Irren ist göttlich

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HATSCHI! HATSCHI!



Das Niesen weckte Thariel auf, der nur mit Mühe die Augen öffnen konnte. Er erkannte sehr verschwommen und doch direkt vor sich eine Person, die sich mit einem Taschentuch die Nase putzte. Es dauerte noch weitere Augenblicke, bevor er wieder klar sehen konnte. Wo war er hier? Die Welt schien sich auf und ab zu bewegen. Und wer war diese Person, die ihn da so brutal angrinste und dabei zwei verholzte Zahnreihen zeigte? Sowohl oben als auch unten hatte diese Person nur noch Zähne aus Fichtenholz, wie Thariel beim Blick auf diesen Mundforst vermutete. Auch der restliche Mann wirkte verwegen und entschlossen und wie einer, der beim Münzwurf zu oft auf Zahl gesetzt hatte, wenn es Kopf wurde. Narben überzogen sein Gesicht rund um die breite Nase, doch machten vor allem die Augen einen schlimmen Eindruck. Rot unterlaufen, tränend und dick angeschwollen. Um das linke Knie hatte er einen Verband gewickelt. Sie befanden sich offenbar auf einem Schiff, das ruhig auf und nieder ging.



»Du verdammter Glückspilz!«, meinte die Gestalt jetzt, während sie sich Tränen aus den Augen rieb.



»Warum?«, fragte Thariel den Mann, der braune Hosen und ein weißes Hemd trug. Als Antwort kam ein schallendes Gelächter, als ob Thariel einen Scherz gemacht hatte.



»Was denkst du wohl, wie hoch die Chance ist, im Blumenmeer nicht zu ertrinken, wenn man hineinspringt?«



Erinnerungen kehrten zurück. Die Wiese, der Himmel, die Blumen, die Düfte, der Sprung.



HATSCHI! HATSCHI! HATSCHI!



Das Niesen schüttelte den Mann hin und her, dessen Augen dadurch nur noch mehr tränten. Erneut kam das Taschentuch zum Einsatz.



»Das Blumenmeer«, begann Thariel und nur langsam ordneten sich die Worte, »ist ein Meer?«



»Warum heißt es wohl Blumenmeer?« Der Kerl mit den Holzzähnen grinste wieder sein Fichtenlächeln. Sein Atem roch angenehm nach Harz, »ich habe noch nie erlebt, wie sich jemand mit vollem Anlauf in dieses Meer stürzte.«



»Ich dachte«, begann Thariel, ließ es dann aber sein, weil jede Erklärung doch nur weiteres Lachen auslösen würde. Stattdessen interessierten ihn zwei andere Dinge.



»Von wem wurde ich gerettet?«



»Von Nichtadmiral Nelson!«, erklärte der Mann stolz, verbeugte sich leicht und unterband mit großer Willenskraft ein erneutes Niesen, »ich sah dich springen und wusste, dass ich heute Geschichte schreiben werde! Zum ersten Mal wurde ein Mensch aus dem Blumenmeer gerettet.«



HATSCHI!



»Zum ersten Mal?«



Nichtadmiral Nelson nickte zur Bestätigung: »Wenn wir wollen, ist es das erste Mal. Unterschätze nie die Kraft der Fantasie!«



»Aber, wenn ich doch schon untergegangen war, wie …«



»Willst du es wirklich wissen?« Nichtadmiral Nelson zeigte wieder sein Holzgrinsen und Thariel nickte, obwohl er sich in diesem Moment nicht sicher war, ob er es wirklich wissen wollte.



»Dann frage ich dich zuerst: Weißt du, warum sie tränen?«



Das Gesicht kam Thariel jetzt sehr nahe und sprach weiter, »ich bin dir hinterher getaucht, nur über ein Seil mit dem Schiff verbunden. Und gegen irgendeine der gottverdammten Blumen bin ich wohl allergisch. Meine Güte, vermutlich bin ich allergisch gegen jede einzelne Blume in diesem elenden Blumenmeer!«



Er musste ein Taschentuch ziehen und sich die Nase schnäuzen, bevor er wieder nieste.



»Nichtadmiral Nelson«, begann Thariel, »haben Sie vielen Dank dafür, dass Sie mich gerettet haben.«



»Gern geschehen.«



»Aber darf ich noch eine Frage stellen?«



»Natürlich, du bist doch kein Gefangener!«



»Gut, dass sie das ansprechen, denn strenggenommen bin ich genau das.«



HATSCHI! HATSCHI! HATSCHI!



