Regensburg am Schwarzen Meer

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Dunkle Wolken ziehen tief über die Donau, als ich am Abend an einem kleinen Yachthafen anlege, etwa zwei Kilometer flussabwärts rauscht ein Regen nieder und ich gehe in das Hafenrestaurant und trinke ein Bier, fühle mich aber unwohl in dem sauberen und noblen Restaurant zwischen all den frisch gewaschenen Menschen in teurer Kleidung, trinke das Bier schnell aus und gehe zurück zum Zelt, sitze noch eine Weile auf einer Bank am Ufer und sehe über den Fluss.

WIEN. AM UFER STEHEN HOCHHÄUSER und ein Fernsehturm und ich fahre unter Brücken hindurch, über die Autos und eine Straßenbahn donnern, unter stählernen, hundertfach verstrebten und tausendfach genieteten Eisenbahnbrücken, unter Straßenbrücken aus gewölbtem grauen Beton und unter Hängebrücken, an deren gewaltigen Pylonen unzählige Drahtseile sich auffächern. Am Ufer liegen Kutter und Frachtschiffe, Ausflugsdampfer und ein kleines, graues Militärboot. Ich fahre durch Wien ohne anzuhalten, und am Abend erreiche ich Orth. Auf dem frisch gemähten Rasen steht ein altes, dreistöckiges, weißgetünchtes Restaurant mit einem steilen Ziegeldach und davor ein weitläufig umzäunter Biergarten, links ein Spielplatz mit einem hölzernen Piratenschiff als Klettergerüst und daneben ein paar Biertische und Bänke. Die Wiese neben dem Rasthaus zieht sich entlang des schmalen Nebenarms mehr als hundert Meter am Ufer entlang und ich fahre in die Bucht und lege neben ein paar Fischerbooten an. Einige der Boote sind ganz neu und doch von der gleichen Bauart wie die alten, grauverrotteten, die tief im Fluss liegen, voll Wasser gelaufen und schon halb versunken. Algen und Wasserpflanzen wachsen in den geborstenen Rümpfen.

Mit Kocher, Topf und einer Büchse Bohnensuppe gehe ich zu einer der vielen Bierbänke und mache mir mein Abendbrot warm. Kaum dass ich alles aufgebaut habe, kommt ein Mann in schnellen Schritten über die Wiese gelaufen. Er trägt eine Jeans und ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, er hat ein rotes Gesicht und sieht mich finster an. An seinem Gürtel baumelt ein Geschirrtuch und noch bevor er neben mir steht, fängt er auch schon an zu schimpfen.

»Des kann doch ned wahr sein, des glaub i jetzt ned!«, brüllt er mich an. »Du setzt dich auf meiner Wiesen an meinen Tisch und bringst dir dein eigenes Essen mit! Des ist doch die Höhe, a Frechheit ist des! Bringst mich um meinen Umsatz!«

»Das ist ihre Wiese?«, sage ich. »Das wusste ich nicht.«

»Des alles gehört mir«, schreit er mich an und breitet die Arme aus. »Alles! Wahrscheinlich willst auch noch umsonst hier zelten?«, brüllt er und sieht mich herausfordernd an.

»Ja«, sage ich und deute auf den Waldrand. »Das Zelt steht schon. Dort hinten unter den Bäumen, wo es hoffentlich niemanden stört.« Der Mann macht den Mund auf und wieder zu, sagt aber nichts.

»Ist das da hinten auch ihre Wiese?«, frage ich ihn.

»Ja freilich ist des mei Wiesen«, sagt er, noch immer sehr grimmig. »Des ganze Grundstück gehört mir, des alles hier.«

»Es wird schon dunkel, ich bin mit dem Boot unterwegs und nirgendwo habe ich einen Rastplatz gefunden«, sage ich. »Darf ich hier zelten? Es ist nur für eine Nacht.«

Der Mann schweigt für einen Augenblick.

»Nimm deinen Krempel und verschwind«, sagt er dann und deutet auf den Waldrand. »Bis ganz nach hinten! I will dich hier vorn ned mehr sehn.«

Vor dem Zelt baue ich erneut den Kocher auf, aus dem Altarm steigt Nebel und langsam wird es dunkel.

AM MORGEN WEHT ein leichter Westwind. Das Wasser fließt, ich paddle und komme schnell voran. Am Himmel schweben ein paar kleine, weiße Wölkchen, am Ufer steht Wald und ich höre ein dumpfes Dröhnen, erst leise, dann aber schnell immer lauter werdend. Ich fahre mitten in der mit Bojen ausgetonnten Schiffsrinne, drehe mich um und sehe ein weißes Tragflächenboot, das rasch näher kommt, und paddle so schnell ich kann in Richtung Ufer.

