusage das Deck. Er hatte keine Lust mehr in der frostigen Luft und bei überkommender See den Tee auszuschenken.

„Macht euch warme Gedanken, dann friert ihr auch nicht“, rief der Kochsmaat und verließ das nasse, rutschige Arbeitsdeck mit den leeren Blechkannen.

Das Schlachten des Kabeljaus erfolgte durch einen Längsschnitt vom After bis in den Kiemenbereich. Es wurde die Speiseröhre durchtrennt und die Eingeweide mit der Innenhand entnommen.

Der Schwarze Heilbutt wurde durch Längs- und Kehlschnitt geschlachtet. Bei diesem Fisch wurden zusätzlich die Kiemen und die Blutrinne entfernt.

Die zum Schlachten benutzten Messer wurden beim Einholen und Aussetzen des Netzes in Messertaschen, die an einem selbst gefertigten Ledergürtel aus Ochsenfell befestigt waren, an der Hüfte getragen. Sie gehörten zur Ausstattung eines jeden Decksmannes. Nach jedem Hol, auch während des Schlachtens, wurden die Klingen der Messer nachgeschärft.

Für die Herstellung von Öl wurde die Leber des Kabeljaus und Schwarzen Heilbutts aus dem Bauchraum des Fisches entnommen und in Körben gesammelt.

Gekocht wurde die frische Leber mit Dampf in einem Metallfass. Heißer Dampf trennte das Öl von den festen Bestandteilen der Leber. Nach dem Kochprozess wurde das im Fass oben schwimmende Öl abgeschöpft und in Transportfässer gefüllt. Jeder abgefüllte Liter Tran brachte einen zusätzlichen Verdienst für jedermann an Bord.

„Es stinkt nach Geld“, scherzten die Decksleute, sobald sich der Geruch, der beim Kochen der Fischleber entstand, spürbar ausbreitete. Andere meinten: „Geld stinkt nicht.“ Einige schlürften das warme Öl vom Löffel, um ihre Gesundheit zu stärken, andere erbrachen aufgrund des besonderen Geschmacks und Geruchs des frisch gekochten Öls.

„Mit etwas Salz und Pfeffer schmeckt das warme Öl besonders gut“, scherzte der Maschinenassistent, der für das Kochen der Leber und das Abfüllen des Öls beauftragt war. Auf der Steuerbordseite des Arbeitsdecks wurde der Fischküt in den Wassergraben über die Wasserpforten und Speigatten ins Meer gespült.


Möwen begleiten den Trawler.

Die Möwen stürzten sich, dicht an der Bordwand, schreiend und kreischend auf die an Bord nicht verwendbaren, im Wasser schwimmenden Reste des Fanges. In wenigen Minuten war alles vertilgt. Die Möwen begleiteten den Trawler Tag und Nacht, in Schwärmen, bis zum letzten Hol.

Der geschlachtete Fisch wurde gespült, von Blut gereinigt und in einen Blechtrichter, der im Lukensüll eingesetzt war, geschüttet. Im Trichter eingehängte Rutschen führten den bearbeiteten Fisch in die vorbereiteten Hocken des Eisraumes. Dieser war isoliert und mit einer robusten Holzverkleidung versehen. Die Zugabe der Eisstücke gewährleistete die notwendige Kühltemperatur und verlängerte die Totenstarre des eingelagerten Fisches. Die Hocken wurden durch schmale Längsschotten und Vorstecker aus Holz gebildet. In der Hocke ausgelegte Abborder trennten die Fischarten und verhinderten qualitätsmindernde Druckstellen am Fisch.

Chris lockerte die zusammen gefrorenen Eisstücke einer bis oben gefüllten Hocke mit einer spitzen, scharfen Picke. Er warf diese mit einer großen Schaufel auf die Bühne, einen langen Gang in halber Höhe des Eisraumes.

„Martin, du kannst die Rutschen umlegen und verlängern, die Hocke ist fast leer“, rief Chris tief stehend aus der leeren Hocke.