»Wie kommst du darauf?«



»Im Wesentlichen wohl, weil ich an den Fahnenmast gebunden bin.«



»Das macht dich zu einem angeschnallten Mann, nicht zu einem Gefangenen.«



»Aber ich kann mich nicht befreien.«



»Das sollst du ja auch nicht!«



HATSCHI!



Nichtadmiral Nelson zog wieder das Taschentuch hervor, »wie soll ich dich denn sonst auf dem Sklavenmarkt in Mammama verkaufen können?«



Er lächelte, aber nicht auf eine fiese Art, sondern auf eine aufrichtig erstaunte. Anscheinend wunderte er sich über die Naivität seines Mitreisenden.



HATSCHI!




6



Er versuchte, das Positive zu sehen. Er kam schnell voran. Für die Strecke, die Thariel nun auf dem Blumenmeer in wenigen Tagen zurücklegte, hätte er zu Fuß Wochen gebraucht.

Nichtadmiral Nelson zeigte sich außerdem als großzügiger Begleiter, der Thariel am reichen Anekdotenschatz seiner Abenteuer teilhaben ließ.



»Ich bin auch Erfinder«, meinte er eines Abends, als sie gemeinsam die Sonne beobachteten, die hinter dem Blumenmeer unterging.



»Kenne ich etwas von dir?«



»Bestimmt!« Zufrieden kaute Nichtadmiral Nelson auf einem Blumenstängel, »zum Beispiel das O-Boot.«



Thariel hatte davon noch nie etwas gehört.



»Das O-Boot!«, wiederholte Nichtadmiral Nelson lauter, als ob es ein Problem mit den Ohren war.



»Kenne ich nicht, was ist das?«



Ein leicht gekränktes Lachen entfuhr der Kehle des Kapitäns.



»Nun, das ist im Grunde ein Schiff, nur, dass es nicht auf dem Wasser hinweggleitet, sondern über ihm schwebt!«



»Es berührt das Wasser nicht?«



»Ganz genau! O-Boot.« Nichtadmiral Nelson konnte den Stolz auf seine Erfindung nicht verbergen.



»Und wo ist dein O-Boot?«



»Du willst es sehen?«



»Ja.«



Nichtadmiral Nelson lief mit seinen Holzzähnen und breiter Brust zu einer großen Truhe. Begleitet von einigem Seufzen und Ächzen, wuchtete er ein etwa drei Fuß langes Gerät hervor, das aus einem Holztorso bestand, der im vorderen Bereich von einem Querbalken und weiter hinten von einem kürzeren Querbalken gekreuzt wurde. Die Fläche dazwischen wurde von aufgespannten Fellen und Netzen ausgefüllt. Ganz hinten befanden sich Rotorblätter, ebenso ganz vorne, nur waren diese kleiner. Am Torso hingen Schlaufen herab, wohl um Beine und Arme einzuhaken. Das Ganze wirkte wie ein Gerät, mit dem man sich auf Volksfesten blamierte, weil es vor aller Augen direkt nach dem Sprung von der Brücke zerbricht und man im Wasser landet.



»Beeindruckend«, log Thariel.



»Nicht wahr«, freute sich Nichtadmiral Nelson, dessen Niesen und Augentränen mittlerweile fast aufgehört hatten.



»Aber wo soll das eingesetzt werden?«



»Eines Tages, du wirst schon sehen, wird es Schwebhafen geben, die von O-Booten angeflogen werden. Von gewaltigeren O-Boote als meinem, die werden von mächtigen Flugtieren über den Himmel gezogen werden. Das hier ist ja nur ein Prototyp.«



»Wenn du das sagst!«



»Du wirst schon sehen! Ich habe meine Pläne dazu schon an alle Städte geschickt. Das Schwebhafen-Zeitalter steht kurz bevor!«



»Aber dann bist du arbeitslos, wenn niemand mehr ein Schiff braucht!«



Nichtadmiral Nelson musste lachen. »Verstehst du es wirklich nicht? Ich werde dann Kapitän eines Schwebzeugs! Da oben am Himmel gibt es keine Pollen, da entkomme ich meinen Allergien!«



Er sprach oft und gerne über diese kommende Zeit und auch wenn Thariel wusste, dass das nur die Träume eines alten Spinners waren, hörte er ihm gerne zu.





