Regensburg am Schwarzen Meer

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Nach einer Weile stehe ich auf und gehe zur Bar.

»Ich hätte gerne noch eins«, sage ich, stelle das leer Glas auf den

Tresen und der Barkeeper sieht mich fragend an.

»Bist Du Engländer? Skandinavier? Woher kommst Du?«

»Aus Deutschland.«

»Du bist der erste Deutsche«, sagt er, »den ich kennenlerne, der

Tschechisch spricht. Dafür gebe ich dir eins aus.«

Er stellt ein volles Glas vor mich und nickt anerkennend.

»Ich selbst bin Slowake«, sagt er und legt seine mächtigen Unterarme auf den Tresen. »Und die Ungarn hier in der Stadt … Es ist nicht immer einfach. Die Ungarn sind stur und die Slowaken sind stur, aber am blödesten von allen stellen sich die Politiker an.«

Er grinst, zapft sich auch ein Bier und nimmt einen tiefen Schluck.

»Ein paar Deppen in Budapest sind auf die Idee gekommen, allen Auslandsungarn ungarische Pässe geben zu wollen«, sagt er. »Und unseren Hornochsen in Bratislava ist daraufhin nichts Besseres eingefallen als ein Gesetz zu fordern, dass Ungarisch in der südlichen Slowakei in Zukunft nur noch Zweitsprache sein dürfte. Jeder Hundefurz müsste also erst auf Slowakisch beschriftet werden, bevor sie die ungarische Variante daneben schreiben könnten.«

Er schüttelt den Kopf.

»Daraufhin haben unsere Ungarn natürlich laut zu schreien angefangen, dass sie diskriminiert werden. Und mit solchen Spielchen vertreiben wir uns hier im Grenzgebiet die Zeit, wie die kleinen Kinder«, sagt er und seufzt.

HINTER ŠTÚROVO ERHEBEN SICH Hügel und Berge und am Mittag sehe ich die Burg von Visegrád, die rechts auf einem steilen Kegelberg steht. Das Donauknie. Nun fließt der Fluss nach Süden und kurz davor zweigt rechts der Szentendre-Arm ab.

»Szentendre, alte serbische Siedlung, Künstlerkolonie, wichtiges Ausflugsziel«, schreibt der Wasserwanderführer und nennt eine Anlegemöglichkeit auf den Kiesbänken unterhalb der Stadt, warnt aber davor, »die Boote nicht unbewacht zurückzulassen.«

So ein Blödsinn, denke ich. Sollte ich mich ausgerechnet am letzten Abend neben mein Boot setzen und aufpassen, dass es nicht geklaut wird? Ich beschließe, die Warnung zu ignorieren und spaziere durch die kleine Stadt mit ihren alten Häusern und Kirchen, dem gepflasterten Marktplatz und einem grünen Anger. Szentendre ist mittelalterlich verwinkelt und ein Touristenort mit mehrsprachigen Speisekarten. Es ist auch recht teuer für ungarische Verhältnisse, aber ich setze mich trotzdem in ein Café am Markt.

Es sind noch 15 Kilometer bis Budapest und am liebsten würde ich weiterfahren, immer weiter die Donau hinunter, tagelang, wochenlang, bis ans Schwarze Meer, so sehr habe ich mich an den immer gleichen Rhythmus gewöhnt, an die immer gleichen und doch so unterschiedlichen Tage auf dem Fluss. Auch die unbequemen Nächte im Zelt auf der dünnen Isomatte stören mich nicht mehr, ich habe mich längst schon daran gewöhnt, kein Bett mehr zu haben und nur alle paar Tage eine Dusche.

Am Abend setze ich mich neben das Zelt und öffne mir eine Büchse Bier. Ich möchte mich vom Fluss verabschieden, auf dem ich drei Wochen lang zu Hause gewesen bin und der mich mit sich getragen hat über mehr als siebenhundert Kilometer, geduldig und breit.

Die Sonne versinkt hinter den Bäumen am Ufer und ich trinke und rede mit mir selbst und mit dem Fluss. Es ist mir egal, ob mich jemand hören und was er dann über mich denken könnte, denn ich bin traurig und ein bisschen betrunken, ich rede halblaut vor mich hin und sage dem Fluss, dass ich bei ihm bleiben will, dass ich wiederkommen und dass ich ihn vermissen werde, sein Rauschen und sein Murmeln, sein Fließen und sein kühles Wasser.

