Regensburg am Schwarzen Meer

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Ich gehe hinauf in die Stadt und auf der Straße hinterlasse ich die feuchten Abdrücke meiner Sandalen, die in der Sonne schnell wieder trocknen.

In Straubing kaufe ich Sonnencreme und mache mich auf die Suche nach einem Sonnenhut. Am besten wäre ein ganz einfacher und billiger Strohhut, denke ich, aber ich weiß nicht, wo man so etwas bekommt.

In einem Laden in der Innenstadt gibt es Herrenhüte aus Filz, Schiebermützen und Jägerhüte ab fünfzig Euro und in einer Drogerie eine Art gehäkelte Omahütchen mit schmaler Krempe, die aber nur fünf Euro kosten. Auf dem Wasser sieht mich ohnehin niemand, denke ich, nehme ein Hütchen und lasse mir eine Tüte geben.

Dann gehe ich weiter und sehe ein Geschäft für billige Kleidung, eine Discounter-Kette. Dort gibt es Strohhüte für drei Euro und ich kaufe einen, werfe die Tüte mit dem Omahut schnell in den nächsten Papierkorb, gehe zurück zum Boot und fahre weiter.

Es ist eigentlich ganz hübsch, denke ich, mit dem Boot unterwegs zu sein. Straubing ist ein schönes Städtchen, aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, extra hierher zu fahren, um es mir anzusehen. So aber, ich fahre am Tag nur dreißig oder vierzig Kilometer, halte ich in Orten, die ich, reiste ich anders, schneller, nie kennenlernen würde.

Manchmal, wenn ich im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, wünsche ich mir, auszusteigen und in die Städte und Dörfer zu gehen, die links und rechts der Strecke liegen. Wer wohnt denn da und wie lebt es sich dort? Doch kaum ist der Wunsch gedacht und formuliert, ist der Ort auch schon wieder verschwunden. Hier, auf dem Wasser und im Boot, ist es anders. Ich kann anhalten wo ich will und habe nicht das Gefühl, zu schnell zu reisen. Ich kann mir Zeit lassen und selbst wenn ich ungeduldig werde und möchte, dass es schneller vorwärts geht, muss ich mich dem Fluss beugen. Er ist ohnehin stärker als ich. Wasserwandern, Flusswandern ist tatsächlich ein sehr passender und guter Begriff für diese Art der langsamen und dabei keinesfalls langweiligen Fortbewegung. Ich fahre auf dem Fluss mit der Geschwindigkeit eines Fußgängers, schon mehr als eine Stunde bevor ich ankomme, sehe ich die Dörfer und Städte links und rechts des Ufers liegen, und nach zwei bis drei Stunden Fahrt tut mir ohnehin der Hintern weh, trotz des Kissens auf dem Sperrholzsitz, und ich muss eine Pause einlegen und irgendwo anhalten und aussteigen. Hier, am Oberlauf der deutschen Donau, liegen oft nicht mehr als fünf bis zehn Kilometer zwischen den Ortschaften und ich fahre ans Ufer und binde das Boot fest, spaziere durch einen Ort und kaufe mir eine Flasche Wasser und Brot, Obst und Gemüse oder setze mich in ein Café.

Seit ich unterwegs bin, habe ich den ganzen Tag über Hunger, ich könnte permanent essen und in einem kleinen Laden kaufe ich mir eine Tüte Haselnusskerne und eine mit Rosinen, lege sie neben den Sitz und greife während der Fahrt immer wieder hinein.

Am Abend ziehe ich das Boot an Land, binde die Leinen an einen Baum und steige das Ufer hinauf. Hinter dem Damm liegen Wiesen und Felder und in der Ferne ein paar Dörfer. Ich hole die Packsäcke und baue das Zelt auf, als ein Mann zu mir kommt. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, er trägt eine Jeanslatzhose über einem karierten Holzfällerhemd und ausgetretene Gummistiefel.

»Ist das Ihr Land, auf dem ich zelte?«, frage ich ihn.

Er nickt und geht ein paar Schritte in Richtung Fluss, betrachtet das Boot, das am Ufer liegt, und nickt erneut.

»Dees basst scho«, sagt der Mann. »Vor zwanzg Johr war da Fluuß no saudreggad! Do is da beim Fischn des Scheißbabbierl an da Schnur hänga bliebm.«

»Da ist es jetzt besser«, sage ich.