Höre ich das gleichmäßige und beinahe gemütliche Stampfen eines Schiffsdiesels, das ruhig und geradezu beruhigend langsam näher kommt, habe ich immer genügend Zeit, an eines der Ufer zu fahren und den Schleppern, die mit kaum mehr als zehn Stundenkilometern auf dem Fluss unterwegs sind, auszuweichen. Aber nun hat mich das Boot in weniger als fünf Minuten eingeholt und als es an mir vorüberbraust, sehe ich, dass es sich fast ganz aus dem Wasser gehoben hat. Es scheint beinahe auf dem Fluss zu schweben und mit einer Geschwindigkeit von mehr als fünfzig Kilometern in der Stunde fliegt es nahezu über die Donau. Das ist schon etwas anderes als die trägen Dampfer, denke ich und nehme mir vor, in der nächsten Zeit die Schiffsrinne zu meiden und nicht mehr so bedenkenlos die Ufer zu wechseln, zumal der Fluss immer breiter wird und es mittlerweile schon eine gute Viertelstunde dauert, von der einen auf die andere Seite zu fahren.

Das Tragflächenboot verschwindet hinter der nächsten Flussbiegung und auf einem Frachter stehen zwei Männer am Bug, holen die rotweiß-rote österreichische Fahne ein und hissen die weiß-blau-rote Flagge mit dem Wappen der Slowakei.

Felsen stehen am Ufer und eine Libelle hat sich auf der Spritzdecke niedergelassen. Sie sitzt da, blassgrün, schwarz und dick, und fährt mit mir von Österreich in die Slowakei.

Wieder macht sich die Grenze am Ufer nicht bemerkbar, auch die Zollabfertigung, von der der Wasserwanderführer schreibt, scheint es nicht mehr zu geben und auf einer Anhöhe hinter den Hügeln sehe ich am Horizont schon die Silhouette der Burg von Bratislava.

Jetzt also beginnt der sogenannte Osten, wie in Deutschland der Einfachheit halber alles genannt wird, was jenseits von Oder und Bayerischem Wald liegt. Archaisch soll er sein, wild, korrupt und gefährlich, unberechenbar und kriminell, aber gastfreundlich und herzlich die Menschen, die dort leben.

Die wildesten Geschichten werden über ihn erzählt und alles scheint es dort zu geben, einfach alles – außer Alltag und Normalität. Ich bin zum ersten Mal in der Slowakei und obwohl die Landschaft sich nicht verändert hat, obwohl die gleichen grauen Felsen auf grünen Hügeln stehen und die gleichen bewaldeten Berge am Ufer liegen wie in Österreich, obwohl sich der gleiche blaue Himmel von Horizont zu Horizont spannt, scheint sich irgendetwas verändert zu haben. Ich weiß nicht, ob es der kleine, gelb gestrichene, zweistöckige Flachbau am Ufer ist oder der Angler, der in kurzen Hosen auf einer schräg im Wasser liegenden Betonplatte steht, ob es die Kräne am Horizont sind oder die Plattenbauten auf dem Hügel, aber ich fühle mich ganz und gar nicht fremd, sondern eher beinahe so, als käme ich nach langer Zeit wieder zurück nach Hause. Zu sehr erinnert mich all das an den Osten Deutschlands in den neunziger Jahren oder an Tschechien.

Vor etwas mehr als zehn Jahren habe ich in Südmähren als Deutschlehrer gearbeitet, in dieser Zeit habe ich die Sprache gelernt und auch wenn ich Vieles schon wieder vergessen habe, so werde ich mich doch wenigstens einigermaßen verständigen können, denn Tschechisch und Slowakisch sind eng miteinander verwandt.

Links unter der Burg liegt das Zentrum von Bratislava und am rechten Ufer sehe ich eine flach ins Wasser abfallende Betonrampe und lege an. Neben dem schmalen Uferweg steht das Tor in einem mannshohen Maschendrahtzaun offen und daneben hängt ein Schild, »veslársky klub«, Ruderklub, und ich gehe hinein.

Zwei etwa vierzigjährige Männer in kurzen Hosen und mit freiem Oberkörper sitzen im Schatten eines zweistöckigen Flachbaus auf Liegestühlen neben einem Klapptisch und ich erzähle ihnen woher ich komme und dass ich einen Zeltplatz und möglichst auch eine Dusche suche.