AM MORGEN SETZE ICH MICH in ein Café an der Uferpromenade und frühstücke. Eine ganze Weile bleibe ich so sitzen und kann mich nicht recht entschließen aufzustehen und zum letzten Mal loszufahren, bestelle mir noch einen Kaffee und noch einen, sehe über die Donau und erst gegen Mittag gehe ich hinunter zum Fluss, baue das Zelt ab und belade das Boot.

Hinter der ersten, großen Brücke am Stadtrand von Budapest verändert sich mit einem Male die Luft. Sie ist nun schwer, trüb und grau, Stadtluft, und die Silhouette der Häuser am linken Ufer versinkt in hellem Dunst.

Ruderer fahren stromaufwärts, sie ziehen angestrengt die Riemen durch und sehen konzentriert auf ihren Schlagmann. Auch rechts kommen nun die ersten Häuser in Sicht und kurz nach dem Kilometerschild 1 657 lege ich am Steg eines Ruderklubs an und setze mich an den Strand.

Nachdem ich eine Weile so gesessen habe, entlade ich das Boot, ziehe es an Land und zerlege es in seine Einzelteile. Es hat ziemlich gelitten. Zwei Spanten und eine der Sperrholzleisten sind gebrochen und wo das Verdeck schwarz und stockfleckig gewesen ist, klaffen Löcher im blauen Stoff. Eigentlich, denke ich, müsste man die gebrochenen Teile ersetzen, das Verdeck nähen und das Boot ganz neu aufbauen. Lange hätte es ohne eine Reparatur ohnehin nicht mehr durchgehalten und ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder fahrtüchtig bekommen werde. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch Sinn hat, das kaputte Boot wieder mit nach Hause zu nehmen, aber ich möchte es auch nicht einfach wegwerfen und packe es in die beiden blauen Säcke, in den einen das hölzerne Gerüst, in den anderen die schwere Bootshaut. Der Schlafsack und das Zelt, die schmutzigen Sachen und alles andere kommt in den Rucksack. Nach einer Stunde bin ich fertig, setze den Rucksack auf und nehme den einen Packsack in die linke, den anderen in die rechte Hand. Ich kann kaum stehen, so schwer ist das Gepäck, und Schweiß läuft mir über die Stirn.

So schaffe ich das nie, denke ich, trage zuerst den Rucksack hundert Meter weit bis zur nächsten Kreuzung und hole dann die Säcke nach. Selbst auf diese Weise ist das Gepäck beinahe zu schwer, aber nach einer Weile gelange ich so an eine Bushaltestelle.

Bald darauf kommt ein Bus und ich steige ein. Der Fahrer schaut mit großen Augen auf das Gepäck und als ich einen Fahrschein bei ihm kaufen möchte, winkt er lachend ab und deutet auf einen der Sitze.

An einer großen Kreuzung dreht er sich um.

»Bahnhof?«, fragt er auf Deutsch.

»Ja«, sage ich und nicke.

»Nyugati«, sagt er, »Straßenbahn, Linie 6«, und deutet auf eine Haltestelle.

Ich steige aus und warte auf die Bahn.

Als sie kommt und sich die Türen öffnen, werfe ich das Gepäck hinein. Der Rucksack landet neben den Packsäcken und die Tür schließt sich. Die Bahn fährt los und ich stehe schreiend und gestikulierend neben dem Gleis. Sie hält wieder an und die Türen öffnen sich erneut, ich springe hinein und lasse mich auf einen Sitz fallen.

Am Bahnhof steige ich aus und schleppe die Säcke zum Schalter, stehe eine Weile an und dann druckt mir die Frau hinter dem Tresen die Verbindung aus. Der ICE über Wien, München und Nürnberg kostet 42 500 Forint. Das sind hundertachtzig Euro, aber ich habe nur noch hundert Euro und eine Hand voll Forint einstecken und das Konto ist leer.

»Und über Bratislava, Prag und Dresden?«, frage ich sie.

»Keleti«, sagt die Frau und zuckt die Achseln.

Ich fahre zum Bahnhof Keleti.

Schwitzend und keuchend stehe ich am Schalter und lasse mir die nächste Verbindung ausdrucken. Der EC über die Slowakei und Tschechien kostet 23 500 Forint.

»Kann ich in Euro bezahlen?«, frage ich.

Die Frau schüttelt den Kopf und deutet auf eine Wechselstube in der großen Bahnhofshalle. Dort zeige ich meinen Schein und der Mann tippt Zahlen in einen Taschenrechner und hält ihn mir dann entgegen. Auf dem Display steht 22 500.