„Beim nächsten Hol werden wir die Rutschen umsetzen“ antwortete Martin keuchend und vereiste von der Bühne aus den über die Rutschen einlaufenden Fisch.

Martin verteilte mit der Schaufel die Eisstücke. Fisch und Eisstücke wurden mit langen Schiebern bis unter die isolierte Raumdecke geschoben und bildeten einen festen gekühlten Verband.

Derbe Segeltuchhosen, dicke Pullover, gummierte Ärmelschoner, lange Seestiefel, Gummihandschuhe, Segeltuchhandschuhe schützten beide vor der Nässe und Kälte der Raumluft sowie gegen Verletzungen, besonders durch Rotbarschstachel.

Das Vereisen des Fisches war eine körperlich sehr anstrengende Tätigkeit. Schweiß lief beiden, trotz der Kälte des Eisraumes, übers Gesicht. In kürzester Zeit schaufelte Chris sehr große Mengen an Eisstücke, teils rückwärts über den Kopf, auf die Bühne, die Martin über den Fisch in der Hocke verteilte.

Martin und Chris kannten sich schon aus der Schulzeit. Sie kamen aus einem kleinen Dorf am Saaler Bodden. Dort waren sie als Kinder in dieselbe Schule gegangen und hatten nach dem Schulabschluss den Beruf des Hochseefischers erlernt. Martin, der Ältere und Größere von beiden, besuchte nach längerer Fahrzeit auf verschiedenen Loggern und Trawlern die Seefahrtschule in Wustrow. Dort erwarb er das nautische Patent zum Führen eines Schiffes der Großen Hochseefischerei. Seit einem Jahr fuhr er als Zweiter Steuermann auf der „Anna“. Die qualitätsgerechte Einlagerung des bearbeiteten Fisches gehörte unter anderem zu seinen Aufgaben.

Darüber hinaus erfüllte Martin die Aufgaben des Gesundheitsschutzes an Bord. Er behandelte Wundverletzungen, wie Rotbarschvergiftungen, Abschürfungen an der Hand, Fingerbrüche, Prellungen, Verstauchungen, Zahnschmerzen, Erfrierungen, Verbrühungen, Verbrennungen und Entzündungen. Ein Medizinschrank, ausgerüstet mit Verbandsmaterial, Medikamenten sowie medizinischen Hilfsmitteln befand sich in der Krankenkammer auf der Steuerbordseite der Aufbauten des Hauptdecks. Eine eingebaute Schlingerkoje gehörte auch zur Ausrüstung, die bei starken Schlinger- und Stampfbewegungen den Genesungsprozess von Schwerkranken erträglicher machte.

*

Die guten Fänge der letzten Tage sicherten eine hohe Fangprämie. Auf dieser Reise wurde viel Geld verdient. Chris benötigte dringend einen größeren Geldbetrag. Er hatte mit dem Dachdecker seines Dorfes die Erneuerung des Reetdaches, des kleinen Hauses seiner Mutter, das er mit ihr gemeinsam bewohnte, vereinbart.

Das Haus war Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden und stand unter Denkmalschutz. Er beabsichtigte das Haus Schritt für Schritt zu erneuern.

Chris Vorfahren waren Boddenfischer und Bauern, die das Haus mit einem kleinen Grundstück über Jahrzehnte in der Familie weiter vererbt hatten. Er war bestrebt das alte Familienerbe zu erhalten.


Kleines Haus mit Reetdach.

„Nach deiner Heimkehr möchte ich das Grundstück auf deinen Namen in das Grundbuch eintragen lassen“, hatte die sorgende Mutter ihm liebevoll beim Abschied mitgeteilt.

Sie wollte alles rechtzeitig regeln. Bei den letzten schweren Kampfhandlungen am Ende des Krieges hatte sie ihren Mann verloren. Chris war ihr einziges Kind. Den Lebensunterhalt verdiente sie für sich als Arbeiterin beim Dünenschutz. Wiederholt hatte sie ihren Sohn aufgefordert, die schwere Arbeit in der Hochseefischerei aufzugeben.