»Unsaoans hamats zwengdem Wassergebührn naufbrummt, damit de z’Straubing jazd a anständige Kläranlag ham. Saudeia is da Scheißdreeg seither. Ois is so deia wordn«, sagt er. »Des geht nimma lang guad! 20 000 Mark ham mia doomois zoihn miaßn, dass uns an Kanalisation ogschlossn ham. Aba an Grabn hama trotzdem soiba aushebm miaßn. Zwoahundert Metta ham mei Nachbar und i ausgrabn!«

Er macht eine wegwerfende Handbewegung, dann deutet er auf den Fluss und grinst.

»Mia han aba trotzdem drin gschwumma«, sagt er. »Trotz an Dreeg. Der hod uns ned scheniert. Des san fast dreihundert Metta und i bi jedn Tag auf d’Nacht oamoi durche gschwumma. Oamoi hi und wieda retour. Jedn Tag.«

Dann geht er.

Der beinahe volle Mond geht groß und orangerot hinter einem Hügel auf und spiegelt sich im schwarzglänzenden Wasser der Donau. Ein Feuer zünde ich nicht an. Es sieht zwar schön und romantisch aus, aber hinterher stinken die Klamotten doch wieder nur tagelang nach kaltem Rauch.

SEIT FÜNF TAGEN bin ich auf dem Fluss unterwegs und am Nachmittag sehe ich am südöstlichen Horizont eine Brücke, die sich über die Donau spannt, am Ufer stehen Kirchtürme und mehrgeschossige Häuser. Passau liegt bunt und glänzend in der Sonne, die Fassaden der Häuser leuchten gelb und rot und ockerfarben, an Kaimauern liegen weiße Ausflugsschiffe und Angler stehen am Ufer.

Ich halte nicht in Passau, die Stadt ist mir zu groß und zu unübersichtlich. In den kleineren Orten und in den Dörfern gibt es meist bessere Anlegestellen für mein Boot und der Weg zum nächsten Laden ist auch einfacher zu finden. Immer auf den Kirchturm zu und dort ist dann meistens auch ein Geschäft und eine Kneipe oder ein kleines Café.

Hinter Passau mündet von rechts der Inn in den Fluss. Das grünbraune Wasser der Donau und das kalkgrautrübe aus den Alpen fließen eine Weile nebeneinander her, dann vermischen sie sich. Das Land wird bergig, hohe Kuppen fallen steil zum Ufer ab und ich suche ein Schild, das die Grenze markiert. Ab dem Kilometer 2 223 ist das rechte Ufer österreichisch, aber ich sehe kein Schild und fahre über die erste der vielen Grenzen, die die Donau passiert, ohne erkennen zu können, wo sie verläuft. Einerseits bin ich ein bisschen enttäuscht, andererseits finde ich es ganz großartig, dass es keine Kontrollen mehr gibt und ich einfach von einem Land in das andere wechseln kann, ohne dass sich irgendeine Behörde dafür interessiert.

In Erlau spielen ein paar Männer Fußball und neben dem Sportplatz baue ich das Zelt auf. Als ich fertig bin, ist auch das Spiel zuende, die Männer gehen vom Platz hinüber zum Vereinshaus und ich frage einen der Fußballer, der vor dem Haus steht, ob ich vielleicht bei ihnen duschen könnte.

»Wasserwanderer?«, fragt er und ich nicke.

»Dahinein«, sagt er und deutet auf die Tür.

Eine Dusche! Heißes Wasser! Seife! Das abfließende Wasser unter meinen Füßen ist graubraun. Ich schließe die Augen, lasse das Wasser über mein Gesicht laufen und habe mir nicht vorstellen können, wie sehr man etwas derart Alltägliches und Gewöhnliches genießen kann. Danach trockne ich mich ab und ziehe saubere Sachen an, ich fühle mich geradezu unglaublich wohl und setze mich auf die Bank vor dem Vereinshaus.

In einer knappen Woche bin ich 175 Kilometer gefahren. Noch immer habe ich einen leichten Muskelkater in den Fingern und in den Ober- und Unterarmen, aber es tut nicht weh, es ist beinahe nur wie die Erinnerung daran, dass ich seit ein paar Tagen paddle, mich bewege, mich anstrenge.

Mittlerweile weiß ich, wo ich was im Boot verstaut habe, und auch das Be- und Entladen und das Auf- und Abbauen des Zeltes geht schon viel schneller als noch in den ersten Tagen. Ich bin geschleust worden und ich weiß nun auch, dass mich die Wellen der großen Schiffe nicht zum Kentern bringen werden. Mit dem Gaskocher kann ich mir Kaffee kochen und Büchsensuppen warm machen und in den Dörfern kaufe ich mir Milch und Brot, Obst, Gemüse und Wasser. Es macht immer mehr Spaß und ich freue mich, noch zwei Wochen unterwegs zu sein, öffne mir eine Flasche Wein, lehne mich zurück und schaue in den Abendhimmel, trinke und bin ganz und gar zufrieden mit der Welt.