In den Nächten, wenn Thariel in die Sterne schaute oder den kosmischen Wasserfall beobachtete, der sich vom Mond aus über den Horizont ergoss,

7

 und sich die Welt ansonsten in Schweigen hüllte (vom Schnarchen des Nichtadmirals Nelson abgesehen), konnte er fast vergessen, dass seine Lage alles andere als glücklich war. Andererseits fragte er sich, ob er überhaupt noch leben würde, wenn er tatsächlich den Landweg genommen hätte. Die Karten, die im Dorf verwendet wurden, um seine Reise zu planen, hatten sich nämlich als hoffnungslos veraltet herausgestellt. Nichtadmiral Nelson hatte das prustend vor Lachen festgestellt, als er sich die Route einmal angesehen hatte.



»Offenbar ist diese Karte zur einen Hälfte vollkommen veraltet«, meinte er, »denn zwei der Länder, durch die du reisen solltest, sind schon vor Jahrhunderten untergegangen. Die Königreiche Friedensland und Herzensgut wurden von Zombies überrannt, die noch heute dort hausen. Und ich spreche hier nicht von diesen kultivierten Zombies, die große Musiker, Poeten und Tänzer hervorgebracht haben, ich spreche von primitiven Tötungsmaschinen. Kein Mensch, der bei Verstand ist, setzt da einen Fuß rein.«



»Oh.«



»Ja, das ist absolut oh!«



Irgendwie empfand es Thariel als angemessen, einige Sekunden verstreichen zu lassen, bevor er weitersprach.



»Und die restliche Karte, die andere Hälfte?«



Nichtadmiral Nelson studierte sie genau. Er fuhr mit dem Messer die Einhornwälder, die Ödnis von Quarm, die Gebirge am Tee, den Fluss Tee und schließlich die Anhöhe der Tauburen nach, auf deren höchsten Punkt Mammama lag.



HATSCHI!



»Nun«, er räusperte sich beinahe verlegen, »wie soll ich es sagen, die Einhornwälder, die Ödnis und all das andere, das gibt es alles nicht.«



»Was heißt das?«



»Ausgedacht. Frei erfunden. Nicht echt. Betrug!«



Thariel hatte sich selbst schon über diesen Teil der Karte gewundert, aber wollte den Bürgermeister bei der Abreise nicht vor den Kopf stoßen. Offensichtlich gab es nur eine einzige Landkarte und auch die nur zur Hälfte und veraltet. Also hatte irgendwer nachgeholfen. Man sah deutlich, dass all diese Teile der Karte mit unsicherem Strich und in blauer Farbe eingezeichnet waren, während die älteren Teile aus vergilbtem Braun bestanden.

 



»Wie wäre meine Reise stattdessen verlaufen?«



Nichts zwischen diesem lautlosen Blumenmeer und den fernsten Sternen störte die beiden in ihrem Gespräch.



»Abgesehen davon, dass du schon im früheren Königreich Immergut auf grausamste Art bei lebendigem Leibe gefressen worden wärest?«



»Abgesehen davon, ja.«



»Und auch abgesehen davon, dass du nach dem Königreich Immergut auch im Königreich Liebeundfrieden auf grausamste ...«



»Ja! Auch abgesehen davon.«



»Nun, dann wäre die Einödige Tiefebene gekommen, die aus vielen kleinen Lava-Geysiren in einem riesigen Geysir besteht, der die Einödige Tiefebene ist. Du wärst also verbrannt.«



»Und danach?«



»Also abgesehen davon, dass …«



»Ja!«



»Danach wärst du am Worschworsch-Fluss angekommen, den du hättest überqueren müssen. Ein scheinbar ruhiges Gewässer, kniehoch und leicht zu durchwandern. Das Problem ist nur, dass er extrem wütend wird, wenn er geweckt wird!«



»Er schläft?«



»Immer. Außer, wenn jemand durch ihn durchläuft, dann wacht er auf und aus diesem sanften Gewässer wird ein reißender Gebirgsfluss, der nicht eher Ruhe gibt, bis du leblos davontreibst.«



»Und danach?«



»Also abgesehen …«



»Ja!«



»Mit hoher Wahrscheinlichkeit wärst du in die Hände von Südmoor-Riesen geraten, die Menschen jagen, weil die Nägel des menschlichen kleinen Zehs als potenzfördernd gelten. Oder du wärst auf der Mamukischen Anhöhe von Mausfaltern attackiert worden, deren Nestern du zu nahegekommen wärst, was sich nicht vermeiden lässt, weil die Mamukische Anhöhe ihr Brutgebiet ist. Und danach wärst du in der Wüste der Stille vor Stille gestorben!«



Nichtadmiral Nelson kaute auf dem Blumenstängel, »sei froh, dass du ins Blumenmeer gefallen bist!«



Danach drehte er sich um und wollte auf seine Kiste steigen, um den Kurs zu überprüfen. Er zog schon seinen Sextanten aus der Tasche, als Thariel nachfragte, »wie kann man denn vor Stille sterben?«



Nichtadmiral Nelson schob den Sextanten zurück und drehte sich zu Thariel um. Er kam langsam auf ihn zu. Schritt um Schritt, bis er direkt vor ihm stand und ihre Köpfe sich so nahe waren wie der des roten Geistes und Thariels im Fliederwald.



