Irren ist göttlich

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»Ich habe deinem Vater versprochen, dich vor Dummheiten zu bewahren!«

»Am Sumpf wachsen großartige Pflanzen, die gegen solche Krankheiten helfen. Die geh ich jetzt pflücken.« Thariel stand auf und wollte sich wieder auf den Weg machen. Nicht zurück ins Dorf, sondern weiter in den Sumpf. Nur nicht ins Dorf, zur Diagnose.

»Thariel!« Günters Stimme wurde noch etwas tiefer, »du wirst dich der Diagnose stellen!«

»Nein!« Thariel verschränkte die Arme.

»Zwing mich nicht!«, kam es mit tiefer Stimme zurück.

»Zu was?«

»Das willst du nicht wissen, zwing mich einfach nicht!« Der Golem erhob sich und blickte nun aus der Höhe zu Thariel hinab, der den Sand roch und an seine Kindheit dachte. Günter roch immer nach Kindheit.

»Ich habe nein gesagt. Die Wolke ist schon kleiner als gestern.«

»Du zwingst mich?«

»Mach, was du willst!«

»Ist das dein letztes Wort?« Günter hatte sich zu Thariel hinuntergebeugt. Selbst jetzt konnte er nicht sagen, ob und was da in den Augenhöhlen saß. Anstatt zu antworten, zuckte Thariel mit den Schultern. Entsetzt hörte er dann ein Geräusch, das sich anhörte, als ob Lehm auseinanderbricht und schon stand Günter ohne Kopf vor ihm. An seinem langen Arm hielt er den Kopf fest, der nun über dem Sumpf baumelte.

»Tu mir das nicht an, Thariel, bitte! Tu, was er sagt!«, flehte der Kopf.

»Ja, schon gut, ich werde mich der Diagnose stellen«, rief Thariel verstört, »nur nimm den Kopf da weg«.

Wütend lief er mit dem Golem zurück.

»Aber du verhältst dich natürlich sehr erwachsen«, schimpfte Thariel, während sich Günter den Kopf wieder aufsetzte. Wobei er jetzt etwas weiter rechts auf der Schulter hing, was ihn aber nicht zu stören schien. Er ging auch nicht auf Thariels Vorwürfe ein, sondern pfiff leise vor sich hin und war mit sich zufrieden.

Normalerweise liebte Thariel die Geräusche, die man im Sumpf hörte. All die Vögel, Käfer, Frösche, Fische, Schlangen, Tauware und Wölfe, die zusammen rund um die Uhr dieses besondere Konzert gaben. Doch heute ärgerte er sich zu sehr, um sie wahrzunehmen. Er hörte nur Günter und sein Pfeifen.

1 Grüne Magie war relativ leicht zu beherrschen, was sie für Laien attraktiv machte. Gleichzeitig überschätzten sie schnell ihre Fähigkeiten, weswegen es mit keiner Magie so viele Unfälle gab wie mit der grünen Magie.

2 Viel später nannten sich die Kräuterhansel in Apotheker um, weil das würdevoller klang.

3 Ein Fachzauberer überprüft, ob es sich um einen naja…ob es sich eben um so was handelt. Wenn es keinen Fachzauberer gibt, reicht auch ein Zauberer in Ausbildung, wenn es keinen solchen gibt, ist derjenige befugt, der am lautesten schreien kann.

2

Wölfe heulten weit draußen in den Wäldern und Thariel stand in einem Käfig, der von allen Seiten von stabilem Wolkenholz verschlossen war. Sein Gefängnis schaukelte leicht hin und her, da es mit einem Seil an einem Ast befestigt worden war. Ein Lagerfeuer trotzte der Nacht ein wenig Helligkeit ab und ließ seine Funken durch die Dunkelheit tanzen. Am Himmel versteckte sich der Mond hinter den Baumwipfeln und Wolken, weswegen Thariel nicht einmal den beruhigenden Wasserfall sehen konnte, der sich aus dem Universum auf den Würfelplaneten ergoss. Er blickte sich um, das war sie nun also, seine Diagnose. Von allen Ritualen, die es gab, war dieses das Schlimmste. Er schaute in die Gesichter von Menschen, die ihn sein Leben lang kannten und jetzt misstrauisch betrachteten.

Zwischendrin saß auch Günter der Golem. Er überragte alle, als würde er als einziger stehen. Die Bewohner hatten Angst, das spürte Thariel ganz deutlich. Was so eine persönliche Regenwolke doch alles verändern konnte, wunderte er sich. Lydia nahm nicht an der Diagnose teil, sie wollte sich das alles nicht anschauen.