Einer der beiden steht auf.

»Wo ist dein Boot?«, fragt er.

»Unten am Fluss.«

»Warte«, sagt er, geht ins Haus und kommt mit einem Bootswagen zurück. »Wir holen das Boot, du solltest es nicht unten am Wasser liegen lassen, hier ist es sicherer. Und natürlich kannst du bei uns zelten«, sagt der Mann und deutet auf die große Wiese vor dem Haus, »das ist gar kein Problem«, und wir gehen zum Fluss.

»Veterán«, sagt der Mann und lacht, als wir am Ufer ankommen. »Den Typ kenne ich, das ist ein Kolibri IV aus der DDR. Alt, aber gut.« Er sieht sich das Boot an und entdeckt die gebrochene Spante.

»Das müssen wir reparieren«, sagt er. »Sonst geht bald noch mehr kaputt.«

»Ja«, sage ich. »Aber wie?«

»Im Bootshaus haben wir alles«, sagt der Mann. »Lass mich nur machen, ich kann das.«

Auf der Wiese zerlege ich das Boot, nehme die Spante und bringe sie ihm.

»Ich kümmere mich darum«, sagt er. »Du kannst solange dein Zelt aufbauen und wenn du fertig bist, zeige ich dir wo die Duschen sind.« Ich baue das Zelt auf und nehme die Taschenlampe in die Hand. Sie braucht neue Batterien, gestern Abend war das Licht nur noch ganz schwach, aber beim Öffnen drehe ich an der falschen Stelle und schon habe ich nur noch splitterndes Plastik in den Händen. Mir ist als griffe ich mittlerweile, ohne es zu wollen, mit dreifacher Kraft zu, werfe die kaputte Lampe in den Müll und gehe zu dem Mann, der mir die reparierte Spante in die Hand drückt.

»Das ist Bootsleim«, sagt er, »das müsste halten. Und bis morgen ist der Kleber getrocknet.«

Ich bedanke mich und gebe ihm einen Zehneuroschein. Die Brücke hinüber zur Innenstadt ist eine alte, stählerne Straßenbrücke und links neben der Autospur verläuft ein etwa zwei Meter breiter Fußgängerweg aus ausgetretenen, grauen Holzbohlen. Ich bleibe eine Weile auf der Brücke stehen, lehne mich auf das Geländer und sehe hinab auf den Fluss. Es ist ein warmer, klarer Sommerabend, im Westen schimmert der wolkenlose Himmel rötlich und die Stadt liegt in ein mildes Licht getaucht.

An einem Bankautomaten hebe ich slowakische Kronen ab, das Pflaster vor dem Nationaltheater ist noch warm von der Hitze des Tages und ich sehe mir die Auslagen der kleinen Buden an, in denen Souvenirs verkauft werden. Postkarten und Aquarelle mit Stadtansichten, Keramik und T-Shirts mit der Aufschrift »Kiss me, I am Slovak«.

 

Am Rande eines Brunnens sitzt ein junger Mann in einer grünen Hose und einer grünen Jacke. Sein Gesicht ist grün geschminkt, er ist barfuß und in der Hand hält er eine grüne, geschwungene Pfeife. Auf dem Kopf trägt er einen grünen Hut mit einer Sonnenblume und vor ihm steht ein Keramikbecher. Er bewegt sich ganz langsam, öffnet den Mund und schließt ihn wieder, geradeso wie ein müder, alter Karpfen an Land, und deutet dann auf den Becher zu seinen Füßen. Ich werfe eine Münze hinein und er verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen, verbeugt sich und lüpft den Hut.

Ich gehe zurück zum Ruderklub, setze mich ans Ufer und blicke über den Fluss. 522 Kilometer bin ich nun gefahren, fast vierzig Kilometer an jedem der vergangenen vierzehn Tage.

Den ganzen Tag sehe ich den Fluss, ich treibe mit ihm, auf ihm, ich paddle und fahre und nun sitze ich am Ufer und betrachte die Wellen und das Wasser als sähe ich all das zum ersten Mal, ich könnte stundenlang so sitzen und der Donau zuschauen bei ihrem gleichmäßigen und ruhigen Fließen und als ich aufstehe und zurück zum Zelt gehe, ist es dunkle Nacht.

AM MORGEN IST DER LEIM getrocknet, die Spante macht einen stabilen Eindruck und ich passe sie wieder in das Boot ein. Das Haus ist verschlossen und die beiden Männer sind nicht zu sehen, aber auf der Terrasse steht unter einem kleinen Vordach der Bootswagen und ich bringe alles wieder hinunter zum Fluss.