Ich schüttle den Kopf, lasse mein Gepäck in einer Ecke stehen und gehe vor die Tür. Gegenüber dem Bahnhof ist eine Bank und ich gehe hinein, zeige meinen Schein und der Mann tippt Zahlen in einen Taschenrechner und hält ihn mir dann entgegen. Auf dem Display steht 23 500.

Ich nicke zufrieden und gebe ihm den Schein, nehme das Geld entgegen und gehe zurück in den Bahnhof, kaufe mir eine Fahrkarte und eine Flasche Wasser, sitze ein paar Stunden auf einer Bank vor den Gleisen und sehe den Reisenden zu. Züge fahren ein und Menschen hasten über den Bahnsteig, sie kommen und gehen, steigen ein und aus, werden begrüßt und verabschiedet.

Am Abend kommt der Zug und ich bin so erschöpft, dass ich schnell einschlafe auf meinem Sitz und nur ab und an erwache, kurz aus dem Fenster sehe und die Augen wieder schließe.

Am frühen Morgen steige ich in Prag um, zwei Stunden darauf noch einmal in Dresden und in Leipzig steige ich in die Straßenbahn. Eine Viertelstunde später bin ich zu Hause, lasse mich in den Sessel fallen und sehe die Post durch.

Rechnungen, Werbezettel und Zeitungen, und ich habe den Eindruck, dass mich all das irgendwie noch gar nichts angeht.

Sommer 2010



DAS BOOT STEHT in den Packsäcken auf halber Treppe in der Abstellkammer. Einen Winter, einen Sommer und noch einen Winter, und als die Tage wieder länger werden, sitze ich irgendwann an einem klaren und sonnigen Frühlingsnachmittag in der Straßenbahn, fahre über die Brücke und sehe hinab zum Elsterflutbecken, wo sich der blaue Himmel in den Wellen des Wassers spiegelt. Ein Graureiher fliegt auf und mit einem Male denke ich wieder an die Donau, ich möchte wieder auf dem Wasser sein und weiterfahren, immer weiter, bis ans Meer.

Zu Hause gehe ich in die Kammer und trage die verstaubten Säcke in die Wohnung, nehme den Wasserwanderführer aus dem Regal, setze mich in den Sessel und lese.

 

Dann nehme ich die gebrochenen Spanten und die kaputte Leiste, schreibe mir die Maße auf und gehe in den Baumarkt, kaufe ein paar stabile Sperrholzbretter und schneide sie in einer kleinen Holzwerkstatt in der Nachbarschaft zu, bohre die entsprechenden Löcher hinein und passe die metallenen Ösen und Haken ein, lackiere die fertigen Teile und das Ergebnis sieht ganz gut aus, wie ich finde.

In der Woche darauf kaufe ich zwei Meter festen Baumwollstoff und schneide ihn zu, setze mich an die Nähmaschine und ersetze damit die löchrigen Bahnen links und rechts des Sitzes.

ANFANG JULI SITZE ICH auf der Wiese hinter der Oper. Es ist warm in der Nachmittagssonne und ich habe mich in den Schatten der Bäume gesetzt, Autos fahren vorüber und Straßenbahnen und um fünf vor sechs kommt der Bus aus Berlin. Er ist fast leer, das Ticket kostet lediglich sechzig Euro und er bringt mich, ohne dass ich auch nur einmal umsteigen müsste, von Leipzig nach Budapest.

Ich sitze im Bus und sehe aus dem Fenster, es ist früher Abend, die Bäume am Straßenrand haben schon lange Schatten und ich fühle mich plötzlich ein bisschen verloren und allein. Fünf Wochen paddeln, zelten, alleine sein, ohne Dusche, ohne Toilette und ohne Bett. Schon morgen werde ich nicht wissen, wo ich am Abend mein Zelt aufbauen kann, und ich werde nur mit dem auskommen müssen, was ich dabeihabe, nur mit dem, was in mein kleines Boot hineinpasst, und das ist nicht viel.

Ich werde wieder abhängig sein vom Wetter, von der Strömung und vom Fluss. Abhängig von den Menschen, denen ich begegnen werde und in deren Dörfern und Städten ich zelten möchte, in Ländern, deren Sprache ich kaum oder gar nicht spreche.

Heute schlafe ich im Bus, aber was ist morgen und übermorgen und all die vielen Nächte in den nächsten Wochen? Ich komme mir sehr klein vor und ein bisschen größenwahnsinnig, doch nun gibt es kein Zurück mehr und ich freue mich ja auch, aber das macht die Angst nur ein bisschen kleiner.