AM MORGEN SCHEINT DIE SONNE, keine Wolke steht am blauen Himmel und noch ist die Luft frisch und kühl, aber auf dem Wasser gibt es keinen Schatten und es ist heiß.

Am späten Vormittag sehe ich kurz vor Obernzell ein in Ufernähe ankerndes Motorboot im Fluss liegen, in dem eine Frau und ein Mann sitzen, etliche Kajaks sind unterwegs und am Ufer stehen zwei Männer und ein paar Kinder unter einem Banner mit der Aufschrift »Start«. Die Kinder in den Booten sind etwa zehn Jahre alt und tragen Schwimmwesten, sie sitzen ganz alleine in ihren Hartschalenkajaks und paddeln mit voller Kraft.

Ein Junge startet auf gleicher Höhe mit mir, er legt sich ins Zeug und versucht mich einzuholen. Ich sehe zu ihm und paddle auch schneller. Seine Klassenkameraden am Ufer feuern ihn an und eine Zeitlang bleibe ich gleichauf, lasse mich dann aber zurückfallen und er gewinnt knapp. Als er die Ziellinie erreicht, legt der Sportlehrer die Hände zum Trichter an seinen Mund.

»Du kannst dir die Silbermedaille bei der Siegerehrung heute Nachmittag um vier auf dem Schulhof abholen!«, ruft er mir zu und klopft dem Jungen, der erschöpft am Steg anlegt und stolz zu mir herübersieht, auf die Schulter. Die Kinder lachen und winken und ich winke zurück und schwenke meinen Strohhut zum Gruß.

In Obernzell dann weiße Häuser mit Lüftlmalerei und hölzernen Balkonen unter roten Ziegeldächern hinter einer Hochwasserschutzmauer aus Naturstein. Eine barocke Kirche reckt ihre beiden Zwiebeltürme in den blauen Himmel und an einem Steg liegt ein schwarzes, altes Fischerboot festgekettet im Wasser, urtümlich wie ein Einbaum.

Die bewaldeten Berge werden immer steiler und höher, der Fluss mäandert durchs Gebirge und ein großes Passagierschiff mit drei Decks kommt mir entgegen. Menschen stehen an der Reling, winken und fotografieren mich.

Statt der bislang üblichen, großen, schwarzgrauen Steinblöcke am Ufer gibt es nun auch immer häufiger helle, fast weiße Strände aus Sand und Kieseln. Eine hölzerne, überdachte Fähre, die »Donaunixe Isa« heißt, pendelt von einem Ufer zum anderen, Motorboote ziehen Wasserskifahrer hinter sich her und neben dem Fluss verläuft der Donau-Radweg. Gruppen von Radfahrern mit Helmen und in bunten, enganliegenden Trikots fahren an mir vorüber. Einzelne Gehöfte, kleine Dörfer und weiße Kirchen liegen am Fuß der Berge zwischen frisch gemähten Wiesen, auf denen vereinzelt alte Obstbäume stehen, und auf den Terrassen der Wirtshäuser sitzen Motorradfahrer in ihren schwarzen, schweren Jacken und Hosen im Schatten großer Sonnenschirme, vor sich ein Weißbier.

 

An einem Steg lege ich neben Yachten und Motorbooten an, gehe ein paar Schritte das Ufer hinauf und lasse mich vor dem Rasthaus ins Gras fallen, breite die Arme aus, schließe die Augen und bin so erschöpft, dass ich beinahe einschlafe. Das kurze Gras duftet nach Wiese und Erde und kitzelt mich im Gesicht. Eine halbe Stunde bleibe ich so liegen, dann stehe ich auf und fahre weiter.

Die Donau windet sich in der Schlögener Schlinge durch eine felsige und bewaldete Berglandschaft und ein Ausflugsschiff fährt an mir vorüber. »Rousse« steht in lateinischen und kyrillischen Buchstaben am Bug des Schiffes. Ruse, Bulgarien, ist noch 1 700 Flusskilometer entfernt.

AM TAG DARAUF fahre ich am späten Nachmittag an die nächste Schleuse. Ein weißes Motorboot, gut fünf Meter lang, liegt an der Kaimauer und darin sitzen zwei junge Männer und zwei Frauen in orangefarbenen Schwimmwesten.

