Irren ist göttlich

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»Danke!«, rief er mit zitternder Stimme zum Turm hin und wieder kam es im Chor: »Gern geschehen, dafür sind wir hier.«

Thariel schaute sich das Ungetüm einen Moment lang an, das neben ihm auf dem Boden lag und drei Mal so groß war wie er und auf sieben kräftigen Pranken durch die Einöden zog. Mit giftigen Zähnen, die jedes Lebewesen innerhalb von Sekunden lähmt und tötet.

Danach lief er stur geradeaus, drehte sich nicht mehr um und lief und lief.

Nach einer langen Wanderung durch die Steppe mit ihren trockenen Wiesen und einsamen Bäumen, die aber immerhin ohne weitere Angriffe oder Entführungen verging, erhob sich hinter einem Hügel das mächtige Mammama weit hinauf in den Himmel. Im ersten Moment dachte Thariel, er würde träumen. Aber was da vor ihm aufragte, blieb auch stehen, nachdem er sich mehrmals die Augen gerieben hatte. Bei Mammama handelte es sich im Grunde um eine Stadt in Gestalt eines gigantischen Turms, der nach oben hin immer schmaler wurde und schließlich in einer Turmspitze mündete, in der nur noch Platz für einen einzigen Stuhl blieb.

Dort saß Gott Thromokosch oft und blickte auf die Welt hinab, so hieß es zumindest. Um den Turm herum herrschte rege Betriebsamkeit. Nicht nur strömten die Menschen durch das Haupttor nach Mammama, nein, noch mehr beindruckte, was um den hohen Turm herum in der Luft los war. Seilbahnen verbanden jede Plattform mit dem Erdboden, damit die Reise in eine der höheren Plattformen nicht Stunden dauert, weil sie zu Fuß und Treppenstufe um Treppenstufe zurückgelegt werden muss. Rund um die Stadt befanden sich zwölf Hütten, die als Talstation für die Plattform-Seilbahnen dienten. Die höchsten Ebenen des Turms wurden außerdem von O-Booten umkreist, als ob es sich um Greifvögel handelte, die geduldig ihre Beute beobachten. O-Boote erfreuten sich unter den wohlhabenden Einwohnern größter Beliebtheit8 und wurden gerne für Tagesausflüge genutzt. Zwischen den Seilbahnen, die den Turm scheinbar mitstabilisierten9 und den O-Booten, die es in verspielten Farben und Formen zu bestaunen galt, flatterten Lastentauben an den Fassaden hinauf, um Menschen und Waren zu transportieren. Vom ersten Moment an konnte man sehen und spüren: Mammama pulsierte vor Leben.

Eigentlich bestand Mammama aus vielen aufeinandergetürmten Städten, weshalb manche Leute in ihr auch schlicht einen einzigen gewaltigen Turm sahen. Einen gewaltigen Turm, dessen Mauern in allen Farben leuchteten. Manche Abschnitte strahlten in hellem Blau und wurden von grünen Passagen abgelöst, auf die rote und gelbe Farbtöne folgten. In manchen Abschnitten waren alle Farben bunt gemischt. Es gab Stellen auf der Mauer mit groß­flächigen Gemälden, etwa von Menschen, die Ellbogenball10 spielten, von Jägern, die Zyklopenelefanten verfolgten oder von Schiffen auf dem Blumenmeer. Als Thariel die Blumen sah, die sich als Welle gegen die Schiffe warfen, bekam er einen Moment lang keine Luft mehr. Insgesamt sah der Turm farbenfroh, freundlich und friedlich aus. Im Sumpfdorf hatten sie sich erzählt, dass Männer, die mit schwarzem Haar loszogen, nach der Umrundung des Turms alt und grau waren. Trotz seiner enormen Ausmaße wirkte er nicht bedrohlich. Er wirkte nur einfach unbesiegbar. Unbesiegbar, uneinnehmbar und unzerstörbar. Und er wirkte auf ziemlich entmutigende Weise so.

Mammama hatte es nicht nötig, Gewalt auszustrahlen.