Um neun Uhr erreicht der Bus die tschechische Grenze, draußen dämmert es und neben der Straße fließt die Elbe. Sie sieht auch nicht viel anders aus als die Donau, nur ein bisschen schmaler, und beim Anblick des fließenden Wassers bekomme ich plötzlich Lust, wieder im Boot zu sein und auf dem Fluss.

Um Mitternacht erreichen wir Prag. Die Altstadt und der illuminierte Hradschin sind nur für kurze Zeit zu sehen und der Bus fährt weiter über Stadtautobahnen, vorbei an Neubauten aus Stahl und Beton mit Glasfassaden. Reklametafeln am Straßenrand zeigen nicht einfach nur Bilder. Es sind tatsächlich Flachbildschirme, vielleicht vier mal sechs Meter groß, auf denen Werbeclips laufen.

Dann schlafe ich ein bisschen, so gut das eben geht im Sitzen, und gelegentlich wache ich auf, ohne erkennen zu können wo wir sind. Um fünf Uhr morgens hält der Bus in Budapest. Das ist eine Stunde früher als im Fahrplan steht.

Ich verabschiede mich von den beiden Fahrern und wünsche ihnen einen schönen Feierabend, doch die winken nur ab.

»Um sieben geht es weiter nach Krakau, wieder sieben Stunden, und dann erst ist Schluss für heute.«

Deswegen sind wir also so früh angekommen, denke ich. Sie haben sich beeilt, um sich für die nächsten zwei Stunden noch einmal kurz hinlegen zu können.

Neben dem Busbahnhof stehen ein paar Taxen. Ich gehe zum ersten Wagen, zeige meinen Ausdruck des Stadtplans mit dem unterstrichenen Straßennamen und der Fahrer sieht sich den Bogen an.

»Kann ich mit Euro bezahlen?«, frage ich ihn und er nickt.

»Und was kostet das?«

Der Mann kratzt sich am Kinn und überlegt.

»Die Nánási út, das ist im III. Bezirk, vielleicht vierzig Euro. Nun, vielleicht auch nur dreißig«, sagt er, als er meinen erschrockenen Gesichtsausdruck sieht.

Das ist zwar viel mehr als ich gedacht hatte, aber ohne Taxi bekomme ich das Gepäck ohnehin nicht durch die Stadt, denke ich und lege die Packsäcke in den Kofferraum, den Rucksack auf die Rückbank und nehme auf dem Beifahrersitz Platz.

Es ist ein Samstagmorgen um kurz nach fünf und die Stadt schläft noch, die Straßen sind menschenleer und kaum ein Auto ist unterwegs. Die Sonne geht auf, wir fahren in Richtung Westen über eine vierspurige Straße und immer wieder schaue ich auf das Taxameter, auf dem die Zahlen beängstigend schnell steigen. Der Weg ist viel länger als ich dachte, und so stehen am Ende 14 500 Forint auf dem Taxameter. Der Fahrer nimmt einen Taschenrechner, teilt die Summe durch 250 und zeigt mir dann das Ergebnis: 58 Euro. Ich protestiere ein wenig, doch nur halbherzig, denn den genauen Kurs kenne ich auch nicht. Ich glaube zwar, vor ein paar Tagen etwas von knapp 300 Forint pro Euro gelesen zu haben, aber er lässt sich auf keine Diskussionen ein und ich gebe ihm sechzig Euro. Das Taxi fährt davon.

Ich trage die Säcke ans Ufer und bin jetzt an der Donau, ziemlich genau am Kilometer 1 657, setze mich ans Ufer, rauche eine Zigarette und schaue über den Fluss.

Ein Kiesstrand unter Bäumen, zwischen den Steinen liegen Muscheln und Glasscherben, ein paar zerdrückte Plastikflaschen und ein kaputtes, hölzernes, gelbes Kajak.

Über dem linken Ufer geht die Sonne auf, das Wasser fließt schnell an mir vorüber und ich möchte wieder mittreiben mit ihm, mitschwimmen, mit ein paar Paddelschlägen vorankommen und sehen, was sich hinter der nächsten Flussbiegung verbirgt. Meine gestrige Angst kommt mir lächerlich vor. Es ist früh am Morgen und der ganze Tag liegt vor mir, ich bin in Budapest, ich habe fünf Wochen Urlaub und einen Zeltplatz, den werde ich schon finden. Fünf Wochen. Mehr als doppelt so lange habe ich mich schon auf diesen Moment gefreut, denke ich, und nun bin ich tatsächlich hier.