»In einer halben Stunde kommt ein Schiff«, sagen sie, als ich neben ihnen anlege, »dann bringen sie uns nach unten.«

»Wo fahrt ihr hin?«

»Zurück nach Linz«, sagen sie. »Wir haben nur einen kleinen Wochenendausflug gemacht, nach Passau. Gestern hin und heute zurück. Und du?«

»Aus Regensburg«, sage ich. »Und vielleicht kann ich es bis Budapest schaffen.«

»So weit?«

»Ihr fahrt doch sicher auch oft viel weiter als nur bis nach Passau?«, sage ich. »Mit so einem Motorboot geht das doch bestimmt ganz schnell.«

»Naja.« Sie sehen sich an. »Vor zwei Jahren waren wir mal in Wien und einmal auch in Pressburg. Das ist ja gleich hinter der Grenze. Aber eigentlich machen wir immer nur Wochenendtrips, samstags hin und am Sonntag zurück.«

Der Frachter kommt, das Tor öffnet sich und im Schleusenbecken legen wir je an einer Leiter an und warten.

Ein Mann in blauer Mechanikerkluft kommt auf der Kaimauer zu uns gelaufen.

»Das geht nicht!«, sagt er zu mir. »Ohne Schwimmweste können wir dich nicht schleusen.«

»Warum denn das? Ich brauchte doch bislang auch keine.«

»Das war in Deutschland«, sagt der Mann. »In Österreich haben wir jetzt Rettungswestenpflicht. Letztes Jahr ist hier drin einer ertrunken.«

»Ich kann schwimmen«, sage ich.

»Nein. Entweder du hast eine Schwimmweste oder du fährst wieder raus aus der Kammer. Dann musst du dir eben eine kaufen.« Auf dem Motorboot schwenkt einer der Männer ein orangefarbenes Bündel und winkt mich heran.

»Hier«, sagt er und reicht sie mir, »wir haben noch eine übrig.«

»Danke«, sage ich und hinter uns schließt sich das Tor. Draußen gebe ich ihm die Weste zurück, wir winken uns noch einmal zu und das Motorboot fährt davon. Bald darauf ist es hinter der nächsten Flussbiegung verschwunden.

In dreizehn Kilometern kommt die nächste Schleuse und es sind noch acht Staustufen bis zur slowakischen Grenze. Wo kriege ich jetzt nur eine Schwimmweste her? Außerdem sind die Dinger bestimmt nicht billig, aber es wird schon irgendwie werden, denke ich und fahre erst einmal weiter.

Tiefhängende, graublaue Wolken treiben am Himmel, darunter schnellziehende Fetzen von schwarzgrauen Wölkchen. Auf dem Fluss habe ich, anders als in der Stadt, den Himmel immer im Blick. Ich kann ihm nicht entgehen, ich bin ihm den ganzen Tag unmittelbar ausgesetzt und er spannt sich von Horizont zu Horizont in Blau und in Grau, in Weiß und Rosa, und das Wasser spiegelt ihn, die Sonne wandert von Ost nach Westen und schnell vergehen die Tage. Ich fahre und sehe in die Karte, ich muss mich orientieren und auf den Fluss achten, auf treibende Äste, auf überspülte Buhnen und große Steine, auf die Großschifffahrt und auf die schnellen Motorboote und ihre kleinen, tückischen Wellen, auf Strömungen und Strudel. Das Wasser drückt gegen das Boot, manchmal schlägt es wie mit Fäusten gegen die Gummihaut und drückt gegen das Ruder, das Boot erzittert in den Wellen und gleichmäßig bewege ich das Paddel, links, rechts, links, immer wieder, stundenlang.

Es beginnt zu nieseln und nach einer Weile wird der Regen stärker, ich ziehe mir die Spritzdecke bis vor den Bauch und streife das Regencape über. Der Himmel und der Fluss sind grau, rings um mich schlagen die Tropfen klein und weißperlend aufs Wasser und der Regen rauscht nieder. Ich lasse mich treiben und steuere das Boot lediglich mit dem Ruder, ein Graureiher hockt mit eingezogenem Kopf auf einem toten Baum, der im Wasser liegt, und der Regen hüllt mich ein, ich kann nur ein paar hundert Meter weit sehen und Fluss und Himmel verschwimmen im Grau des Horizonts. Wasser läuft durch kleine Ritzen ins Boot und unter das Regencape, nach einer Stunde bin ich durchnässt und durchgefroren und paddle eine Stunde ohne Pause, um wieder warm zu werden. Aus den Bergen dampft es.