Tatsächlich verzichtete die Stadt auf jede Form aktiver Verteidigungsanlagen11. Im Ernstfall wurde einfach das Tor geschlossen und die Seile der Seilbahn gekappt, woraufhin sich die Angreifer einem schweigenden Koloss gegenübersahen, der in seinem Inneren alles produzieren konnte, was es brauchte, um ein ganzes Königreich zu versorgen. Während einer Belagerung gehörte Übergewicht zu den größten Problemen von Mammama, während die Vorräte der Belagerer nach und nach dahinschmolzen – es kam sogar vor, dass die Stadt ihnen Essen und Trinken verkaufte, damit sie etwas länger durchhalten konnten. Früher oder später, aber eher früher, gaben alle Angreifer entnervt auf. Manche bestürmten vor lauter Verzweiflung die Stadtmauern, aber das hatte nicht mehr Wirkung als eine Welle, die sich gegen einen Felsen wirft. Mitleidig und amüsiert gleichermaßen wurden solche Versuche von den Einwohnern beobachtet, die an den Rändern der verschiedenen Plattformen standen und sich das Schauspiel ansahen. Während die ersten etwa dreißig Meter der Stadtmauer aus massivem Gestein bestand12, folgten danach die Plattformen, die von mächtigen Säulen voneinander getrennt wurden. Es gab zwar die Möglichkeit, die Plattformen mithilfe eines komplexen Rollladen-Systems zu verschließen und dadurch dem Turm eine vollkommen glatte Außenwand zu verpassen, aber das war auch in Kriegszeiten so gut wie nie nötig gewesen. Und wenn doch, nur als Mittel gegen die Langeweile.

Als er von der Anhöhe in das Tal wanderte, konnte Thariel es kaum erwarten, endlich Mammamaer Boden zu betreten. Er kam auf die Brücke, wo Kutscher ungeduldig auf Einlass warteten, während Gänse zwischen den Menschen umherflatterten. Ältere Frauen trugen Körbe mit Früchten und junge Männer schleppten Holz in die Stadt. Ein Junge trieb seine Schafsherde hinaus aufs Feld. Händler boten in kleinen Ständen Zauberschmuck, Liebestränke und Glücksamulette an. Schon hier auf der Brücke sah Thariel mehr Menschen als in seinem ganzen bisherigen Leben zusammen. Direkt unter dem Torbogen lehnten zwei Wächter an der Felsmauer und gaben hin und wieder Anweisungen, wenn jemand den Verkehr aufhielt, aber insgesamt hatten sie mehr mit der Müdigkeit zu kämpfen als mit den Menschen.

Dann durchquerte Thariel das Tor, ein letzter Schritt, geschafft. Mammama! Er war am Ziel. Ergriffen von diesem Moment, hielt er kurz inne. Die Stadt Gottes, Ort der Harmonie und Ursprung allen Lebens, Inspiration für ... eine Fischverkäuferin stieß Thariel zur Seite.

»Aus dem Weg, Elf!«, brummte sie.

»Ich bin kein Elf!«, rief er ihr nach, während er in die Stadt lief.

Er sah gelbe und grüne Zelte, in denen mal Gaukler und mal Heiler, mal Baumfäller und mal Schneider ihre Dienste anboten. Und in den Seitengassen ging es mit der Geschäftigkeit genau so weiter. Irgendwo spielte jemand Harfe. Thariel erhaschte einen Blick in eine Straße, in der es statt Zelten richtige Läden gab und Goldhändler ihre Türen mit falschem Gold bestrichen hatten und an Tischen voller Münzen auf Kunden warteten. Zwei Händler in blauen Mänteln standen beieinander und unterhielten sich leise. Nur eine Straße weiter zeigte sich ein vollkommen anderes Bild. Hier gab es kleine Läden, die Obst und Gemüse anpriesen. War es bei den Goldhändlern sauber und leise zugegangen, schrien hier die Verkäufer ihre Angebote heraus und wirbelten den Staub des sandigen Bodens auf. Straßenkinder griffen sich die Waren aus den Körben und rannten vor den fluchenden Verkäufern in noch engere Gassen davon.

So ging es weiter, Straße um Straße. Schon das »Erdgeschoss« von Mammama hatte die Ausmaße einer Großstadt. Thariel konnte sich nicht vorstellen, dass es hier irgendetwas nicht zu kaufen gab. Es folgten die Viertel der Wäschereien und Schuhmacher, Steinmetze und Schmiede, Weber und Fischer. Und schließlich stand Thariel auf einem Marktplatz und bestaunte den Hauptsitz der Holzbörse, einer der mächtigsten Einrichtungen der Welt.