Ein leises Summen stört die Idylle und eine Mücke setzt sich auf meine Stirn, ich schlage zu und erwische sie, aber nach wenigen Sekunden schon kommt die nächste angeschwirrt. An diesem Ufer wimmelt es von Mücken! Ich springe auf und packe die Säcke aus. Ich beeile mich das Boot aufzubauen, und nach einer Stunde bin ich fertig, dann ist auch das Gepäck verstaut und ich bin ziemlich zerstochen.

Ich steige ins Boot und stoße mich vom Ufer ab, fahre einen kleinen Halbkreis und dann treibe ich mit dem fließenden Wasser nach Süden. Auf dem Fluss gibt es keine Mücken, die sitzen nur im Unterholz, und ich greife ins Wasser und kühle mit der nassen Hand die Stiche. Die Stadt kommt langsam näher und hinter der Eisenbahnbrücke kann ich im Morgendunst schon die Silhouette des Parlamentsgebäudes am linken Ufer erkennen.

Die Füße ruhen auf den Pedalen, die das Ruder steuern, und vor mir liegt der Fotoapparat in seiner Tasche, darauf der Wasserwanderführer und daneben die Karte »Donauradweg Teil 4: Von Budapest zum Schwarzen Meer«, denn im Wasserwanderführer gibt es nur bis zur ungarisch-kroatisch-serbischen Grenze grobe Skizzen des Flussverlaufs. Danach werden die Beschreibungen immer kürzer und die letzten tausend Flusskilometer werden auf lediglich vierzig der 430 Seiten abgehandelt. Ohne die Karte würde ich vielleicht an hinter Bäumen versteckten und etwas landeinwärts gelegenen Ortschaften vorbeifahren, ohne auch nur zu ahnen, dass ich hier anlegen, zelten oder einkaufen könnte.

Links und rechts des Sitzes liegt je eine Wasserflasche, links eine Tüte Haselnüsse und eine mit Rosinen, das ist mein Müsli für unterwegs, und rechts vom Sitz das Fernglas, denn mittlerweile ist der Fluss so breit, dass mit bloßen Augen die Schilder mit der Flusskilometrierung am anderen Ufer nicht mehr lesbar sind, daneben die Sonnencreme und eine leere Plastikflasche, der ich das obere Ende abgeschnitten habe. Meine Ente. Ich kann schließlich nicht immer ans Ufer, wenn ich mal muss.

Die Packsäcke stecken im Bug und im Heck des Bootes, auf dem freien Vordersitz liegt die Tüte mit den Lebensmitteln und den Taschenwörterbüchern: Ungarisch, Kroatisch, Bulgarisch und Rumänisch, und das Handy in der Hosentasche ist meine Uhr und mein Wecker.

Langsam erwacht die Stadt. Der Verkehr auf den Straßen am Ufer nimmt zu und der auf dem Wasser. Frachtkähne, Ausflugsdampfer und Kreuzfahrtschiffe. Der Fluss ist in etwa fünfhundert Meter breit in Budapest und so sind die Wellen der großen Schiffe nur noch recht klein, wenn sie mein Boot erreichen, und lassen mich nur ein bisschen schaukeln.

Die Sonne steht im Zenit, ich habe Budapest schon eine ganze Weile hinter mir gelassen und bin hundemüde nach der unbequemen und kurzen Nacht im Bus. Es ist heiß und ich paddle nicht mehr, sondern lasse mich treiben, und immer wieder wollen mir in der Mittagshitze die Augen zufallen.

Ein Sportruderer überholt mich und fährt ans rechte Ufer.

Ich sehe in die Karte. Hier muss Nagytétény sein. Die Kilometrierung ist nur noch lückenhaft, mal steht ein Schild mit weißer Zahl auf schwarzem Grund am Ufer, mal nicht, aber ich habe die Zeit gestoppt, die zwischen zwei vorhandenen Schildern vergeht, und weiß, dass ich in der Stunde ungefähr acht Kilometer fahre. Mit vier Stundenkilometern fließt der Fluss und die anderen vier schaffe ich mit Paddeln.

Ich folge dem Ruderer und finde in einer Bucht einen Steg, lege an und klettere aus dem Boot, gehe die Treppe das steile Ufer hinauf und nach ein paar hundert Metern finde ich ein Einkaufszentrum und hebe an einem Bankautomaten Forint ab.