»Du hast noch nie wahre Stille erlitten, oder?« Nichtadmiral Nelson hatte einen sehr ernsten Gesichtsausdruck, der Thariel beunruhigte.



»Nun ja«, fing er an, »also im Sommer, wenn die Brüllfrösche in kältere Regionen ziehen, ist es bei uns im Dorf schon sehr leise in der Nacht.«



»Wie leise?« Nichtadmiral Nelson kam noch näher, ihre Nasenspitzen berührten sich. Thariel roch das Holz seiner Zähne.



»Du kannst das Schnarchen aus dem Nachbarhaus hören, so leise ist es!«



»Stell dir vor, dass es dieses Geräusch nicht gibt. Würdest du sonst noch was hören?«



Zwei bedrohliche Augen fixierten Thariel. Wimpern berührten sich, so nahe kam ihm der Nichtadmiral Nelson mittlerweile.



»Hmm, ein sehr leises Rauschen der Blätter und manchmal ein Zirpen aus dem Unterholz.«



»Stell dir vor, dass es auch diese Geräusche nicht gäbe. Was gäbe es noch?«



»Vielleicht hin und wieder das Flackern der Kerze.«



»Was noch?«



»Meine Schritte, wenn ich durchs Haus laufe.«



»Gut, auch die werden absolut lautlos sein. Sonst noch was? Irgendwas, was Geräusche machen könnte? Denk ruhig ausgefallener!«



Mittlerweile trennten auch die Lippen der beiden nur noch die Breite eines Bienenflügels.



»Ein Baum kann umfallen, die Brüllfrösche kommen überraschend zurück, irgendwo schlachtet jemand ein Tier, Räuber überfallen uns oder …«



»Und all das passiert, ohne dass auch nur ein Laut zu hören ist! Stell dir das vor!«



»Mache ich.«



»Stell es dir gut vor.«



»Ja.«



»Denn so ist es in der Wüste der Stille. Es gibt keine Geräusche, überhaupt keine.«



»Verstanden.«



»Und du brauchst etwa zwei Wochen, um diese Wüste zu durchwandern. Zwei Wochen, in denen du nicht das leiseste Geräusch hörst. Stell dir das vor. Absolute Stille.«



Thariel wünschte sich, dass der Nichtadmiral Nelson etwas mehr Abstand zwischen sich und ihm halten würde. Er konnte sogar gut erkennen, dass in der unteren Zahnreihe Holzwürmer zwei Schneide­zähne aushöhlten und in der oberen Zahnreihe mindestens vier weitere Zähne zerfressen waren.



»Absolute Stille, zwei Wochen. Und dann?«, er ließ eine Kunstpause verstreichen, »erreichst du das Ende der Wüste und trittst aus ihr heraus. Du hast sie hinter dir gelassen, die Wüste der Stille, und du läufst weiter und dann«, Nichtadmiral Nelson ließ weitere Augenblicke verstreichen, »bewegt vor dir im Gras eine winzige Weinbergschnecke ihren Fühler, nur ihren kleinen Weinbergschneckenfühler! Aber das reicht schon und Rumms, dein Kopf explodiert! Die scheinbar lautlose Bewegung des Fühlers hört sich für dich jetzt an, als ob zwei Sterne direkt neben deinem Ohr explodieren!«



Er schaute Thariel noch einmal ernst an, was dieser aber nicht sehen konnte, weil ihm die Wimpern von Nichtadmiral Nelson im Auge kratzten, bevor dieser endlich einen Schritt zurücktrat.



»Aber dann bin ich nicht von der Wüste der Stille getötet worden, sondern von der Weinbergschnecke«, widersprach Thariel.



»Und wenn dich eine Sumpfschlange vergiftet und du daran nicht im Sumpf, sondern Tage später in deinem Bett stirbst, hat dich also dein Bett getötet?«



Thariel hätte gerne mit »ja« geantwortet, weil ihn das überhebliche Lächeln ärgerte, das Nichtadmiral Nelson dabei aufsetzte, aber er schluckte seinen Frust runter. Er versuchte sich damit zu trösten, dass Nichtadmiral Nelson demnächst ein sehr unangenehmer Besuch beim Zahnarzt oder Förster bevorstand.