„Bleib an Land, im Fischereihafen werden noch Decksleute für den Dienst auf den Schleppern gesucht. Die Arbeit wird dir auch Spaß machen. Unser Nachbar, Herr Trost, arbeitet auch dort“, redete sie eindringlich auf ihn ein.

„Der Verdienst in der Hochseefischerei ist gut, der Beruf gefällt mir, mit den Kollegen an Bord komme ich gut zurecht, später möchte ich wie Martin die Seefahrtsschule besuchen“, hatte er ihr immer stolz und beruhigend erklärt. Einen schöneren Beruf gab es für Chris nicht.

„Geld ist nicht alles im Leben“, entgegnete die Mutter und war sehr traurig über die Einstellung ihres Sohnes. Gern hätte sie Chris umgestimmt. Alle Bemühungen waren ohne Erfolg geblieben. Sie hatte Angst, dass er eines Tages nicht mehr von See zurückkam und sie den Sohn verlieren würde, auf den sie ihre ganze Hoffnung setzte.

Häufig dachte Chris an Linda, die Schwester von Martin, mit der er sich in der Freizeit heimlich verlobt hatte. Chris und Linda wollten es der Mutter und ihren Eltern nach dieser Reise mitteilen. Martin sollte es noch auf dieser Reise erfahren.

*

Der letzte Korb mit Kabeljau war unter Deck gebracht und vereist worden. Martin beauftragte Chris mit der Kontrolle und Reinigung der Bilge und des Lenzbrunnens. Beide wussten, dass eine Verstopfung des Lenzbrunnens eine Qualitätsminderung des Fisches durch nicht ablaufendes, tauendes Eiswasser zur Folge hatte.

„Alles in Ordnung, Lenzbrunnen und Bilge sind frei!“, rief Chris aus der Tiefe des Raumes.

Beide verließen über eine transportable Holzleiter den Eisraum, deckten die Luke mit einem schweren Thermodeckel und der Lukenpersenning ab, um den Eintritt von überkommendem Spritzwasser zu verhindern und die Kühlraumtemperatur zu halten.

Die Arbeit an Deck war beendet. Die Decksleute hatten das Deck gereinigt verlassen und sich in die Messe, im Achterschiff, zur Mittagsmahlzeit begeben.

Martin und Chris gingen auch in die Messe, um Mittag zu essen. Vorher hatten sie ihre Schutzbekleidung ausgezogen und im Trockenraum abgelegt. Der Kochsmaat reichte beiden eine Schüssel Erbsensuppe mit Speck. Chris setzte sich an die lange Back neben Fritz. Es wurde eilig gegessen. „In einer halben Stunde will der „Alte“ hieven lassen“, sagte Fritz.

„Es bleibt noch Zeit für eine Tasse Kaffee“, meinte Chris.

„Komm zu mir auf die Kammer, ich „werfe“ den Wasserkocher an“, sagte Fritz, verließ die Messe und ging zu seiner Kammer ins Vorschiff.

Martin, der sich auch mit dem Essen beeilt hatte, ging auf die Brücke, um den Kapitän für die Einnahme der Mittagsmahlzeit abzulösen. Die Sicht hatte sich verbessert. Zwei in der Nähe schleppende Trawler wurden in einer Meile an Steuerbord querab gesichtet.

„In einer halben Stunde will ich hieven“, sagte der Kapitän zu Martin.

„Halte die Wassertiefe! Auf dem Echographenpapier sind noch einige Fischanzeigen zu sehen“, sagte der Kapitän, bevor er eilig den Brückenraum verließ.

Der Funker brachte den Wetterbericht.

„Zunehmendes Treibpackeis, Wind aus Nordwest, Stärke sechs, gute Sicht, gutes Fischwetter“, informierte er den Zweiten Steuermann. „Das Eis behindert aber mehr und mehr das Aussetzen und Hieven“, erwiderte Martin mit sorgenvoller Miene.

Eilig kam der Kapitän wieder zurück. „Er hat die Erbsensuppe wahrscheinlich ungekaut geschluckt“, flüsterte Martin zum Funker.