Das Einkaufszentrum sieht auch nicht anders aus als seine Pendants in Deutschland. Ein neues Gebäude aus Backsteinen, darin ein Supermarkt und etliche kleinere Geschäfte, ein Blumenladen, eine Apotheke und eine Bankfiliale. Der einzige Unterschied zu den Leipziger Leutzsch-Arkaden sind die ungarischen Beschriftungen, die ich nicht verstehe, und dass rings um mich ungarisch gesprochen wird. Aber ich suche mir zusammen, was ich brauche, Tomaten und Paprika, Pfirsiche, Brot und Wasser, und an der Kasse schaue ich auf die Preisanzeige, reiche der Verkäuferin die Scheine und lasse mir das Wechselgeld geben.

Mit den Tüten gehe ich zurück zum Boot und hoffe, dass es noch da ist. Aber wer sollte schon mein altes Boot klauen? Natürlich liegt das Boot noch am Steg als ich zurückkomme.

Südlich von Budapest fahren kaum noch Schiffe. Nur etwa jede Stunde kommt mir ein Dampfer entgegen oder überholt mich. Ein Lastkahn aus Nijmegen hat neben der ungarischen Flagge am Bug und der niederländischen am Heck auch noch die Pace-Regenbogenfahne, das internationale Erkennungszeichen der Pazifisten, auf der Brücke gehisst. Ich schwenke meinen Strohhut zum Gruß und der Kapitän hebt seine Hand und winkt zurück.

Links ist das Land flach und rechts gibt es anfangs Steilufer, bis auch hier die Hügel kleiner werden. Selten einmal taucht eine Ortschaft auf, meist verdecken Bäume die Sicht und ich kann nicht sehen, ob es nicht vielleicht nur ein schmaler Streifen Wald am Ufer ist und was sich möglicherweise dahinter verbirgt.

In den Bäumen sitzen Graureiher und kleine, weiße Seidenreiher, gelegentlich stehen Störche am Ufer und auf den Bojen und den angeketteten Schubleichtern, die in Ufernähe liegen, hocken Möwen und Kormorane.

Am Abend erreiche ich nach fast sechzig Kilometern Lórév. Neben der Fähranlegestelle erstreckt sich ein schmaler Sandstrand vor ein paar Bäumen und einer großen Wiese.

Das ist ein schöner Platz zum Anlegen, denke ich und fahre ans linke Ufer, steige aus und ziehe das Boot ein Stück den Strand hinauf. Schon währenddessen fallen die Mücken über mich her. Ich schlage um mich, aber das ist völlig sinnlos und so winde ich nur das Seil um einen Baum, binde einen Knoten und renne dann so schnell ich kann in die kleine Kneipe auf der Wiese. Der Besitzer hat einen Vorhang aus Stoffstreifen an der Tür angebracht und im Raum gibt es keine Mücken.

Ein paar Männer sitzen beim Bier, wir kommen ins Gespräch und ich lerne mein erstes ungarisches Wort auf der Reise. Szúnyog, Mücke. Und ja, natürlich dürfte ich auf der Wiese hinter der Kneipe zelten, das sei kein Problem, sagt der Mann hinter dem Tresen.

Doch dazu muss ich wieder hinaus zu den Mücken. Ich laufe zum Boot, ziehe die Packsäcke heraus und renne mit ihnen auf die Wiese, lasse sie fallen und habe nun wieder beide Hände frei, Mücken zu erschlagen. Ich flüchte zum Fluss. Am Wasser in der Abendsonne ist es zwar etwas besser als auf der schattigen Wiese, aber auch dort gehe ich schnell auf und ab und schlenkere mit den Armen, was ein wenig hilft.

Ich muss das Zelt aufbauen, daran führt jetzt kein Weg vorbei, und ich hole es, laufe damit zum Ufer und baue es hier auf, immer wieder unterbrochen durch ein wildes Herumfuchteln und Mückentotschlagen. Dann trage ich es zurück auf die Wiese, pflocke es schnell mit vier Heringen fest und renne zurück in die Kneipe.

 

»Es hat Hochwasser gegeben vor etwa einem Monat«, erklärt mir einer der Männer. Der Fluss sei weit über die Ufer getreten und in den Millionen kleiner Seen hätten die Mücken geradezu paradiesische Fortpflanzungsmöglichkeiten gefunden. Seitdem litten die Flussanrainer unter einer gewaltigen Mückenplage, aber man dürfe kein Gift mehr versprühen, wie man das früher in solchen Situationen getan hätte. Das, so sagt er, verbieten die Gesetze der Europäischen Union, deren Mitglied Ungarn seit dem ersten Mai 2004 ist. Man könne also nur abwarten und Bier trinken.