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 Auch wenn es für die Handlung keine Bedeutung hat, ist das vielleicht ein guter Zeitpunkt, um kurz ein paar allgemeine Worte zum Würfelplaneten zu verlieren. Er verfügt über die Form eines zwölfseitigen Würfels und umkreist zwei Sonnen, wobei die eine kaum zu sehen ist, aber für das gesamte Licht sorgt und die andere zwar auffällig groß ist, aber im Grunde erkaltet. Der Würfelplanet hat außerdem einen Wasserfallmond, dessen Wasser durch das Universum auf den Planeten stürzt und so für dessen Rotation sorgt. Aus diesem Grund steht irgendein Teil des Würfelplaneten immer unter Wasser. Und damit zurück in die wasserfallmondbeschienene Nacht auf dem Blumenmeer.




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Land in Sicht! Nach so vielen Tagen auf dem Blumenmeer freute sich Thariel, endlich diesen Ozean hinter sich zu lassen. Auch wenn das eine zweischneidige Freude war, da er das Gewässer nicht als freier Mann verlassen würde, sondern als Gefangener, der als Sklave verkauft werden soll – daran erinnerte ihn permanent der Mast, an den er gebunden war.



Zu Beginn bestand das Land aus nicht viel mehr als einem grauen Gebirge, das nebelgleich am Horizont auftauchte. Doch mit jeder Meile mehr, die sie sich näherte, gewann das Gebirge an Konturen und irgendwann sah man die Wolken, die seine Gipfel einhüllten. Auch das Land zu Füßen des Gebirges nahm Gestalt an. Aus dem fernen Horizont wurde mit der Zeit eine Küste mit schroffem Gestein, die sich mit Sandstränden abwechselte.



Und dann sah Thariel das erste Haus.



»Glückspilz«, hörte er Nichtadmiral Nelson rufen, und kaum, dass er seinen Blick vom fernen Haus gelöst hatte, das offenbar zu einem Bauernhof gehörte, stand der Kapitän schon wieder dieses eine bisschen zu nah vor ihm, »unsere Reise neigt sich leider ihrem Ende zu, es wird also Zeit, dass wir zum Geschäftlichen kommen.«



HATSCHI!



»Also Glückspilz, warum hast du das da«, meint Nichtadmiral Nelson und deutete zur Wolke, »ich wollte es nicht fragen, weil es mich nichts angeht und wir ja alle so unsere Leichen im Schiffskeller haben, aber das werden die Kunden auf dem Sklavenmarkt anders sehen.«



»Das ist ein Fluch, aber er ist eine Verwechslung.«



»Gut«, begann Nichtadmiral Nelson mit beunruhigend ruhiger Stimme, »tu mir einen Gefallen und sag mir die Wahrheit. Sieh es als Gefallen an, schließlich habe ich dir das Leben gerettet.«



»Du verkaufst mich doch schon als Sklaven. Ich finde, wir sind quitt.«



»Meine Güte«, Nichtadmiral Nelson verdrehte die Augen, »alle tun immer so, als sei das Sklavenleben so schlimm. Das sind Vorurteile, Klischees! Ich kenne Leute, die ich als Sklaven verkauft habe, die grüßen mich nicht mal mehr, weil sie sozial so viel höher stehen als ein einfacher Reisender auf dem Blumenmeer.«



»Vielleicht grüßen sie nicht, weil sie dir übelnehmen, sie versklavt zu haben?«



»Einer war davor Schuhputzer im Riesenland, was für eine Zukunft hätte er gehabt? Riesen tragen aus religiösen Gründen keine Schuhe, wie du sicherlich weißt!«



»Na klar, weiß ich das«, log Thariel, der bis eben nicht einmal wusste, dass es Riesen außerhalb alter Sagen gab.



»Und was ist er heute? Erster Sekretär einer barokalischen Geschäftsfrau und damit einer der reichsten Männer überhaupt! Ist er nicht ein Glückspilz, Glückspilz?«



»Glück im Unglück.«



»Welches Unglück, er war Schuhputzer! Aber egal, sag mir nur schnell, warum du verflucht wurdest. Ehrlich gesagt, ist es den meisten Leuten total egal, die wollen das nur wissen, um was zum Tratschen zu haben.«



Thariel hielt dem Blick von Nichtadmiral Nelson nur mit Mühe stand: »Eine Verwechslung.«



Sein Gegenüber schüttelte genervt den Kopf.