Es sind noch fünfzehn Kilometer bis zur Staustufe Čunovo und die Skizze im Wasserwanderführer ist unübersichtlich, schlecht gedruckt und verwirrend. Anscheinend gibt es wohl eine Bootsgasse und eine Schleuse, aber die Skizze ist trotzdem nahezu unlesbar. Doch es wird schon irgendwie werden, denke ich und fahre erst einmal los.

Zehn Kilometer hinter Bratislava lege ich an einem Kiesstrand an, binde das Boot an einen Baum und gehe zu einem Kiosk, der aber außer Kaffee und Cola, Bier und Schokoriegeln nichts zu verkaufen hat. Abgesehen von mir und dem Kioskbetreiber ist niemand hier und ich setze mich mit einem Becher Kaffee an einen der Tische im Schatten.

Ein Pärchen kommt angeradelt. Sie sind vielleicht vierzig Jahre alt, holen sich ein Bier und fragen, ob an meinem Tisch noch ein Platz frei sei. Ich nicke und sie setzen sich.

»Wir sind aus Bratislava«, sagen sie und stellen sich vor. »Martin und Jana. Und du? Wo kommst du her?«

»Könnt ihr mich verstehen, wenn ich Tschechisch spreche?«, frage ich sie.

»Ja«, sagt Jana. »Wir sind ja beide noch in der Tschechoslowakei aufgewachsen, wir haben in Brno studiert und verstehen sehr gut Tschechisch. In den ersten Jahren, kurz nach der Trennung in zwei souveräne Staaten, da haben sich unsere beiden Länder ja etwas auseinanderentwickelt.« Gerade die Slowakei, als junger Staat, hätte sich von Tschechien abgrenzen wollen, um die nicht ganz unumstrittene Eigenstaatlichkeit zu betonen. Aber jetzt, nachdem einige Zeit vergangen sei und der Status quo eine Selbstverständlichkeit, nachdem die Slowakei und Tschechien Mitglieder der Europäischen Union geworden sind, hätten sie sich wieder aneinander angenähert, sagt sie. Martin nickt.

»Tschechischsprachige Filme laufen ohne Untertitel und ohne Synchronisation im slowakischen Fernsehen«, sagt er, »und die gegenseitige Verständigung wird wieder besser.«

Dann steht er auf, geht zum Kiosk und kommt mit einem Becher Bier zurück, den er vor mich stellt.

»Jetzt, am Mittag?«, sage ich. »Normalerweise trinke ich tagsüber überhaupt kein Bier und schon gar nicht bei dieser Hitze.«

»Das hat nur 10°«, sagt Martin und lächelt, »das tut keinem was.« In der Slowakei wird das Bier, wie in Tschechien, nicht nach dem Alkoholgehalt, sondern nach der Stammwürze eingeteilt. 10° bedeuten etwa 3 % Alkohol, nur das 12°-Bier hat, wie bei uns, fünf Prozent und als die Becher leer sind, stehe ich auf und hole eine neue Runde.

Danach steigen sie auf ihre Räder, winken noch einmal und ich gehe zurück zum Fluss.

Ein paar Kilometer darauf weitet sich die Donau zu einem gewaltigen See. Am Ufer liegen kegelförmige, vielleicht zehn Meter hohe Sandhaufen, zum Teil schon mit Gräsern und Büschen bewachsen und leicht in sich zusammengefallen, zum Teil frisch aufgeworfen und hellgelb, fast weiß in der Sonne leuchtend.

Links zweigt der Schleusenkanal für die Großschifffahrt ab, ich bleibe am rechten Ufer und auf einer Landzunge vor der Schleuse stehen buntbemalte, mehr als drei Meter hohe, fantasievolle Skulpturen, die in der Nachmittagssonne leuchten.

Die Bootsgasse ist unpassierbar. Baumstämme haben sich vor die Öffnung geschoben, der schmale Kanal liegt trocken und ich gehe zu einem großen, weißen Gebäude.

Ein dicker, schnauzbärtiger Mann in Uniform sitzt neben dem Haus im Schatten und ich frage ihn, ob ich geschleust werden könnte.

»Nein«, sagt der Mann, »das ist unmöglich. Die Schleuse ist außer Betrieb.«

»Keine Chance?«

Er hat die Hände vor dem Bauch gefaltet, sieht mich träge an und schüttelt den Kopf.