Nun trat der Zauberer Zimon (in Ausbildung) vor Thariel. Ein Kerl mit zu langen und zu dünnen Beinen, die nur deswegen nicht umknickten, weil auf ihnen nur die Last eines sehr leichten Körpers ruhte. Alles an ihm schien zu dünn, nur die Hühnerbrust kämpfte gegen diesen Eindruck an. Thariel kannte ihn gut. Als Kind hatte er ihm immer tote Frösche in die Stiefel gelegt. Zimon tat mittlerweile so, als wüsste er das nicht mehr, aber Thariel glaubte ihm das nicht. Zimon befand sich noch in der Ausbildung und trug darum erst die gelbe Zaubermütze.4 Das befähigte ihn dazu, eine Überprüfung der Sache durchzuführen, die hier niemand aussprechen wollte, ohne jedoch selbst zum Zaubern fähig zu sein. Nun schaute sich der Zauberer (in Ausbildung) die Regenwolke an und war sich sofort sicher. »Das ist ein Fluch.«

Da war es, das Wort, ausgesprochen, nackt und kalt: Fluch!

Er hatte es nicht einmal umschrieben oder verschwiegen, wie es üblich war. Nein, Fluch, ganz laut und deutlich. Es hallte in Thariels Kopf nach und ohne, dass er es richtig merkte, drückte er seine Stirn gegen den Käfig. Dorfbewohner schüttelten fassungslos den Kopf, nachdem der Verdacht zur Gewissheit geworden war. Thromokosch verfluchte nie ohne Grund. Thariel musste etwas angestellt haben, etwas sehr Schlimmes.

Der Zauberer (in Ausbildung) genoss es, endlich einmal im Mittelpunkt zu stehen. Flüche waren die schlimmste Strafe, die Thromokosch aussprach5 und weil es Gerüchte gab, dass Flüche sich ausbreiten konnten wie Krankheiten, hatten die Menschen vor nichts mehr Angst als vor einem Verfluchten.6 Und nun hatte es sie hier im Sumpf getroffen. Das Böse war in ihr Dorf gekommen, in Gestalt eines Mannes, dem sie vertraut hatten.

»Hast du noch etwas zu sagen, Thariel, bevor wir das Urteil sprechen?«

Mit diesen kühlen Worten erhob sich der Bürgermeister, ein beleibter Herr, der es verstand, seinen weißen Bart kunstvoll zu zwirbeln und in dessem linken Auge ein Monokel steckte. Er stützte sich auf einen Spazierstock und fuhr fort.

»Willst du vielleicht beichten, was du getan hast?«

»Gar nichts habe ich getan«, rief Thariel mit zitternder Stimme und rüttelte am Käfig, »ich will aber eines wissen! Warum? Warum bin ich verflucht?«

Alle Augen richteten sich auf den Zauberer (in Ausbildung).

»Das ... darf ich dir nicht preisgeben. Die Reiter des letzten langen Wochenendes würden sonst Tod und Verderben über uns bringen«, rief er pathetisch und schlug die Hände vors Gesicht.

Unbeeindruckt schrie eine alte Frau, »verrate schon, was du weißt!«

Auch die anderen forderten Aufklärung. Die Situation fing an zu kippen, merkte der Zauberer (in Ausbildung).

»Ruhe, Ruhe«, versuchte er die Gemüter zu beruhigen, wofür seine zu dünne Stimme aber kaum ausreichte, »ich werde euch den wahren Grund verkünden, warum ich es nicht preisgeben darf!«

Stille senkte sich über das Dorf. Nur Thariels Haus war zu hören, als es wieder ein Stück mehr im Sumpf verschwand.

»Ich«, der Zauberer (in Ausbildung) hob seinen Holzstab, denn einen echten Zauberstab durfte eine Gelbmütze nicht besitzen, »weiß es nicht!«

Weiterhin Stille. Seine Schultern senkten sich herab.

»So weit bin ich in meiner Ausbildung noch nicht. Ich kann erkennen, dass es ein Fluch ist, mehr nicht. Wenn ihr mich aber vielleicht in zwölf Monaten ... «

»Lass gut sein«, unterbrach ihn der Bürgermeister, »es ist nicht deine Schuld, dass wir uns für dich entschieden haben und nicht für einen begabteren Zauberer-Aspiranten, du kannst jetzt gehen.«

Tief gekränkt zog sich der Zauberer (in Ausbildung) in seine kleine Studierstube zurück. Wie sollte er den Unwissenden auch begreiflich machen, dass es kaum etwas Schwereres gab als den genauen Grund einer Verfluchung zu enträtseln? Auch, dass er der Jahrgangsbeste in seinem Fernstudiumskurs war, interessierte sie nicht. Wenn er davon erzählte, nickten sie nur gleichgültig und fragten ihn, ob er noch wüsste, dass ihm Thariel früher immer tote Frösche in die Stiefel gesteckt hatte.