Weit über ihnen drehte ein Vogel seine Kreise. Das erste Tier seit Tagen. Die Küste kam näher, mittlerweile sah man die Wellen, die sich gegen das Gestein warfen. Und Thariel bildete sich ein, sie an diesem letzten Vormittag auf dem Meer sogar zu hören. Während eine starke Böe über das Deck fegte, kam Thariel eine Idee.



»Der Grund für den Fluch ist sehr heikel, er hat etwas mit einer fernen Königin zu tun. Es ist für mich lebensgefährlich, es zu erzählen, weil der ferne König mich suchen und töten wird, wenn ich darüber spreche. Aber dir werde ich es trotzdem sagen, weil du es bist!«



Vorfreude blitzte in den Augen von Nichtadmiral Nelson auf. Er kam wieder fast auf Nasenspitzenlänge an Thariel heran.



»Es gibt nur eine Bedingung«, Thariels Herz klopfte dabei, die ferne Steinküste war mittlerweile ziemlich nah, »du musst mich losbinden. Als Vertrauensbeweis. Ich vertraue dir schließlich etwas an, was mein Leben gefährdet, wenn ich es dem Falschen erzähle.«



Für einen Moment zögerte Nichtadmiral Nelson, aber dann überwältigte ihn die Neugierde endgültig.



Es fühlte sich gut an, als Thariel endlich wieder seine Arme und Beine schütteln konnte. Aber er hatte wenig Zeit, diese neue Freiheit zu genießen, denn Nichtadmiral Nelson wollte die Geschichte sofort hören. Thariel setzte sich auf die große Truhe, von der aus er das Festland im Blick hatte, das jetzt von allen Seiten her den fernen Horizont durch nahe Wälder, Felder und Küstendörfer vertrieb. Nichtadmiral Nelson schob eine Kiste heran und schaute Thariel erwartungsvoll an.



»Nun«, Thariel räusperte sich. Schweiß stand auf seiner Stirn, was der Kapitän aufgrund der aktiven Regenwolke über Thariel nicht sehen konnte (und deswegen nicht stutzig wurde), »das mit dem Fluch ist so gekommen. Ich … vor vielen Jahren ... «



Thariel fiel nichts ein, egal, wie sehr er sich bemühte.



»Glückspilz«, meinte Nichtadmiral Nelson und Misstrauen schwang in seiner Stimme mit, als er die Worte zwischen seinen Holzzähnen hindurchzischte, »erzähle die Geschichte!«



Nichtadmiral Nelson ließ ein Messer an seinem Gürtel aufblitzen, was Thariel nur noch mehr ins Schwitzen brachte.



»Ich hatte damals mein Dorf verlassen und traf die Königin am Brunnen«, gelang ihm mit unendlich viel Mühe ein erster Satz.



»Was für ein Brunnen?«



»Dorfbrunnen«, antwortete Thariel, wobei es selbst mehr wie eine Frage klang.



»Wenn du sie am Dorfbrunnen triffst, warum dann außerhalb des Dorfes?«



»Äh«, grübelte Thariel unter den finsteren Blicken seines Zuhörers, »genau das fragten sich die Dorfbewohner auch, ist ja auch wirklich ungewöhnlich.«



»Und dann?« Nichtadmiral Nelson wurde immer ungeduldiger.



»Wir sprachen am Brunnen und die Königin schöpfte Wasser und ich schöpfte Wasser und … und … die Königin pflückte Blumen auf der Wiese und …«



»Ich dachte, sie schöpfte Wasser aus dem Brunnen!«

 



Nichtadmiral Nelson sprang auf und ließ den Dolch zwischen den Fingern tanzen: »Ich weiß nicht, was du hier für ein Spiel spielst, Glückspilz, aber ich spiele da nicht mit. Sage mir jetzt, was die Königin tat, schöpfte sie Wasser oder pflückte sie Blumen? Und lüge mich nicht an, Glückspilz, lüge mich nicht an!«

Das Messer drückte leicht gegen Thariels Hals, bevor es Nichtadmiral Nelson wieder absetzte.