Das Regencape ist eine leuchtendgelbe Plastikhaut und wenn ich die Ärmel hochkremple, dann sieht es von Weitem ganz bestimmt so aus als ob ich eine Schwimmweste trage, denke ich, als ich zum Schleusentelefon gehe und anrufe. Die Männer sitzen im Turm, wegen des Regens kommen sie nicht heraus und ich werde problemlos geschleust.

Am Abend lege ich am Ruderklub Linz an und trage das Gepäck die Treppe hinauf zum Haus.

Im Garten liegen ein paar Boote im Gras, daneben stehen drei Zelte. Ich gehe ins Haus und sehe einen Mann in dem großen Saal, in dem unzählige Kajaks und schlanke, hölzerne Ruderboote auf langen Gestellen liegen, die bis zur Decke reichen.

»Hallo«, sage ich. »Ich wollte fragen, ob ich hier übernachten kann.«

»Auf der Wiese, neben den anderen Zelten. Die Übernachtung kostet fünf Euro und die Duschen sind da hinten«, sagt er und deutet auf eine Tür. »Jetzt haben wir viel Platz. Es sind nur ein paar Camper hier. Vor drei Wochen war die TID bei uns, da war alles belegt. Das ist immer ein fester Termin, Anfang Juli kommt die TID.« Die TID, die Tour International Danubien, findet seit 1956 statt und ist die längste Kanu- und Ruderregatta der Welt. Jedes Jahr starten Ende Juni mehr als hundert Teilnehmer in Ingolstadt und fahren nach Sfântu Gheorghe am Schwarzen Meer. Dabei legen sie täglich Strecken von dreißig bis sechzig Kilometern zurück und Mitte September erreichen sie ihr Ziel.

»Und du«, fragt er und sieht mich an. »Warum fährst du allein? Warum fährst du nicht mit der TID?«

»Ich glaube«, sage ich, »dass man in einer Gruppe weniger mit den Leuten in Kontakt kommt als allein. Und ich möchte wissen, wie die Menschen entlang der Donau leben. Mich interessiert, was sie von ihren Nachbarn, die zehn, hundert oder tausend Kilometer entfernt leben, wissen. Ob die Donau sie verbindet.«

»Viel Glück«, sagt er und nickt. »Aber pass auf dich auf! Alleine ist es auch viel gefährlicher als in der Gruppe.«

Dann geht er.

DER REGEN HAT DIE DONAU anschwellen lassen. Um etwa zwanzig Zentimeter ist der Pegel über Nacht gestiegen und im Fluss treiben Zweige, Äste und ein ganzer Baumstamm. Das Wasser ist aufgewühlt und schlammigtrüb und scheint schneller zu fließen, aber es regnet nicht mehr und ich hole meine Sachen, steige ins Boot und fahre weiter.

Am rechten Ufer liegt ein Industriegebiet, ich fahre unter den Straßen- und Eisenbahnbrücken von Linz hindurch und das Wasser reflektiert das gelegentlich zwischen den Wolken durchscheinende Sonnenlicht in hellen Flecken an die Unterseite der stählernen Konstruktionen.

Nach zwei Schleusen – das Regencape geht auch heute beide Male problemlos als Schwimmweste durch – und 53 Kilometern erreiche ich am Abend Grein, ein kleines Städtchen in der Bucht einer Flussbiegung. Hinter dem Ort erheben sich bewaldete Berge und am gegenüberliegenden Ufer stehen Felsen.

Im Yachthafen lege ich an und gehe den Hügel hinauf zu einem Haus, vor dem zwei Männer und eine Frau auf der Terrasse sitzen. Sie sind etwa fünfzig Jahre alt, sie tragen teuer aussehende Segelkleidung, wollene Markensweatshirts und helle Hosen, und vor ihnen steht eine Flasche Wein auf dem Tisch.

»Ah, an Kanute!«, sagt einer der Männer, »Wuist hia übanachtn? Drinn lieagt a Listn, troag di ein«, und er deutet auf das Haus. Ich gehe hinein, schreibe meinen Namen in das Buch und werfe zwei Euro Liegegebühr in die Kasse. An der Wand hängt eine große Karte des Stromsystems der Donau und ich suche Grein. Ganz oben links finde ich die Stadt. Obwohl ich heute bereits den achten Tag gefahren bin und schon mehr als dreihundert Kilometer zurückgelegt habe, sieht das Stückchen Fluss zwischen Regensburg und Grein auf der Karte ganz klein und unbedeutend aus.

»Setz di«, sagt der Mann, als ich wieder herauskomme, stellt ein viertes Glas auf den Tisch und sieht mich fragend an. »Du trinkst do aan mit?«

»Kumm«, sagt die Frau, als ich zögere, »sei ned fad«, und deutet auf einen Stuhl.