Kapitän Bering übernahm wieder die Wache und beauftragte Martin die Mittagsposition zu bestimmen. Martin ermittelte mit einer Funkstandlinie und der aktuellen Wassertiefe den Schiffsort. Er trug die ermittelte Position in das Schiffstagebuch und in die Seekarte ein.

*

„Strom an die Winde!“, befahl der Kapitän über das Bordtelefon den Wachhabenden in der Maschine. „Strom an die Winde“, wiederholte der Chief.

„Klarmachen zum Hieven“, war die Weisung des Kapitäns an die Windenwache.

Der Bestmann und Hans Blank kuppelten beide Kurrleinentrommeln ein und lösten die Handbremsen.

„Kurrleinenwinde klar zum Hieven“, meldete der Bestmann durch Zuruf dem Kapitän.

 

Der Wind kam von Steuerbord.

„5 Grad Steuerbord“, befahl der Kapitän den Rudergänger.

„5 Grad Steuerbord“, wiederholte der Rudergänger und befolgte die Anordnung.

„Hau los!“, rief der Kapitän nach achtern.

„Hau los“, wiederholte Ortwin, der auf die Order des Kapitäns gewartet hatte.

Er löste das belegte Bändsel auf dem Sicherungsstift, zog den Stift heraus und schlug mit der Brechstange die Sliphakenhalterung nach oben frei. Der lose Bügel des Sliphakens öffnete sich und beide Kurrleinen fielen nach unten weg.

„Hiev up!“, rief der Kapitän und legte den Maschinentelegraphen auf „Langsame Fahrt Voraus“.

„Hiev up“, wiederholte der Bestmann und begann mit dem Hieven beider Kurrleinen, die über die Galgen- und Königsrollen zu den Windentrommeln führten und gleichmäßig aufgeleitet wurden. Das Aufleiten erfolgte über einen Leitwagen, der mittels eines großen Handrades, über Getrieberäder und einer Zahnstange, durch einen kräftigen Decksmann mit der Hand bewegt wurde. Die Kurrleinen waren durch eingespleißte Kardeele markiert. Auf einer Länge von hundert Metern waren zwei Marken, auf einer Länge von fünfzig Metern war eine Marke eingespleißt, die der Bestmann beim Hieven zählte. Die letzten fünfzig Meter der Kurrleinen hatten drei Marken.

„Letzte fünfzig“, meldete der Bestmann dem Kapitän.

Der Hievvorgang wurde durch den Bestmann unterbrochen.

„Hart Steuerbord“, war die Order des Kapitäns an den Rudergänger, der die Weisung sofort ausführte.

Der Trawler wurde soweit gedreht, bis er mit der Steuerbordseite quer zur See lag.

„Halbe Fahrt Zurück“ und „Maschine Stopp“, waren die nacheinander folgenden Befehle des Kapitäns an den Maschinenfahrstand.

„Hiev up“, befahl der Kapitän, nachdem das Schiff keine Vorausfahrt mehr machte.

Der Bestmann hievte langsam die letzten fünfzig Meter der Kurrleinen.

„Achter Brett kommt“, rief Sörn, der mit seinem Zwillingsbruder Björn das Abfangen des Seitenscherbrettes vorbereitete.

Der Bestmann hievte die achtere Kurrleine ganz langsam bis das aus Wirbel, Quetschglied und Schäkel bestehende Element in der oberen Galgenrolle sichtbar wurde.

Björn warf die Abfangkette durch den kleinen und großen Bügel des Seitenscherbrettes und befestigte diese in den Abfanghaken, der am oberen Teil des Galgens angeschäkelt war.

Der Bestmann fierte die achtere Kurrleine auf Sörns Handzeichen ein. Das Scherbrett hing jetzt fest in der Abfangkette. Es kam „Lose“ auf die Kurrleine. Björn und Sörn lösten das Quetschglied aus dem G-Haken und die Sicherungskette für den Zwischenstander.