Eigentlich handelte es sich um einen Zwillingsbau, in zwei Teile getrennt und über eine Brücke verbunden. Ihr schlanker, eichenholzbrauner Bau brachte es auf fünf Stockwerke. In ihre Fassade waren hunderte liebevoll angefertigte Holzfiguren geschnitzt worden, die als Motiv allesamt Menschen in Wäldern oder zumindest vor Bäumen zeigten. Hinter diesen verschnörkelten Mauern wurden die internationalen Holzwerte für jedes Unternehmen und jede Ware festgelegt, die es gab.13

Fast alle (der wenigen) Angriffe auf Mammama wurden durch Entscheidungen der Holzbörse ausgelöst, an der sich schlagartig verarmte Händler oder Könige rächen wollten. Eine Einrichtung gab es jedoch, die für noch mächtiger gehalten wurde und die auch der Grund für die Lücke zwischen den beiden Gebäudeteilen war: die Konditorei Maier und Tochter. Dabei handelte es sich um nicht mehr als eine Hütte mit schief hängender Tür, beschädigtem Dach und kaputten Fenstern. Sie machte den Eindruck, als ob sie jederzeit zusammenbrechen könnte, gleichzeitig stand die Konditorei Maier und Tochter aber im Ruf, so zuverlässig wie niemand sonst Kriege, Revolutionen, Umstürze und Aufstände vorhersehen zu können. Niemand wusste, wie das möglich war, doch wenn die Konditorei keine Torten mehr aus dem Nebelreich verkaufte, konnte man sich sicher sein, dass die letzte Stunde von Nebelkönig Braxmuth geschlagen hatte.

Oft standen aber auch einfach nur Namen auf den süßen Backwaren, was immer zu viel Tratsch führte. Es konnten die von Monarchen sein und ebenso die von Unbekannten, die womöglich bald jeder kennen würde oder die zumindest in Abenteuer verwickelt werden würden, von denen man sich noch lange erzählen wird. In Mammama unterhielten sich die Menschen gerne darüber, was wohl welcher Name in der Auslage bedeutete. Im Moment lagen dort unter anderem Donauwellen mit den Marzipanaufschriften »Svenus von Schwarzenberg«, »Treubarth der Drachentöter«, »Mathik«, »Boris der Xte«, »Zwergin Lana«, »Ludwig Müller«, »Tsamuel Moorgat«, »Erf Erf« und »Liebwelt von Knochenbrecher«. Kein Herrscher hörte es gerne, dass sein Name auf Torten dieser Konditorei stand und die Holzbörse wiederum hätte nur zu gerne diese Hauslücke geschlossen, aber niemand wagte es, die Konditorei Maier und Tochter zu verdrängen – obwohl es laut Mietvertrag ein Leichtes gewesen wäre, da sie seit 57 Jahren mit der Miete in Verzug war.

 

Thariel überquerte den Marktplatz und egal, wohin er ging, überall befanden sich Zelte und Läden, die Waren und Dienste anboten. Von vielem, was es hier gab, hatte er noch nie zuvor gehört. Gaukler zeigten Kunststücke und Riesen und Zwerge wurden als Attraktionen herumgeführt. Die Musik der Spielleute, das Geschrei der Verkäufer, das laute Feilschen, das Lachen und Schreien, all dies vermischte sich zu einer imposanten Geräuschkulisse.

Staunend spazierte Thariel weiter und weiter.

»Sie möchten ihre Kleider säubern lassen?«, fragte eine uralte, gebückte Dame, die ihre Hände schon an Thariels Hemd hatte. Kurz darauf musste er einen Jungen vertreiben, der immer wieder mit einem Tuch anfing, seine völlig ramponierten Schuhe zu putzen.

»Na, schöner Mann?«, hauchte eine junge Frau, deren Brüste nur durch ein schmales rotes Tuch bedeckt waren. Sie kam ihm ganz nah, aber er verlor sie aus den Augen, weil eine Großfamilie lärmend vorüberzog.

»Ah!«, schrie er vor Schmerz auf, als ein kleiner Drachendackel Flammen gegen seine Wade spie.

»Der macht nix!«, beruhigte das Herrchen ungerührt.

Nun stolperte Thariel zufällig in eine Gasse hinein, in der Lokal an Lokal und Restaurant an Restaurant folgte. Überall saßen Menschen und unterhielten sich lautstark, während sie tranken und aßen. Immer wieder begrub dabei das laute Lachen angetrunkener Männer alle anderen Geräusche unter sich. Irgendwo sang ein Chor von Liebe und Liebeskummer. Weil aber Thariel viel zu aufgeregt war, um Hunger zu verspüren, lief er weiter und nach der nächsten Straßenecke blieb er wie angewurzelt stehen. Vor einer Werkstatt las er das Schild Reparaturen aller Art – in 2 Stunden. Zwei Stunden? Das konnte nicht sein. Misstrauisch kam er näher. Im Eingang stand ein kräftiger Kerl, etwa so alt wie er selbst, vor einem Amboss und bearbeitete ein verbogenes Hufeisen. Auf einem Tisch sah Thariel ein Schwert liegen, das an der Klinge angebrochen war.