»Keine Chance!«

Ich gehe die Straße auf der Mauer entlang und finde links eine kleine Bucht. Von hier sind es etwa zweihundert Meter bis zur anderen Seite unterhalb des Stausees, wo ich das Boot wieder einsetzen könnte, und ich fahre in die Bucht und entlade das Boot, schleppe die Säcke nach und nach hinunter zur Einsatzstelle und als ich das Boot anheben möchte, stelle ich fest, dass es zu schwer ist. Ich schaue mich um und sehe einen jungen Mann, der in Badehose am Ufer sitzt, gehe zu ihm und erkläre, dass ich Hilfe brauche. Er nickt und steht auf. Gemeinsam tragen wir das Boot hinunter.

Das war nun endlich das letzte Hindernis, denke ich, das letzte Mal, dass das Wasser sich gestaut hat, es ist geschafft und ich sehe mich um. Links steht ein Auto unter Bäumen, ein Mann packt seine Angeln aus und zwei Kinder spielen im Wasser, sie plantschen, schwimmen und spritzen sich mit Wasser voll.

Man kann also baden in der Donau?

Das Wasser ist zwar ein wenig trüb, scheint aber auch nicht viel schmutziger zu sein als ein beliebiger Badesee zu Hause. In meiner Kindheit konnte man in Flüssen nicht baden. Sie waren mit Abwässern verdreckt, auf ihnen trieben Flocken schmutzigbraunweißen Schaums und schillernde Flecken von Öl und Benzin. Mehr Kloaken als Flüsse waren es und so bin ich auch jetzt nicht auf die Idee gekommen, in der Donau zu schwimmen, schließlich ist sie kein See. Seltsam, denke ich, wie lange diese Vorstellung prägend geblieben ist, denn das kühle Wasser tut gut, es wäscht mir den Schweiß von der Haut und ich bin erfrischt und fühle mich geradezu sauber, als ich wieder aus dem Fluss steige.

AUF DER GANZEN BREITE des Flusses liegen Gesteinsbrocken und das Wasser umsprudelt sie rauschend und weiß schäumend. Baumstämme haben sich zwischen den Felsen verfangen und ich lege am linken Ufer an und sehe über das Wasser. Es hilft alles nichts, ich muss ein weiteres Mal umtragen, denn durch dieses Wildwasser kann ich nicht fahren.

Als das Gepäck in der kleinen Bucht unterhalb der Stromschnellen liegt, gehe ich zurück zum Boot, aber es ist niemand zu sehen, der mir helfen könnte. Ich muss es allein schaffen, drehe das Boot um und hebe den Bug an, krieche darunter und lege es mir auf den Buckel. So funktioniert es und ich marschiere mit gebeugtem Rücken den zweihundert Meter langen Waldweg hinunter.

Die Sonne steht im Zenit, es ist heiß und außer dem Gezwitscher der Vögel und dem Zirpen der Grillen ist nichts zu hören. Sommerhitze liegt über dem Land und die Luft flimmert, ich paddle nicht mehr und lasse mich treiben. Schilf und Wald säumen das Ufer, ein paar Meter von mir entfernt schwimmt ein Biber, dann schlägt er laut klatschend seine Kelle aufs Wasser, er taucht ab und zum ersten Mal sehe ich einen Seidenreiher. Er steht am Ufer im flachen Wasser, er ist vielleicht einen halben Meter groß und weiß. Als er auffliegt, sehe ich, dass seine Beine schwarz sind, seine Füße aber leuchtend gelb.

Seit dem letzten Regen ist fast eine Woche vergangen, der Wasserstand ist um mehr als einen halben Meter gefallen und die flach über dem Wasser hängenden Äste der Weiden und das Schilf sind von feinen Schlammschichten überzogen, die in grauen Streifen die Pegel der vergangenen Wochen anzeigen.

Auf einer breiten Wiese neben dem Medveďov-Arm stehen unter Bäumen zwei große Zelte und ein Kleinbus und am Ufer liegen zwei Kanadier und ein Schlauchboot. Es ist schon spät am Nachmittag, die Schatten werden länger und das Licht milder und als ich das Boot an Land ziehe, sehe ich, dass das Ruder lose ist. Eine der drei Schrauben ist locker und eine fehlt.

Medveďov ist ein kleines Dorf, umgeben von Feldern, Wiesen und ein paar Flecken Wald. Ein großer, moderner Traktor fährt an mir vorbei, eine alte Frau trägt eine geblümte Einkaufstasche nach Hause und zwei Halbwüchsige in kurzen Hosen und mit freiem Oberkörper schlendern langsam über die schmale Straße.