„Achtern klar zum Hieven“, rief Björn.

Der Bestmann kuppelte die Steuerbordwindentrommel aus.

Jetzt wurde das vordere Seitenscherbrett mit der Backbordwindentrommel vorgehievt.

Chris und Hans Kubutat fingen das vordere Seitenscherbrett mit der Abfangkette ab, Chris gab das Zeichen zum Einfieren.

Es kam „Lose“ auf die Kurrleine. Hans nahm den G-Haken aus dem Quetschglied. Chris löste die Sicherungskette für den Zwischenstander.

„Kurrleine klar zum Hieven!“, rief Chris.

Der Bestmann kuppelte die Steuerbordwindentrommel ein und hievte ganz langsam beide Kurrleinen.

Die durch das Hieven entlasteten Brettstander beider Seitenscherbretter wurden abgeschäkelt. Vorher wurden sie, vorn und achtern, mit dem Bootshaken griffbereit durch Chris und Björn, herangezogen.

Die Fünfzig Fuß-Stander wurden gehievt, die anschließenden „Ponnybretter“, Spreizmittel für die Flügel, vorn und achtern, abgefangen und abgeschäkelt. Beim Weiterhieven kam das Rollengeschirr aus dem Wasser. Es wurde in Höhe des Schanzkleides, unter Berücksichtigung der durch den Seegang verursachten Krängung des Schiffes nach Steuerbord, eingefiert und binnenbords abgelegt.

Die gut gefetteten Klauen der Kurrleinenwinde wurden ausgekuppelt, die mechanischen Bandbremsen fest angezogen.

Die Decksleute holten die vorderen und achteren Netzstander und Flügel mit der Hand unter Mitwirkung der Krängung des Schiffes ein.

Zügig wurde eingeholt, sobald das Schiff nach Steuerbord überholte. „Hol weg“, rief Martin. Die Decksleute zogen gleichmäßig die „Lose“ weg. Chris hievte das Höhenscherbrett und Oberblatt des Netzes, mithilfe des „Pferdes“, einer Leine aus Sisal, über den „Toten Mann“, einer Decksstütze mit Leitrolle, bis in die Höhe des Schanzkleides. Martin pickte den Flitzerhaken in die Mitte der oberen Randleine, der Haedleine, ein. Der „Flitzer“ wurde über den schnell laufenden kleinen Spillkopf durch Chris gehievt. Es kam „Lose“ in das Oberblatt. Das Vornetz wurde durch die Decksleute mit der Hand weiter eingeholt, bis das Trichterstück erreicht war.

Martin legte mit dem Netzmacher einen kurzen Herkulesstropp zweimal um das Trichterstück.

„Pick den Flitzerhaken ein!“, rief Martin.

Der Netzmacher pickte den Flitzerhaken in die Augen des Stropps ein.

„Hiev up!“, rief Martin.

Chris legte drei Törns um den Spillkopf und hievte den „Flitzer“. Das Trichterstück und der Tunnel kamen nach oben, der Fisch rutschte im Tunnel nach unten in den Steert.

Martin legte mit dem Netzmacher einen neuen Stropp um den Tunnel, sobald dieser bis zum Block des „Flitzerstags“ hoch genug gehievt war.

„Lets go!“, rief Martin und schaute nach Chris.

Chris warf den „Flitzer“ vom Spillkopf. Das gehievte Netzteil fiel nach unten. Nach dem Loswerfen des Flitzers klemmte Martin mit dem Gewicht seines Oberkörpers das Netz am Schanzkleid fest, um ein Herausgleiten des Tunnels zu verhindern. Der Netzmacher löste den Flitzerhaken und pickte diesen in die beiden Augen des neu umgelegten Stropps ein.

Es wurde weiter gehievt, bis der volle Steert sichtbar wurde. Der Kapitän, der aus dem offenen Brückenfenster das Einholen des Fanggeschirrs überwachte, schätzte sechzig Korb, sehr großen Kabeljau. Martin legte zusammen mit dem Netzmacher den dicken Hievstropp, aus sechskardeeligem Herkules, dreimal um das obere Ende des vollen Steertes und hakte den „Bobbyhaken“ in die Augen des Stropps ein.