»Was abzugeben?«, fragte der Mann, der die Regenwolke über Thariels Kopf irritiert musterte.

»Nein! Ich betreibe selbst einen Laden für Reparaturen aller Art.«

»Alles klar.« Der Fremde konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.

»Wirklich alles in zwei Stunden?«

»So wie es da steht.«

»Auch wenn ich etwas so Kompliziertes abgebe wie einen ... «, Thariel fiel nichts ein.

»Wie einen was?«

Thariel fiel immer noch nichts ein.

»Nichts, ich habe nichts abzugeben, ich repariere ja alles selbst.«

»Schön.«

Der Mann legte das Hufeisen in den Korb. Es sah aus wie neu. Weiter ging es mit dem Schwert. Nach einem prüfenden Blick, hielt er die Klinge über ein Feuer. Es zischte, als der Mann es danach ins Wasser tauchte, bevor es mit Hammer und Meißel an die Feinarbeit ging. Obwohl Thariel vor Minuten das letzte Wort gesagt hatte, stand er immer noch da.

»Alles in Ordnung?«, murmelte der Reparaturist und blickte Thariel ungeduldig an. So abgelenkt verfehlte er das Schwert und traf mit dem Hammer seinen Daumen. Er schrie auf und brüllte: »Verdammt!«

Thariel nutzte die Gelegenheit, um sich zu verabschieden: »Das passiert, wenn man etwas in zwei Stunden reparieren will, statt sich Zeit zu lassen.«

Zum zweiten Mal beschimpfte ihn hier jemand als »erbärmlichen Elfen«!

Heute würde er nicht mehr vor den Glasmeister treten können. Der Stadtplan verriet ihm, dass sich sein Büro auf Plattform zehn befand, genau genommen bestand die Plattform ausschließlich aus seinem Glasmeistergebäude.

Von all den ersten Eindrücken erschöpft, machte Thariel sich auf die Suche nach einer Bleibe für die Nacht. Er war nicht wählerisch und entschied sich für die erstbeste Herberge, die er hinter einer Gasse entdeckte, in der vor allem Antiquarisches angeboten wurde.

Zum Trollkopf machte seinen Kunden schon äußerlich nichts vor. Die Vorhänge in den Fenstern fehlten fast alle und die wenigen vorhandenen hingen in Fetzen herab oder waren mit Blut und Dreck übersät. Vor der Türe stapelten sich Abfälle und durch die Hausmauer zogen sich meterlange Risse.

An der Rezeption im dunklen Hausflur saß eine seltsame Frau mittleren Alters, die einen antiquierten Helm mit Zweihornhorn trug. Sie schaute Thariel nicht an und murmelte nur die Zimmernummer, nachdem er bezahlt hatte. Das Treppenhaus quietschte, als wollte es jeden warnen, es nicht zu betreten. Oben angekommen, spürte Thariel bei jedem Schritt über den Flur etwas Klebriges unter seinen Füßen. Er wusste nicht, was es war, aber der zerfranste Teppichboden hatte reichlich davon geschluckt. Anstelle von Wänden trennten dünne, zerrissene Stofftücher die Zimmer voneinander. Aus irgendeinem Grund wanderten Esel und Hühner lautstark umher und ein riesiger, schwarzer Hund lag auf Thariels Strohbett, weswegen er selbst sich mit dem harten Steinboden zufriedengeben musste. Ihn störte das nicht, er war es aus dem Sumpfdorf gewohnt, hart zu schlafen und schloss bald die Augen. Als ihn etwas Feuchtes im Gesicht berührte, schreckte er hoch. Der Hund hatte das Strohbett verlassen und interessierte sich für den anderen Gast. Thariel streichelte ihm kurz über den Kopf und drehte ihm dann wieder den Rücken zu, um weiterzuschlafen. Als er das nächste Mal erwachte, zerrte ihn der Hund gerade vor Freude hechelnd durch den Flur und wedelte mit dem Schwanz.

Er befreite sich und hob drohend die Hand, aber der Köter stellte nur seinen Kopf schief und musterte ihn. Er wiederholte seine Geste, woraufhin der Hund die Zähne fletschte und zu knurren begann. Thariel sah ein, dass er hier keinen Schlaf finden würde und brach mitten in der Nacht auf.