Obwohl das Dorf in der Slowakei liegt, sieht es schon sehr ungarisch aus, oder doch wenigstens so, wie ich mir ein ungarisches Dorf vorstelle. Umgeben von flachem, weitem Land, in dem nur ab und an eine kleinere Baumgruppe steht, liegen die Häuschen beieinander, die meisten wohl in den 1950ern gebaut. Sie tragen ein flaches, pyramidenförmiges Dach, mit Ziegeln oder mit Wellblech gedeckt, in den Gärten wachsen Tomaten und Paprika, stehen Kirsch- und Pfirsichbäume, unter denen gelegentlich eine Ziege weidet, die den Kopf hebt und mich kauend aus großen, gelben Augen anglotzt, und auf einem Mast brüten Störche. Der Betonmast scheint keinen anderen Zweck zu erfüllen als den, ein Storchennest zu tragen. Es hängen keine Stromleitungen an ihm und am oberen Ende ist ein rundes, von vier Streben abgestütztes Stahlgerüst angebracht, das den Zweck des ansonsten üblichen, alten Wagenrades erfüllt.

In dem kleinen Laden im Ort gibt es keine Schrauben, aber auf einem Hof beugen sich drei junge Männer über den geöffneten Motorraum eines alten Ladas und auf meine Frage halten sie mir eine Werkzeugkiste hin, in der Schrauben in allen Größen und Formen liegen. Ich nehme mir drei Stück heraus und als ich sie frage, was ich ihnen dafür geben könnte, lachen sie nur.

»Diese drei Schrauben haben keine fünf Heller gekostet«, sagt einer der drei. »Also lass dein Geld stecken!«

Am Fluss schiebe ich ein paar Streichhölzer in die Löcher am Heck und schraube das Ruder wieder fest. Es scheint zu halten, aber die Feuchtigkeit der letzten Tage hat einigen der hölzernen Bootsteile wohl doch ein wenig zugesetzt und sie sind dunkel und aufgequollen. Danach gehe ich in die Kneipe und setze mich an einen Tisch auf der Terrasse vor dem Haus. Ein paar alte Männer sitzen beim Bier, im Hintergrund läuft ein Fernseher und im Schatten liegt ein Hund und döst. Ein Mann mit einer Sense auf der Schulter geht die Straße entlang und grüßt über den Zaun einen Nachbarn.

Niemand scheint es eilig zu haben in Medveďov, es wirkt beinahe, als hätte das ganze Dorf Sommerferien und wochenlang frei, Zeit, am Fluss im Schatten zu sitzen, zu baden, am Abend gemütlich nach Hause zu schlendern und ein paar Kirschen zu pflücken. Ganz sicher ist es nicht so, aber es fehlt einfach die Hektik und das Gehetztsein, wie ich es aus der Großstadt kenne, und ich lasse mich von der dörflichen Ruhe anstecken, trinke ein Bier, mache mir ein paar Notizen und gehe erst zurück zum Fluss, als es schon dämmert.

AM MORGEN ZIEHE ICH das Boot ins Wasser. Das Ruder sitzt wieder fest und reagiert auf jede kleine Bewegung der Pedale. Das Land ist flach und links und rechts am Ufer stehen Erlen und Weiden mit silbriggrün schimmernden Blättern, Zweige hängen im Wasser, manchmal steht in einer Bucht mit Sand- oder Kiesstrand ein Zelt und jemand winkt mir zu, ein Kanu liegt im Gras und zwischen zwei Bäumen ist eine Hängematte gespannt, in der ein Mädchen liegt und liest, auf einer Leine hängen Handtücher und am Ufer ankert ein Motorboot. Obwohl die Abstände zwischen den Ortschaften größer werden, wirkt der Fluss belebter als in Deutschland oder in Österreich, wo die mit Steinblöcken bewehrten Ufer es über weite Strecken verhindern, zu zelten oder zu baden.

Am Nachmittag höre ich ein leises Quietschen und Rumpeln, das immer lauter wird. Geräusche, als schabte Metall auf Metall, ein kreischendes Scheppern, das weit über den Fluss hallt, und nach einer Weile sehe ich ein Schiff. Auf dem rostigen Kahn läuft eine Eimerkette, ein Förderband mit Schaufeln, und neben dem Baggerschiff liegt ein Schubleichter, auf dessen tief im Fluss hängenden Heck schon zwei Kieshaufen liegen. Der noch unbeladene Bug hebt sich aus dem Wasser und der Kahn baggert die Schiffsrinne aus.