Das fängt ja gut an, denke ich, bestelle mir ein Bier und halte die kühlschrankkalte, beschlagene Flasche an die schmerzende Stirn. Um acht schließt die Kneipe und ich renne zurück zum Zelt, springe hinein und schließe das Moskitonetz hinter mir so schnell es geht. Trotzdem haben es etliche Mücken geschafft, mit mir hineinzukommen, aber nach und nach schlage ich sie alle tot und kann nun endlich Abendbrot machen.

Es ist noch hell. Den ganzen Tag lang hatte ich mir immer wieder vorgestellt, wie ich am Abend am Ufer sitzen werde, auf den Fluss sehe, etwas esse und einen Wein trinke. Stattdessen hocke ich jetzt im Zelt wie in einem Gefängnis, am Fliegengitter sitzen – ich zähle einmal durch – 54 Mücken und ich bin völlig zerstochen. Da schmeckt mir auch der Wein nicht mehr und nach einem halben Becher stecke ich den Korken wieder in die Flasche und lege mich hin, mache die Augen zu und schlafe kurz darauf ein.

AM MORGEN SCHEINT DIE SONNE auf das Zelt und ich krieche vorsichtig hinaus.

Die Mücken haben sich in den Schatten zurückgezogen. Ich fahre weiter und nach zwei Stunden erreiche ich Dunaújváros, lege am Bootssteg an und spaziere durch die Stadt. Es ist Sonntag, alle Geschäfte sind geschlossen und auch die Apotheke hat nicht geöffnet. Nirgendwo gibt es Mückenspray zu kaufen.

Nach einer Weile gehe ich zurück zum Fluss und fahre weiter.

Ein Motorboot kommt mir entgegen, gesteuert von einem Mann in Badehose, und eine junge Frau in Bikini und mit roten Zöpfen sitzt vorn auf dem Bug und lässt sich chauffieren. Das Boot verlangsamt seine Fahrt und die Frau ruft mir etwas zu. Ich sage, dass ich kein Ungarisch verstehe, und sie fragt mich auf Deutsch, woher ich komme und wohin ich fahre.

»Aus Budapest und immer flussabwärts«, antworte ich.

»Viel Glück!«, ruft sie und winkt mir zu.

Dann gibt er Gas und sie fahren weiter.

In Harta, dem nächsten Ort, suche ich wieder einen Laden. Aber es ist immer noch Sonntag und auch hier hat nur der Kiosk am Strand geöffnet, an dem Kaffee, Bier und Cola verkauft wird, aber kein Wasser. Ich gehe zu der Toilette neben dem Kiosk, einer Bude aus Wellblech, und finde einen Wasserhahn. Misstrauisch koste ich das Wasser, aber es ist kalt und klar und schmeckt gut. Ich weiß, man sollte das vielleicht nicht tun, aber nirgendwo kann ich Wasser kaufen und ich brauche am Tag mindestens drei bis vier Liter. Paks, die nächste größere Stadt, liegt noch fünfzehn Kilometer flussabwärts und ich werde sie heute nicht mehr erreichen. Also befülle ich meine Flaschen und fahre weiter.

Am Abend lege ich bei Ordas an einer schmalen, steinernen Treppe am Fuße eines mit Gras bewachsenen Dammes an und klettere hinauf. Zwei alte Frauen und ein Mann sitzen auf einer Bank und unterhalten sich. Als sie mich kommen sehen, unterbrechen sie ihr Gespräch und schauen mich neugierig an. Ich erkläre ihnen, dass ich mit dem Boot unterwegs bin, aber sie sprechen weder Englisch noch Deutsch, und so frage ich, mit Händen und Füßen und ein paar ungarischen Worten, ob ich hier zelten dürfte, und sie nicken.

Der Damm scheint ein beliebtes Ziel für Abendspaziergänger aus dem nahegelegenen Dorf zu sein, immer wieder kommen Leute vorbei und ein Junge von etwa sechs Jahren läuft zu mir und möchte ein Gespräch beginnen. Ich sage erst auf Ungarisch, dass ich ihn nicht verstehe, und dann auf Deutsch, dass ich seine Sprache nicht spreche, aber auch das stört ihn überhaupt nicht und er erzählt weiter und leckt zwischendurch an seinem Eis, bis ihm das Ganze dann doch zu langweilig wird und er zurückgeht zu seinen Eltern.