Einsam stand der Mond am wolkenlosen Himmel und sein Wasserfall stürzte in lautloser Schönheit herab, als Thariel in die nun leere Gasse hinaustrat. In kaum einem Haus brannte noch Licht. Mammama schlief. Zumindest diese Plattform, auf der die Händler und Marktschreier, Gaukler und Bettler täglich um zahlende Kundschaft kämpften. Thariel genoss die Ruhe.

Er schloss die Augen und für einen Moment gelang es ihm, den Regen zu ignorieren, der auf ihn niederprasselte. Mitten in die Stille hinein platzte das Knurren eines Hundes. Thariel drehte sich um und sah, dass das riesige Tier gerade aus der Herberge sprang und sein Spielzeug suchte. Dann stürmte das Biest zähnefletschend los. Es wurde eine gnadenlose Jagd und hätte Thariel nicht die Erfahrung eines Lebens in den Sümpfen gehabt, hätte er den Wettlauf verloren. Es ging Gassen hinauf und hinunter, führte über Müllberge und durch einen Teich und kam erst zum Abschluss, als Thariel zum Treppenhaus rannte und die Tür verriegelte. Es hallte schwer nach, als sich der mächtige Körper des Hundes gegen die Tür warf. Thariel lief hinauf auf die zweite Plattform und ruhte sich auf einer Bank aus.

Erste Sonnenstrahlen legten sich auf die Pflastersteine, als er wieder erwachte. Die zweite Plattform bot einen ganz anderen Anblick als die erste, wie er bemerkte. Hier entspannten die Bewohner von Mammama und trieben Sport. Es schien eine einzige große Parkanlage zu sein. Erste Läufer rannten an ihm vorbei. Auf dem Gras der Ellbogenplätze lag noch der Morgentau. Überall blühten Blumen. Thariel kam an Tennis- und Golfanlagen vorbei und an fantasievoll dekorierten Landschaften. Grüne Hügel luden zum Picknick ein und ein Irrgarten zum Verirren.

Thariel verirrte sich auch prompt und fand erst heraus, als er die Nerven verlor und die liebevoll geschnittene Hecke zerstörte, um durch sie hindurch ins Freie zu klettern. Ein altes Ehepaar beobachtete ihn dabei. »Eine Riesensauerei«, fluchte der Mann.

Längst glühte die Sonne am Himmel, als Thariel sich auf den Weg zum Glasmeister machte. Obwohl er auch auf die anderen Plattformen neugierig war, nahm er die Dienste einer sieben Fuß hohen und einige Tonnen schweren Lastentaube in Anspruch, die Reisende in kürzester Zeit auf jede gewünschte Plattform brachte. Nur die elfte und zwölfte Plattform, die Thromokosch bewohnte, waren tabu und damit es auch wirklich zu keinen Landungen kommen konnte, zogen sich mehrere Reihen spitzer Metallstäbe um diese beiden Plattformen herum. Im Vorüberfliegen konnte Thariel die anderen Plattformen nur für wenige Sekunden erkennen. Dabei ergab sich für ihn folgende Reihenfolge:

Plattform 03 - lange Häuserreihen, hier lebten wohl die meisten Mammamaer.

Plattform 04 – eine Wüste

Plattform 05 – ein Zaubermarkt

Plattform 06 – Museen, Opern und der Stadtzirkus

Plattform 07 – der Sklavenmarkt, hierhin hätte Nichtadmiral Nelson ihn wohl gebracht

Plattform 08 – eine Kaserne

Plattform 09 – Der Tempel zu Ehren von Thromokosch

Als er auf Plattform 10 aus dem Korb stieg14, stand er vor einem hohen, grauen Gebäude, das praktisch die ganze Plattform ausfüllte, die hier oben allerdings auch kaum noch Fläche einnahm. Nichts an der Außenfassade hatte etwas von dem Pompösen und Farbenprächtigen, das die restliche Stadt auszeichnete. Das Grau wurde nur hin und wieder von kleinen Fenstern unterbrochen, die wie misstrauische Augenpaare die Besucher zu beobachten schienen. Das Gebäude sah aus wie ein überdimensionaler Würfel. Thariel lief eine breite Treppe hinauf zum Eingang. Zwei Soldaten hielten Wache, beide in grauen Rüstungen mit grauen Umhängen und grauen Helmen mit einem Kamm aus grauen Grauhuhnfedern. Neben ihnen standen graue Schilder und ebensolche Speere. Am grauen Gürtel hing ein graues Schwert.