 

Ein paar Flussbiegungen darauf ist es wieder still und auf einer Buhne steht neben einer Gruppe Kormorane ein Schwarzstorch. Er hat einen roten Schnabel, rote Beine und sein Gefieder schimmert, abgesehen vom weißen Bauch, grünschwarz. Ganz ruhig steht er da, ich halte das Paddel still, um ihn nicht aufzuschrecken, und gleite lautlos und ohne ihn zu stören an ihm vorüber.

Am frühen Abend erreiche ich Komárno, wo man auf dem Gelände des Rudervereins neben der großen Brücke zelten könnte, wie der Wasserwanderführer schreibt. Vielleicht, denke ich, kann man dort duschen und vielleicht gibt es sogar eine Waschmaschine, denn mittlerweile habe ich nur noch wenige saubere Sachen, aus dem Wäschesack riecht es muffig und auch der Schlafsack ist schon lange nicht mehr frisch.

Am Strand vor dem Ruderklub, der eher aussieht wie eine Kneipe oder ein kleines Hotel, lege ich an und gehe ins Haus, aber die junge Frau hinter dem Tresen sieht mich skeptisch an und schüttelt den Kopf.

»Selbstverständlich bezahle ich auch dafür«, sage ich.

»Nein!«, antwortet sie barsch. »Nein, Sie können hier nicht duschen, bei uns kann man nur Zimmer mieten.«

»Und was kostet das?«

»Zweihundert.«

»Gut«, sage ich, »sehr gut!«, denn zweihundert slowakische Kronen sind nicht ganz sieben Euro. »Ich nehme ein Zimmer.« Die Frau schlägt das abgegriffene Heft auf, das vor ihr liegt, liest und sieht mich dann ein bisschen erschrocken an.

»Wir haben kein Zimmer mehr frei«, sagt sie entschuldigend und zuckt die Achseln.

»Das macht nichts«, sage ich. »Ich gebe Ihnen fünfzig Kronen, wenn Sie mir zeigen wo ich duschen kann. Einverstanden?« Sie nickt und führt mich zu einem Waschraum.

Bei der Gelegenheit wasche ich die Hose, die Unterhose und das Hemd gleich mit. Auch den angeschimmelten Hut nehme ich unter die Dusche, seife ihn gründlich ein und schrubbe die schwarzgrünen Sprenkel ab. Danach baue ich das Zelt auf der Wiese hinter der Brücke auf und nach dem halbstündigen Weg in die Innenstadt sind die Sachen auch schon wieder trocken.

Unterwegs höre ich neben Slowakisch auch Ungarisch auf den Straßen und alle Schilder sind zweisprachig. Im Süden des Landes, im Grenzgebiet, lebt die ungarische Minderheit, die etwa ein Fünftel der slowakischen Bevölkerung ausmacht.

Von den 37 000 Einwohnern der Stadt Komárno oder Komárom, wie es auf Ungarisch heißt, sind zwei Drittel Ungarn, in der 2003 gegründeten János-Selye-Universität wird auf Ungarisch gelehrt und vor dem Museum steht ein Bronzedenkmal für Mór Jókai, einen ungarischen Schriftsteller, der 1825 in Komárno geboren wurde. Der Kranz am Fuße des Denkmals ist neben den weiß-blau-roten Bändern der slowakischen Farben wie selbstverständlich auch mit den rot-weiß-grünen der ungarischen Trikolore umwunden.

Zwei Romajungs laufen mir hinterher. Sie sind vielleicht elf Jahre alt und der eine ist klein und dick, der andere hager und schlaksig. Der kleine Dicke hat einen Knüppel in der Hand, eine irgendwo gefundene Zaunslatte, und sie streunen durch die Stadt.

»Nazdar!«, rufen sie, »Hallo! Geben Sie uns Geld! Für ein Eis!«, und ich gebe ihnen ein paar Münzen. Sie laufen mir hinterher, reden auf mich ein und als ich meinen Fotoapparat auspacke, werden sie plötzlich sehr ärgerlich. Der kleine Dicke droht mir mit seinem Knüppel und dann verschwinden sie laut schimpfend in einer Seitengasse.

Ich gehe durch die Altstadt, lasse in einem Café das Handy und den Akku der Kamera aufladen, sitze faul im Schatten und mache mir ein paar Notizen. Als ich zurück zum Ruderklub gehe, dämmert es bereits, und als ich am Zelt ankomme, ist es dunkle Nacht.