„Hiev up, Bobby!“, rief Martin.

„Hiev up, Bobby“, wiederholte laut der Backbordwindenmann, legte vier Törns des Bobbyläufers um den großen Spillkopf auf der Backbordseite der Kurrleinenwinde und begann mit dem Hieven des vollen Steertes.

„Alles unter raus“, rief Martin. Die Decksleute begaben sich eilig in den Bereich des „Toten Mannes“, ein scheinbar sicherer Platz im Fall des Bruchs des Steertblocks oder Läufers.

Hans hatte vorher das Fangtau am Schanzkleid, in einen Bauchschäkel, einer dort angebrachten starken, steglosen Kette, eingehakt.

Der Steert wurde mit Gefühl über das Schanzkleid gehievt, als der Trawler nach Steuerbord überholte. Dadurch wurde die hohe Belastung des Steertblocks und Läufers beim Überhieven des vollen Stertes etwas vermindert. Das Abfangen des vollen, vertikal hängenden Steertes im eingehängten Fangtau führte immer zu einer besonders starken Belastung des Auges des Steertblockes. In dem Moment des Abfangens des Steertes brach unerwartet das Auge des Blocks.

Block und Läufer schleuderten in Richtung des „Toten Mannes“ und trafen den dort stehenden Chris am Kopf und Hals. Alle Decksleute sahen erschrocken den fürchterlichen Unfall.

„Holt die Krankentrage und das Verbandsmaterial!“, schrie Martin aufgeregt.

Björn und Sörn holten beides sofort aus der Krankenkammer.

Vorsichtig wurde der schwer verletzte Chris durch Martin und zwei Decksleuten waagerecht auf der Krankentrage abgelegt, gesichert und von Deck getragen. Im trockenen, warmen Vorraum hinter der Kurrleinenwinde wurde mit den Erste-Hilfe-Maßnahmen begonnen.

Der Kapitän, der den Unfall aus dem vorderen Brückenfenster wahrnahm, ließ unverzüglich den Ersten Steuermann wecken, der wachfrei hatte.


Abgefangener Stert

Er informierte über UKW-Sprechfunk die Wachhabenden der fischenden Fahrzeuge über den schweren Unfall und bat diese um ärztliche Hilfe.

„Kein Arzt an Bord“, bedauerten die angesprochenen Wachhabenden der anwesenden Fischtrawler und boten andere mögliche Hilfen an.

Nach der Wachübergabe an den Ersten Steuermann eilte der Kapitän an Deck und unterstützte Martin bei der „Ersten Hilfe“. Chris hatte das Bewusstsein verloren. Sichtbar waren am Kopf Riss- und Platzwunden, Schädelverformungen, Austritt von Blut aus Nase, Mund, Ohren und Hals. Durch Martin wurden schnell keimfreie Kompressen vorgelegt und durch breite Binden festgehalten. Die stark blutenden Verletzungen im Halsbereich wurden durch Pressverbände verbunden. Der Kapitän und Martin unterstützten sich bei den „Ersten Hilfe“-Maßnahmen. Der Puls von Chris war sehr schwach, setzte aus, es wurde kein Atem und Herzschlag mehr festgestellt. Beide führten unverzüglich die Herzdruckmassage durch. Bering legte den Ballen der rechten Hand auf die Mitte der Brust, den Ballen der linken Hand darüber, drückte mit gestreckten Armen und geradem Rücken den Brustkorb fünf bis sechs Zentimeter tief ein. Nach jedem Druck entlastete er den Brustkorb vollständig. Nach häufigen Drücken, überstreckte er den Kopf, um die Atemwege freizumachen. Martin beatmete gleichmäßig die Nase. Nach einigen Beatmungen setzte der Kapitän die Herzdruckmassage fort. Sie wechselten sich ab. Die Körperwärme von Chris wurde durch Decken, die Martin über den leblosen Körper legte, erhalten.