»Haben Sie einen Termin?«

Mit dieser Frage verstellte die größere der beiden Wachen den Weg.

»Nein, ich muss aber mit dem Glasmeister sprechen.«

Der kleinere der Wächter lachte laut auf: »Da könnte ja jeder kommen.«

»Was ist das?«, der Große deutete mit dem Speer auf die Regenwolke. Er hatte ein rötliches und pausbackiges Gesicht, das seine Augen etwas zusammendrückte.

»Deswegen muss ich ja mit dem Glasmeister sprechen. Es ist eine Verfluchung, keine Ahnung warum.«

»Du hast was angestellt«, zischte ihn der Kleine an, den vor allem eine hervorspringende Nase auszeichnete und die etwas zu hohe Stimme.

»Ich wüsste nicht, was.«

»Hmm«, der Große kratzte sich nachdenklich mit der Speer­spitze am Doppelkinn.

»Der hat was angestellt«, wiederholte der Kleine.

Mittlerweile hatten andere Lastentauben weitere Gäste nach oben gebracht. Treue Pilger aus dem ganzen Land, die Thromokosch dafür danken wollten, dass es ihn gab.

»Durchgehen«, forderte der Kleine die Religiösen mit seiner anstrengenden Stimme auf. Als sie die Regenwolke entdeckten, buhten sie und riefen »Ketzer!« und »Gefallener!« und wieder einmal »Elf!« Drei von ihnen versuchten sich sogar auf Thariel zu stürzen, was die beiden Wächter nur mit Mühe verhindern konnten.

»Durchgehen!«, forderte der Kleine die Pilger jetzt mit überschlagender Stimme auf.

»Die hatten einen Termin«, meinte er dann mit verschlagenem Grinsen zu Thariel.

»Ich bin wirklich weit gereist, um mit dem Glasmeister zu sprechen!«, erklärte Thariel.

»Hör mal zu«, der Große legte seine schwere Hand auf Thariels Schulter, »wir lassen dich ausnahmsweise durch, aber beim nächsten Mal brauchst du einen Termin!«

»Und lebe ein ehrliches Leben«, gab ihm der Kleine noch mit auf den Weg, »dann verflucht Thromokosch dich auch nicht.«

Thariel überhörte die Provokation und durchschritt die zwölf Meter hohe Eingangstür. Schon einen Moment später rannte er wieder hinaus, auf der Flucht vor den Pilgern, die gerade aus dem Gebäude eilten. Sie hatten im Glasmeistergebäude nur ein kurzes Gebet für den Glasmeister gesprochen, bevor es jetzt zur Thromokoschvilla weiterging.

Es kam zu erneuten Beschimpfungen, bevor die Gruppe heilige Lieder singend im Treppenhaus der Turmstadt verschwand, wo ihnen ein weiterer Wächter die vergitterte Türe hinauf zur Thromokoschvilla öffnete.15 Erst danach wagte es Thariel, wieder hinter den beiden Wächtern hervorzutreten, bei denen er Schutz gesucht hatte. Er bedankte sich, aber beide taten so, als würden sie ihn gar nicht wahrnehmen.

Das Glasmeistergebäude war karg eingerichtet, es gab nicht ein Gemälde an den hohen grauen Wänden. Jeder Schritt hallte nach, Thariel fühlte sich hier so wohl wie in einer Ruine. Direkt hinter der Eingangstür folgte eine viel zu große Halle, die man wiederum durch Flure verlassen konnte, die unter den mächtigen Wänden aussahen wie Mauselöcher. In der Mitte der Halle stand ein kleiner Tisch, an dem eine junge Frau saß. Sie hatte ihr blonde Haar streng nach hinten gekämmt und übersah Thariel so lange es ging.

 

»Verzeihung, wo geht es hier zum Glasmeister?«

Genervt blickte die Frau auf und ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen: »Ich muss ihnen das nicht sagen!«

»Aber das ist doch ihr Job«, meinte Thariel.

»Nein!«, säuselte sie, »aber ich will mal nicht so sein«.

Sie blickte zu einer Tür an der Wand.