AM MORGEN IST ES SCHWÜL, der Himmel ist mit dicken, weißgrauen Wolken bedeckt und Wespen schwirren summend und in schnellem Flug über das Wasser. Ein Gewitter liegt in der Luft und an der Hochwasserschutzmauer von Komárno steht auf Slowakisch, in roten, ungelenken Buchstaben, aber groß genug, dass man es auch vom rechten Ufer aus lesen kann, »Die Ungarn sind Scheißkerle!«

Am Nachmittag wird die Landschaft hügeliger, Wolken ballen sich zusammen und ein böiger Wind bläst über den Fluss. Immer dunkler wird es und hinter mir, noch weit im Westen, geht der erste Regen nieder. Es sind noch sieben Kilometer bis Štúrovo und ich paddle immer schneller. Der Regen kommt näher und als ich die große Brücke sehe, die Štúrovo am slowakischen mit Esztergom am ungarischen Ufer verbindet, ist er schon bis auf etwa einen Kilometer herangezogen. Als ich die Brücke erreiche, fallen die ersten Tropfen und ich ziehe das Boot schnell ans Ufer, binde das Seil um einen Baum und laufe hinauf zu dem Haus, wo unter einem Balkon drei Männer auf einer Terrasse sitzen.

»Ahoj!«, sage ich. »Da habe ich ja Glück gehabt. Gleich wird es ordentlich regnen!«

Einer der drei, ein etwa fünfzigjähriger, hagerer Mann, sieht mich finster an.

»Wo kommst du her?«, fragt er.

»Aus Deutschland.«

»Und warum sprichst du dann Tschechisch mit uns?«, fragt er ärgerlich in beinahe akzentfreiem Deutsch.

»Wir sind doch in der Slowakei«, sage ich, »und ich dachte, Sie würden eher Tschechisch verstehen als Deutsch.«

»Wir sind Ungarn«, sagt der Mann. »Selbstverständlich sprechen wir alle auch Slowakisch, aber wir sind Ungarn und wir sprechen lieber Deutsch als Slowakisch oder Tschechisch.« Die beiden anderen Männer nicken schweigend.

»Wo bist du losgefahren?«, fragt der Mann.

»In Regensburg, vor zweieinhalb Wochen.«

»Mit dem Ding da?«, fragt er und zeigt hinunter auf das Boot.

»Mit dem Ding da«, sage ich und nicke.

»Und was machst du, wenn du nicht gerade in dem alten Boot auf der Donau dein Leben riskierst?«, fragt er weiter und ich komme mir ein wenig vor wie in einer Prüfung, beantworte seine Fragen und warte ab, was er davon hält und wie sich das Ganze entwickeln wird.

»Dann bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humboldt-Universität Berlin und arbeite an der Gesamtausgabe der Werke des Philosophen Friedrich Nietzsche«, sage ich.

»Aha«, sagt er, »bist du deswegen so«, er hebt den Zeigefinger an die Schläfe und dreht ihn, »so verrückt?«

Er grinst.

»Das kann schon sein«, sage ich und grinse auch. »Vielleicht ist das der Grund.«

Der Mann steht auf und zeigt hinunter zum Fluss.

»Du musst das Boot ein Stück höher den Strand hinaufziehen, hier in der schmalen Kurve gibt es viele Wellen von den großen Schiffen. Dort drüben«, und er deutet auf die Wiese neben dem Haus, »kannst du dein Zelt aufbauen und hier«, sagt er in einem Ton, der keine Widerrede duldet und zeigt auf eine Hütte aus Stahlblech, über der eine große, schwarze Tonne hängt, »hier kannst du dich waschen. Ich bin übrigens János, also Hans«, sagt er und gibt mir die Hand.

Das Gewitter ist weitergezogen, die Männer gehen und ich baue das Zelt auf, dusche und gehe danach in die Stadt.

An einem einfachen, einstöckigen Haus leuchtet eine Bierwerbung, ich gehe hinein und komme in einen dunklen, holzgetäfelten und gemütlichen Raum im Stile eines Irish Pub. Es läuft laute Rockmusik und das, denke ich, das ist ein guter Ort, meine restlichen slowakischen Kronen zu vertrinken.

Der Barkeeper ist muskulös und tätowiert, er trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer Heavy-Metal-Band und auf dem Kopf über den langen, blonden Locken ein schwarzes Tuch mit einem Muster aus vielen, kleinen, weißen Totenköpfchen.