»Seid ihr aus Grein?«, frage ich sie und setze mich.

»Naa, wia san aus Wien. Siagst des Schinackl da untn?«, sagt der Mann und deutet auf eine große Yacht. »Des is meins.« Wir sitzen auf der Terrasse, die Sonne geht langsam unter und die Felsen und Berge des gegenüberliegenden Ufers leuchten im Abendlicht.

»Grein hot den scheenstn Hafn in gonz Österreich«, sagt der Mann. »Deswegen kumman wia a imma wiada da hea und net nur wia. Nach Grein kumman sogoa Australier und Amerikaner, weus da scheenste Uat an da gonzn Donau überhaupt is. Host da den bestn Platz ausgsuacht, denst überhaupt findn konnst«, sagt er.

»Und du bist gonz allaan unterwegs?«, fragt die Frau. »Host denn goa ka Angst?«

»Nein«, sage ich, »nur manchmal.«

Die Männer lachen.

»Was wuist überhaupt weiterfoahrn? Was wuist bei de Tschuschn?«, sagt der eine. »Bleib do, hia is eh am scheenstn«, und der andere nickt.

»Nackert wird er wiedakumma«, sagt er. »Amoi war i in Pressburg, waaßt no, und gleich hams ma den neichn Wagn gstohln.«

»Audi ist eh a Kraxn, BMW hat vui mehr Sicherheit. Den knackns da ned so leicht.«

»Geh weida, Oida, doch ned beim Fünfa, do is da A6 vui bessa!« Der Mann winkt ärgerlich ab und die Frau stellt einen Karton mit Kräuterschnapsfläschchen auf den Tisch. Jeder der drei nimmt sich eins und dann halten sie mir die Kiste entgegen.

»Ich weiß nicht«, sage ich. »Von Schnaps werde ich immer so schnell besoffen.«

»Sei ned fad«, sagt die Frau und die Männer lachen.

»Kumm, los! Du waast da erste Deutsche, den i kennenlern, da kaan Schnaps trinkt!«, sagt der eine und ich nehme ein Fläschchen. Kurz darauf holt der Mann erneut den Karton hervor. Er sieht mich eindringlich an.

»Dass du di desmal a ned ziarst«, sagt er.

Eine Stunde und etliche Schnäpse später bedanke ich mich, gehe zum Zelt und lege mich in den Schlafsack. Mir ist ein bisschen schwindlig. Nein, mir ist nicht schwindlig, ich bin einfach nur ziemlich besoffen.

AM MORGEN HÄNGEN dicke, graue Wolken zwischen den Bergen, ich habe einen Kater und es regnet. Ich ziehe das Regencape über, schließe die Spritzdecke und fahre trotzdem los.

Immer wieder fahre ich ein Stückchen und mache zwischendurch lange Pausen, sitze am Ufer unter einem Baum und warte. Am Abend erreiche ich nach gerade einmal 23 Kilometern Ybbs. Unterhalb der Schiffswerft führt ein Kanal in den geschützt hinter einem Steinwall liegenden Hafen und ich mache an einem Steg fest, nehme meine Sachen und gehe in den Ort. Am Kanuklub, steht im Wasserwanderführer, gäbe es Übernachtungsmöglichkeiten. Es regnet noch immer, ich bin völlig durchnässt und vielleicht kann ich ja sogar im Haus übernachten, denke ich, denn bei diesem Wetter möchte ich nicht unbedingt im Zelt schlafen.

Das Haus sieht aus wie ein ganz gewöhnliches Einfamilienhaus, aber am Tor hängt ein Schild mit der Aufschrift »Kanuklub Naturfreunde Ybbs« und eine junge Frau öffnet.

»Sie können auf der Wiese im Garten zelten«, sagt sie.

Die Frau ist etwa dreißig Jahre alt und hat halblanges, blondes Haar, sie steht frischgeduscht in einem sauberem Shirt und Jeans in einem hellen Treppenhaus mit Stufen aus polierten Steinplatten und ich komme mir vor als hätte ich, ungewaschen, unrasiert und durchnässt, wie ein Bettler an einer fremden Haustür geklingelt und als sei allein meine Frage eine ziemliche Unverschämtheit.