»Da rein, da kommt ein Flur und im Flur die erste Tür links nehmen, dann kommen Sie wieder in einen Flur, da die erste Tür rechts nehmen, dann kommen Sie wieder in einen Flur, dort wieder die erste Tür links, dann wieder rechts, dann links, dann rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts, links, rechts, links. Und dann sind Sie da! Wenn Sie einmal die falsche Tür nehmen, stürzen Sie durch ein Loch im Boden die zwölf Plattformen hinab in eine Grube voller Giftschlangen, was für Sie dann auch schon egal ist, doch womöglich zusätzlich einige Giftschlangen tötet, also unterlassen Sie das bitte wenn möglich!«

Thariel betrat den Flur. Zu seiner Linken befanden sich zwölf Türen, zu seiner Rechten gar keine. Obwohl er am Ende des Flurs die Aufschrift Glasmeister auf der Tür lesen konnte, lief er nicht geradeaus, sondern hielt sich an die Anweisungen der unfreundlichen Dame. Sicherlich würde es einen Grund geben, warum er so geführt wurde. Er öffnete die erste linke Tür und gelangte in einen zweiten Flur, der beinahe so wie der erste aussah, nur, dass in ihm alle Türen auf der rechten Seite angebracht waren und es keine Tür am Ende des Ganges gab. Und so ging es immer hin und her. Einmal links, einmal rechts, wieder links, wieder rechts, links und rechts. Immer wenn Thariel durch die rechte Tür trat, kam er dem Glasmeister-Büro etwas näher, bis er sie endlich erreicht hatte. Auf einem kleinen Schild, das er aus der Ferne nicht gesehen hatte, stand: Glasmeister. Öffnungszeiten: Montag - Donnerstag von 8.00 – 12.00 Uhr und von 13.00 – 16.00 Uhr. Freitag von 08.00 – 12.00 Uhr. Er klopfte an und fragte sich, was dieser sonderbare Umweg sollte.

»Bin, äh, bin da«, brummte es aus dem Inneren. Thariels Herz klopfte heftig, als er die Klinke drückte und eintrat. Noch nie war einer aus dem Sumpfdorf beim Glasmeister gewesen. Ja, vermutlich hatte bislang auch keiner Mammama besucht. Das Büro wirkte ebenso grau wie der Rest des Gebäudes. Wobei die Form des Zimmers auffiel. Angelegt in Form eines Dreiecks liefen die Wände aufeinander zu, bis sie sich in einem spitzen Winkel trafen. Nach hinten hin wurde es immer schmaler. In der Mitte des Raums stand ein kleiner Schreibtisch mit Stiften und Federn, zwei Gläsern und einer leeren Blumenvase. Ansonsten fielen Thariel die zwei schmalen Säulen auf, die den Schreibtisch einrahmten. Ihre tatsächliche Höhe blieb unklar, weil sie irgendwo in der Dunkelheit verschwanden, die die Zimmerdecke einhüllte. Trotz des fahlen Lichts hier glitzerten sie aber wie Edelsteine in der Sonne. Neugierig trat er näher und stellte fest, warum. In die Säule waren Hunderte, nein Tausende, nein … scheinbar unendlich viele Glasscherben eingelassen. Ständig huschten Lichtblitze durch sie hindurch. Diese Glasscherben lebten und füllten sich in jedem Augenblick mit noch mehr Leben, das konnte Thariel spüren. Und er verstand auch, was er hier vor sich hatte: die Schicksale aller Menschen – in Glas gegossen.

Einst waren alle Schicksale in einer großen Glaskugel versammelt, doch Thromokosch verlor irgendwann den Überblick und voller Wut auf sich selbst warf er sie gegen die Wand, wobei sie in unzählige Scherben zerbrach. Statt sie wieder zusammenzukleben, kam er auf die Idee mit dem Glasmeister und seitdem hat jeder Mensch eine eigene kleine Glasscherbe in der einen Glaskugel, in der sein Schicksal vorgezeichnet ist.

»Hallo?«, rief Thariel vorsichtig und wunderte sich, dass er den Glasmeister nicht sehen konnte.

»Was, ähm, ist los?«

Thariel fuhr erschrocken zusammen. Da hatte jemand gesprochen, nur wo?

»Sprechen Sie ... also erklären Sie einfach, also ... nennen Sie

Ihr ... Problem!«, wiederholte die Stimme.

Plötzlich verstand Thariel, dass es sich beim Glasmeister um ein körperloses Wesen handelte. Ganz Geist und Magie.

»Was ist ... haben Sie, hmm, haben Sie bestimmte Sorgen oder, also ... ?« Nun löste sich etwas aus dem Grau der Wand und stellte sich als Glasmeister heraus, der sich farblich an seinen Arbeitsplatz angepasst hatte. Thariel verspürte eine gewisse Ernüchterung. Ein unsichtbares Wesen hätte ihn mehr beeindruckt als das, was er nun vor sich sah.