»Wasser«, rief Thariel, vergaß aber in der Hektik sofort, was er gerade gerufen hatte und hoffte, dass es Blumen war, »sie hat Blumen gepflückt und ich kam zum Brunnen … «



»Lügner!«, brüllte Nichtadmiral Nelson und holte mit dem Dolch aus. Bevor er jedoch zustechen konnte, gab es eine heftige Erschütterung. Das Schiff hatte in voller Fahrt das steinige Riff gerammt. Nichtadmiral Nelson wurde durch die Luft geschleudert und wäre beinahe über die Reling gestürzt. Thariel hatte sich mit aller Kraft an der großen Truhe festgehalten, die sich beim Zusammenstoß nicht bewegt hatte. Der erste Teil seines Plans hatte funktioniert, doch jetzt musste alles schnell gehen. Nicht nur, weil das Schiff sich schon zur Seite neigte und Blumen durch mehrere Risse eindrangen, was das Versinken noch beschleunigte. Sondern auch, weil Nichtadmiral Nelson sich fluchend aufrichtete und in Thariels Richtung torkelte. Thariel schob mit viel Mühe den Deckel von der Truhe und hob das O-Boot heraus.



»Wag es nicht, Glückspilz!«, brüllte Nichtadmiral Nelson, aber es war zu spät. Thariel warf die Rotorblätter an und hob in dem Moment ab, als das Schiff endgültig vom gierigen Blumenmeer in die Tiefe gerissen wurde.



Das O-Boot schleuderte Thariel mehr durch die Luft, als dass es flog. Wie ein verwundetes Zweihorn, das seinen Reiter abwerfen will. Himmel und Erde wechselten mehrmals die Positionen und für einen Moment konnte Thariel sehen, wie nur noch der Rumpf des Schiffes aus dem Blumenmeer ragte. Ganz vorne stand Nichtadmiral Nelson und brüllte in die Höhe: »Ich sagte doch, dass du ein Glückspilz bist!« Er schien zu grinsen, auch wenn er beim Sturz mehrere Holzzähne eingebüßt hatte, wie Thariel bemerkte.



Dann fassten Rosen, Nelken, Gladiolen, Orchideen, Tulpen, Maiglöckchen, Enzian und Tulpen erst nach seinen Beinen, dann nach dem Oberkörper und schließlich verschluckten die Blumenwellen ihn ganz und gar.



HATSCHI! HATSCHI!, war das Letzte, was Thariel von Nichtadmiral Nelson hörte.





Aber auch seine Reise sollte bald vorbei sein, denn das O-Boot ließ sich kaum steuern. Es flog mal hierhin und mal dorthin. Die Rotoren ächzten unter der Last des Reisenden und mehrere entsetzliche Augenblicke lang schien es so, als ob es hinaus aufs offene Blumenmeer fliegen würde, bevor es Thariel irgendwie gelang, die Richtung zu korrigieren. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und kniff ihm in die Wangen. Mehrmals kippte das Fluggerät um, so dass Thariel mit dem Rücken zum Erdboden dahinraste. Plötzlich kippte die Welt zur Seite und Thariel stürzte in ein blaues Nichts hinein. Es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, dass das O-Boot senkrecht in die Höhe schoss. Als er unter sich schaute, wirkten die Wälder und Felder unwirklich klein, wurden aber mit rasendem Tempo größer und größer, weil Thariel erneut zu lange brauchte um zu merken, dass das O-Boot jetzt senkrecht nach unten stürzte. Mit einem lauten Knall riss ein Stofftuch auf der linken Seite, wodurch der Flügel unbrauchbar wurde.



Thariels Fluggerät begann um sich selbst zu rotieren und drohte wie ein Pfeil ungebremst abzustürzen. Aus Wäldern wurden Wipfel wurden Bäume wurden Vogelnester. Thariel konnte darin die Eier sehen, die gerade ausgebrütet wurden, und dachte, das sei das letzte, was er in seinem Leben sehen würde. Dann riss ein heftiger Ostwind das O-Boot zur Seite fort und das beschädigte Fluggerät taumelte über die Baumwipfel hinweg. Für einen Moment erleichterte das Thariel, bis er sah, dass direkt dahinter ein hoher Turm folgte. Es war weit und breit das einzige Gebäude in einer friedlichen Landschaft, die aus sanften Hügeln bestand. Vermutlich wäre eine Notlandung auf ihnen nicht angenehm gewesen, aber auf jeden Fall machbar. Stattdessen raste das O-Boot mit erschreckender Geschwindigkeit auf den Turm zu. Ein sehr schmaler Turm, kaum der Rede wert in dieser offenen Landschaft, die sich zu allen Seiten hin großzügig ausbreitete. Nur noch wenige Meter bis zum Einschlag. Thariel spürte schon längst seine Arme und Beine nicht mehr, die während des Fluges ausgekühlt waren. Als wäre es eine bewährte Methode, hielt Thariel die Luft an, als sich der Aufprall nicht mehr vermeiden ließ. Doch wieder rettete ihn ein kräftiger Windstoß, der ihn links an der Mauer vorbei schob – nur damit ein weiterer Windstoß ihn auf Höhe der Quermauer von der Seite erwischte und doch noch mit aller Macht gegen den Turm schleuderte. Splitternd zerbrach das O-Boot in tausend Teile und Thariel fiel in die Tiefe.