Ich hole die Packsäcke aus dem Boot und baue das Zelt auf, setze mich auf eine Bank, esse und sehe über den Fluss. Die Sonne steht schon tief im Westen, die Mücken kommen und ich flüchte ins Zelt.

IN DER APOTHEKE VON PAKS gibt es drei verschiedene Sorten Mückenspray und auf keiner kann ich die Beschriftung lesen. Nach langem Überlegen entscheide ich mich für die Flasche, auf der die Mücke am schönsten gemalt ist, und fahre weiter.

Die Radwanderkarte, die auf der Umschlagseite damit wirbt, »exakte topographische Landkarten« zu enthalten, enttäuscht ein wenig, was die Inseln im Fluss angeht. Manchmal sind sie ein paar Kilometer abseits ihrer tatsächlichen Lage eingezeichnet, manchmal fehlen sie ganz und gelegentlich sind Inseln verzeichnet, wo keine sind. Aber es ist ja auch eine Radwanderkarte und was gehen einen Radfahrer schließlich die Inseln an?

Der Fluss wird immer breiter und strömt weit durch flaches Land, links liegen einige Inseln mit feinem, weißem Sandstrand und auf einer der Inseln packen zwei Kanuten ihre Boote.

Nach einer Stunde sehe ich hinter mir die beiden Kajaks. Es sind die ersten Wasserwanderer, denen ich begegne, ich paddle nicht mehr und lasse mich einholen.

Georg ist etwa Mitte vierzig, Hanns-Michael vielleicht zehn Jahre älter und sie kämen aus Stuttgart, wie sie sagen.

Georg reicht mir ein Büchse Bier und ich revanchiere mich mit einer Zigarette.

»Wir sind Ende Mai, vor mehr als sechs Wochen, in Donaueschingen gestartet und haben für unsere Reise drei Monate Urlaub genommen«, sagt Georg.

Braungebrannt sind sie und ihre Arme muskulös.

»Vier Jahre haben wir dafür gespart. Wir haben eine Leinwand dabei, die ›Donaurolle‹, und in den Städten längs des Flusses treffen wir uns mit Künstlern, die jeweils ein Stückchen Leinwand bemalen«, sagt Georg. »Die nächsten Stationen sind Mohács und Vukovar, wo wir mit ungarischen und kroatischen Künstlern verabredet sind, Ende August wollen wir in Sfântu Gheorghe am Schwarzen Meer ankommen und dort noch eine Weile bleiben, bevor wir wieder zurück nach Hause fahren.«

Sie sind gut ausgerüstet und haben jeder ein eigenes Kanu, ganz aus Gummi, mit einem Aluminiumgestänge im Innern.

»Ein russisches Fabrikat«, sagt Georg, »sehr zuverlässig.« Auf das Heck haben sie je einen Bootswagen geschnallt und vor Georg liegt ein kleines Paneel mit Solarzellen. Damit betreibt er ein Radio und aus den Boxen kommt leise Musik.

»Wir lassen uns Zeit«, sagt er. »Am Tag fahren wir nicht mehr als dreißig Kilometer und wir bleiben auch immer ein bis zwei Tage in den Städten, verbringen Zeit mit den Künstlern und lassen uns die Stadt zeigen.«

»Wie kommt ihr eigentlich mit den Mücken zurecht?«, frage ich sie. »Wir haben Autan dabei«, sagt Hanns-Michael. »Das ist ganz gut. Das Hochwasser haben wir in Bayern und Österreich erlebt. Zwei Wochen lang hat es nur geregnet und Ende Juni kamen dann die Mücken. Aber wenn wir nicht in einer Stadt übernachten, zünden wir am Abend als erstes ein Feuer an, das hilft auch.« Danach verabschieden wir uns und ich versuche zügig voranzukommen, denn von Norden ziehen dunkle Wolken auf. Aber so sehr ich mich auch bemühe, der Wind und die Wolken sind schneller und bald fallen die ersten Tropfen.

Ich schließe die Spritzdecke und ziehe das Regencape über. Wieder ist es ein ganz gewöhnliches Plastikregencape für einen Euro, das aber den Regen gut abhält. Nur ab und an, wenn sich in einer Falte unbemerkt eine Pfütze gebildet hat, die zu schwer wird, ergießt sich ein Schwall Wasser auf die Hose und das Sitzkissen.

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