»Guten Tag, ich, also ich bin, meine Aufgabe ... ich bin der Glasmeister«, murmelte der untersetzte Mann. Nur in einem schmalen Streifen, der von einem Ohr über den Hinterkopf zum anderen führte, wuchsen noch Haare. Schweißperlen funkelten auf seiner Stirn und auf der Nase saß eine dicke Brille mit goldenen Rändern. Der Glasmeister trug eine graue Robe und entzündete nun eine Kerze, die auf dem Schreibtisch stand. Auch sie verbreitete nur einen grauen Schein.

»Was kann ich für Sie … ähm … tun, Herr ... ?«, nervös wischte sich der Glasmeister den Schweiß von der Stirn, der sich aber sofort wieder bildete. Den engsten Vertrauten von Thromokosch hatte sich Thariel ganz anders vorgestellt.

»Ich heiße Thariel.«

»Herr Thariel, in Ordnung, ist … also, ist vermerkt, damit es da keine, ähm, also ... Verwechslung gibt.«

Der Glasmeister versuchte zu lachen, was sich anhörte, als würde er an einer Feldmaus ersticken.

»Um was geht es Ihnen, also … warum, also was ist der Grund … Ihres, ähm, Besuches?« Unsicher fixierte er Thariel.

»Das da!« Thariel deutete mit dem Finger zur Regenwolke, die weiterhin zuverlässig tat, was eine Regenwolke eben tut.

»Nun, also, also, nun, das … ist eine Verfluchung.«

Der Glasmeister fuhr mit den Händen immer wieder über seine graue Robe. Einige Momente blieb es still.

»Warum?«

Erschrocken weiteten sich die Augen des Glasmeisters. Er fuhr sich hektisch über die Glatze und nahm die Brille ab, die ihm sofort aus den Fingern glitt und auf den Boden fiel. Er versuchte nicht einmal, ihren Sturz zu verhindern und blieb wie festgefroren sitzen. Als er Thariel kurz in die Augen sahen, merkte sein Gast, dass sogar diese grau waren.

»Warum ... es gibt, das ist so, also es gibt nur einen, ähm, Grund dafür. Thromokosch hat Sie, Thariel, also, genau genommen … verflucht.«

»Warum?«

Der Glasmeister hob nun doch die Brille auf und dachte kurz nach. »Das weiß ich, ähm ... muss ich zugeben, nicht wirklich ... Thromokosch hat seine, also, Gründe und ich trage seine Urteile nur ... in die Scherben der Einen Glaskugel16, ähm, in Scherben der Einen Glaskugel ein.«

»Können Sie das in meiner Scherbe überprüfen, das wäre nett. Ich bin den ganzen weiten Weg aus dem Sumpfdorf gekommen, um eine Antwort zu bekommen.«

Den Glasmeister sackte in seinem Sitz langsam zusammen.

»Versuchen kann ... ich ... es.«

Müde richtete er sich auf und lief langsam zu einer der grauen Wände. Von dort schob er eine ebenfalls graue Leiter heran und stellte sie an eine der beiden schmalen Säulen. Er kletterte vorsichtig hinauf, Sprosse um Sprosse, während er »Thariel ... Sumpfdorf ... ähm ... Fluch ... « und »äh ... da« vor sich hinmurmelte, bevor er zu einer bestimmten Scherbe hinaufblickte.17

»Weit oben ... also ein Glasmeister ... ähm ... sollte eigentlich Flügel haben ... um da hin zu ... ähm ... fliegen ... Ein ... ähm ... Glasvogel.«

Wieder lachte er, aber etwas lauter. Diesmal klang es, als würde ihn jemand erwürgen.

Irgendwann verschwand er endgültig in der Dunkelheit, die die Decke des Zimmers verbarg. Thariel wunderte sich, warum ausgerechnet eine so sensible und unsichere Gestalt von Thromokosch eine so wichtige Aufgabe anvertraut bekam. Andererseits musste der Glasmeister vor allem sorgfältig und ohne Murren die Aufgaben erfüllen, die Thromokosch ihm mitteilte. Und offenbar konnte er das. Nach einer halben Ewigkeit hörte Thariel ihn wieder die Leiter hinuntersteigen. Unter seinem linken Arm glitzerte etwas. Thariels Herz pochte stark. Das war seine Scherbe, sein Leben.