Zu seiner Überraschung überstand er den Sturz. Eigentlich ging es ihm sogar recht gut, er schien weich gelandet zu sein. Allerdings brüllte jemand wie verrückt, was ihn irritierte und in den Ohren schmerzte. Er sah auch niemanden, als er sich umschaute. Um das Geschrei zu dämpfen, hielt er sich die Ohren zu. Er wusste nicht, wie lange er so dalag, bis sich ein Schatten über ihn legte. Eigentlich sogar zwei Schatten. Sie gehörten zu einem Mann und einer Frau in grünen Uniformen, die beide einen seltsam genervten Gesichtsausdruck hatten.



»Hörst du endlich auf zu schreien!«, fuhr ihn die Frau an, deren rote Haare gut zum grünen Umhang passten.



»Unmöglich, so ein Verhalten«, ärgerte sich auch der Mann, dessen schwarze Locken bis auf die Schultern fielen. Thariel verstand nicht, was sie meinten, bis sich die Frau zu ihm hinunter beugte und sein Kinn nach oben schob. Sofort hörte das Schreien auf.



Verlegen starrte Thariel an den beiden vorbei und hoffte, dass sie sich auf diese Weise in Luft auflösen würden.



»Ich heiße Sinah«, sagte die Frau, bei der Thariel erst jetzt auffiel, dass sie eine Armbrust auf ihn gerichtet hielt, »und das ist Tam«. Sie deutete auf den Mann, dessen gezücktes Schwert er zuvor auch übersehen hatte.



»Wir sind die Turmwärter, wer bist du?«



Thariel erzählte, wie es ihn bis hierher verschlagen hatte.



»Und wegen deinem Fluch willst du nach Mammama?«, fasste Sina zusammen, während sie ihn weiter mit der Waffe fixierte.



»Ja, ist es noch weit?«



»Nein, eigentlich nicht.«



»Eigentlich?«, meinte er, weil er mittlerweile misstrauisch reagierte, wenn etwas einfach nur zu funktionieren versprach, ganz ohne Intrigen und Fallen.



»Vergiss das eigentlich«, meinte der Mann und hielt das Schwert einsatzbereit in der Hand, »du musst einfach geradeaus laufen. Du bist schon fast da.«



»Fast?«, hakte Thariel wieder nach.



»Naja, du bist halt noch nicht ganz da, aber auch nicht mehr weit weg, also fast da«, meinte der Turmwärter. Thariel schaute ihn skeptisch an, beließ es aber dabei.



»Gut, dann«, meinte er vorsichtig und wendete sich zum Gehen, »mache ich mich mal auf den Weg.«



Er hatte den beiden den Rücken zugekehrt und lief geradeaus durch die sanfte Hügellandschaft. Er wusste, dass die Wächterin mit der Armbrust auf ihn zielte.



Er drehte sich noch einmal um: »Danke für eure Hilfe.«



»Gern geschehen!«, riefen beide fast gleichzeitig, und schienen sich zu freuen, während sie die Waffen aber weiter gezückt hielten.



Thariel lief jetzt rückwärts vorwärts, so dass er die beiden weiterhin sehen konnte.



»Ich hoffe, das O-Boot hat nichts am Turm beschädigt.«



»Keine Sorge, es hat nur etwas gewackelt und mir ist Suppe vom Teller geschwappt. Wir waren gerade beim Essen«, erklärte die Frau.



»Oh, das tut mir leid.«



»Muss es nicht«, entgegnete sie und auch der Mann winkte ab.



»Da bin ich ja erleichtert.«



Mittlerweile trennten Thariel und die beiden Wächter sicherlich dreißig Schritte.



»Wirklich keine Ursache«, wiederholte sich die Wärterin und lächelte.



Thariel lächelte zurück, doch dann gefroren seine Gesichtszüge, als er das plötzliche Funkeln in den Augen der Frau bemerkte. In einer fließenden Bewegung setzte sie die Armbrust an und als Thariel hörte, wie die Sehne