 

»Dürfte ich vielleicht im Haus übernachten?«, frage ich sie trotzdem. »Ich brauche auch nichts weiter, ich habe einen Schlafsack und eine Isomatte. Und selbstverständlich bezahle ich auch dafür.«

»Nein«, sagt sie, »das geht nicht«, schüttelt den Kopf und führt mich auf die Wiese hinter dem Haus. Es regnet, ich stehe auf dem kurzgeschnittenen Rasen und durch die gläserne Terrassentür kann ich in einen großen, leer stehenden Raum sehen. Ein Kanu hängt neben gerahmten Fotos, neben Urkunden und Wimpeln an der Wand und in einer Vitrine stehen Pokale. Da drinnen hätte sie mich doch schlafen lassen können, denke ich und baue das Zelt auf, mache mir eine Dose Gulasch warm und sitze, mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, auf dem schmalen, trockenen Streifen Terrasse und sehe dem Regen zu.

Hemd, Pullover und Hose sind trotz des Regencapes nass und auch in den Packsäcken werden die Sachen nach und nach ziemlich klamm. Ich lege mich in den feuchten Schlafsack, ich friere und höre den Regen rauschen.

ALS ICH AM MORGEN das Zelt abbaue und meine Sachen zusammenpacke, ist es trüb und kühl und ab und an regnet es. Am Nachmittag wird der Regen stärker und ich fahre bei Melk in einen Altarm hinein.

»Bootssteg nach 200 m, Bootshaus der Ruder-Union. Übernachtung auf Luftmatratzen möglich«, steht im Wasserwanderführer. Ich gehe hinauf zum Haus, vor dem schon ein Kajak auf der Wiese liegt. Daneben steht ein winziges, flaches Zelt und unter dem Dach sitzen auf der Terrasse eine Frau und ein Mann. Sie sind Ende vierzig und schneiden Gemüse in einen Kochtopf. Der Mann hat dichte, silberfarbene Locken, seine Füße stecken in Sandalen und ein T-Shirt, das über der kurzen Hose hängt, spannt ein wenig über seinem Bauch. Er sieht aus wie ein grau gewordener Weihnachtsengel. Die Frau hat kurze, blonde Haare, sie trägt Jeans und ein graues Sweatshirt.

»Hallo«, sage ich. »Bin ich hier richtig am Ruderklub? Ich würde gerne hier übernachten, wenn das möglich wäre.«

»Ja«, sagt der Mann. »Hier bist du genau richtig! So ein Scheißwetter«, lächelt er freundlich. »Da macht es wirklich keinen Spaß. Ich bin Bernd«, sagt er, reicht mir die Hand und deutet auf die Frau. »Sabine.«

Sie nickt nur kurz und er zeigt mir das Haus, die Duschen und den Raum, in dem ich übernachten kann.

»Wir schlafen im Zelt«, sagt er. »Du hast das Zimmer also ganz für dich allein.«

In dem holzgetäfelten Raum stehen auf steinernen Bodenplatten ein kleiner, schwarzer Ofen, ein Biertisch und zwei Bänke vor einem großen Fenster.

Ich hole die Sachen aus dem Boot, entlade es und ziehe es auf den Steg. Die zweite Spante von vorn sieht nicht gut aus. Einer der stählernen Haken sitzt nicht mehr in dem dafür vorgesehen Loch und das Holz ist gebrochen, aber ich habe nichts dabei, es zu reparieren. Durch das Verdeck ist viel Wasser hineingelaufen, so viel, dass ich tagsüber mit der Socke, mit der ich es während der Fahrt immer wieder aufgewischt habe, gar nicht mehr hinterhergekommen bin. Ich drehe das Boot um und ein Schwall Wasser läuft heraus. Es wird dem Holzgerüst guttun, denke ich, etwas abzutrocknen.

Im Haus spanne ich Leinen und hänge meine Sachen auf. Danach gehe ich über das Grundstück und suche unter den Bäumen nach Ästen und Zweigen. Nach einer halben Stunde lege ich ein Bündel Holz neben den Ofen, gehe wieder hinaus zu den beiden und setze mich zu ihnen.

»Scheißwetter«, sagt Bernd, »willst du ein Bier?«

Ich nicke und er geht ins Haus.

»Der Klub ist prima«, sagt er und zwinkert mir zu, als er mit zwei Büchsen in der Hand wiederkommt. »Wir sind heute Mittag hier angekommen und haben die Nummer angerufen, die an der Tür steht. Zehn Minuten später hat uns die Gabi aufgeschlossen. Wir können so lange bleiben wie wir wollen, und der Kühlschrank ist voll mit Bier. Kostet nur einen Euro, einzuwerfen in die Kasse des Vertrauens. Wir kommen aus Oldenburg«, sagt er, »und fahren mit dem Kajak durch die Wachau, von Melk nach Krems. Dann geht es weiter nach Wien. Das sind genau hundert Kilometer und wir haben eine Woche dafür eingeplant.«

»Die Wachau ist die schönste Ecke in Österreich«, sagt Sabine, »Weltkulturerbe. Wir machen immer solche Touren mit unserem Boot«, und sie deutet hinüber zu dem modernen, hellblauen Hartschalenkajak, das neben dem Zelt im Gras liegt.

Ich ziehe das Regencape über und gehe trotz des Wetters hinauf zur großen, barocken Benediktinerabtei, die auf einem Felsen am Ufer steht, spaziere durch den Garten und sehe über die Donau. Der Blick von hier oben ist ein ganz anderer als der aus dem Boot. Große Strudel gurgeln, die Wellen fließen schnell und scheinen geradezu zu drängeln und zu drängen, zu schieben und zu schubsen, als könnte jede von ihnen es kaum erwarten voranzukommen, und als wollte jeder Tropfen der erste sein auf dem langen Weg zum Meer.

Danach gehe ich zurück zum Bootshaus. Das Holz ist nass, aber mit ein paar alten Zeitungen, die in der Ecke liegen, geht es irgendwann, und nach einer Weile brennt im Ofen ein Feuer. Es wird warm und die Hemden, Socken und Unterhosen, die Pullover und der Schlafsack beginnen zu trocknen. Es wurde auch höchste Zeit, denke ich, alles einmal aufhängen zu können. Die Sachen sind schon seit Tagen klamm und feucht, der Strohhut schimmelt bereits und hat viele, kleine, schwarzgrüne Punkte auf der Krempe.

Gleichförmig trommeln die Tropfen auf das Dach und laufen an den beschlagenen Fensterscheiben hinunter. Ich sitze neben dem Ofen, ich habe noch immer einen leichten Muskelkater und meine Handflächen werden hart und schwielig.

Am Abend mache ich mir ein paar Notizen, aber der Stift erscheint mir winzig und filigran und ich befürchte beinahe ihn zu zerbrechen, wenn ich nicht vorsichtig genug bin. Seit zehn Tagen sind meine Hände nun schon das glatte und feste Holz des Paddels gewöhnt, zwei Meter lang und drei Zentimeter stark, gewöhnt daran zuzupacken und es durch das Wasser zu ziehen mit ganzer Kraft.

AM MORGEN HAT DER REGEN aufgehört, Sabine sitzt unter dem Dach auf der Terrasse, liest und nickt nur kurz zum Gruß, als sie mich sieht, und aus dem Zelt höre ich ein lautes Schnarchen.

Ich gehe hinunter zum Ufer und im Altarm ist das Wasser erneut um einen halben Meter gestiegen. Die Treppe und der Steg zum schwimmenden Ponton liegen halb unter Wasser. Der Fluss ist trüb, braun und schlammig und ich kann die steinernen Stufen nicht mehr erkennen, ziehe die Schuhe aus und taste mich barfuß hinüber. Das funktioniert und ich gehe zurück zum Haus und packe meine Sachen zusammen. Es ist tatsächlich alles getrocknet über Nacht.

Bernd schaut gerade aus dem Zelt, als ich mit den Packsäcken aus der Tür komme.

»Guten Morgen«, sage ich. »Heute haben wir Glück. Es regnet nicht mehr!«

Er reibt sich die Augen und sieht zum Himmel.

»Ja, das sieht gut aus«, sagt er fröhlich. »Dann kann ich ja auch aufstehen.«

Mit den Säcken in der Hand balanciere ich barfuß, langsam und vorsichtig durch das knietiefe Wasser, gehe zurück und hole nach und nach alles auf den Ponton. Das Boot ist abgetrocknet über Nacht, alles Wasser ist herausgelaufen und die Bootshaut innen nur noch ein wenig feucht. Ich fahre weiter und links breiten sich Weinstöcke terrassenförmig wie asiatische Reisfelder an den Hängen aus und kleine, weiße Häuser stehen am Ufer. Sabine hatte recht, denke ich, es ist tatsächlich sehr schön hier.

Die Donau fließt viel schneller als noch vor ein paar Tagen und nach nicht einmal vier Stunden fahre ich schon an Dürnstein vorbei, 27 Kilometer hinter Melk. Das Wasser steht so hoch, dass es beinahe den schmalen Uferweg überflutet, weißschäumend bricht es sich an überspülten Buhnen und vor einer Insel hat der Fluss Bäume angeschwemmt. Ineinander verkeilt liegen sie da, zehn Meter breit und drei Meter hoch aufgetürmt.