Nachdem der Zauberer (in Ausbildung) die Runde verlassen hatte, wandte sich der Bürgermeister an Thariel. »Du bist ein Sohn unseres Dorfes und der Sohn deines Vaters, der wiederum der Sohn seines Vaters ist, der der Sohn seines Vaters ist, der der Sohn seines Vaters ist. Wir sind enttäuscht und besorgt, weil du etwas Schlimmes getan hast, was du uns nicht verraten willst. Deswegen verbannen wir dich, wie es das Gesetz zwingend vorsieht, verzichten aber auf die Vierteilung, die ist zwar erlaubt, aber nicht zwingend vorgeschrieben!«

»Ich bin unschuldig!«, rief Thariel dazwischen und Günter der Golem nickte als einziger, obwohl er das nicht glaubte, was Thariel ihm umso höher anrechnete.

»Nun gut«, begann der Bürgermeister nach einer kurzen Denkpause, »aus Respekt vor deiner Familie lassen wir dir die Möglichkeit, zurückzukehren, sobald der Fluch gelöst ist! Nicht früher.«

Dann öffnete er den Käfig. Aber frei war Thariel trotzdem nicht mehr.

4 Reihenfolge: Weiße Mütze, gelbe Mütze, grüne Mütze, blauer Hut, brauner Hut, schwarzer Zylinder.

5 Gut, er konnte auch töten und machte das auch manchmal. Aber der Tod war ja im Grunde keine Strafe im Diesseits, ein Fluch schon.

6 Es gab nur zwei Fluchologen, und die waren auch noch bis aufs Blut verfeindet, aber beide kamen sie zum Ergebnis, dass Flüche nur individuell vergeben werden und sich eben nicht ausbreiteten. Sicher waren sie sich aber nicht.

 

3

Thariel wusste, was das heißt. Er musste nach Mammama reisen, dort wohnte der Glasmeister und wachte über die Scherbe der einen Glaskugel, in der das Schicksal aller Menschen stand. Nur von ihm konnte er erfahren, was es mit dieser Regenwolke auf sich hatte. Mammama war eine Stadt, deren Gründerväter den Fehler gemacht hatten, den Stadtnamen im Rahmen eines Kinderschreibwettbewerbs festlegen zu lassen, den schließlich die kleine Irstin (3 Jahre) gewonnen hatte.

Natürlich kam niemand, um Thariel zu verabschieden. Nur zwei Personen warteten vor der Kutsche. Die eine war Günter der Golem, der ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte und die andere Sulala, die ihn kurz umarmte und den Tränen nahe schien. Lydia fehlte, was Thariel ihr aber nicht übelnehmen wollte. Es war ein sonniger Tag und die Regenwolke regnete auf sein Gesicht. Mehrere Kinder beobachteten den Aufbruch schüchtern hinter einem Baum versteckt. Thariel umarmte noch einmal seinen erdigen Freund und roch diesen angenehmen Duft, der ihn immer in vergangene Zeiten entführte. Dann stieg er über die zwei Stufen in die Kutsche ein.

Er hatte kaum Gepäck dabei. In einem Beutel befand sich eine kleine Kohlezeichnung von Lydia für seinen Nachttisch. Als die Kutsche gerade losfahren wollte, hörten sie eine Frauenstimme. Thariel blickte hinaus und sah seine Lydia zur Kutsche rennen. Mit Rucksack und zwei vollen Taschen aus Fledermausfell.

»Halt!«, rief sie immer wieder.

Thariel sprang aus der Kutsche und breitete die Arme aus.

»Du kommst mit?« Natürlich hatte er heimlich davon geträumt, aber es doch nicht zu hoffen gewagt. Als sie ihn erreicht hatte, fiel sie ihm nicht in die Arme, sondern stützte sich auf dem Oberschenkel ab und atmete schwer durch. Nachdem sie sich etwas erholt hatte, schüttelte sie den Kopf.

»Nein, ich komme nicht mit, aber ich wollte dir noch etwas mitgeben.«

Sie reichte ihm einen versiegelten Brief im gelben Umschlag.

»Öffne ihn erst, wenn du vor einer schweren Entscheidung stehst. Er wird dir helfen, dich richtig zu entscheiden!«

»Ja«, er war verwirrt, »aber warum hast du all das Gepäck dabei?«

»Das«, sie deutete auf den Rucksack und die Taschen, »ach, das sind nur ein paar Sachen, die ich zum Picknick mitnehme.«

»Du gehst zum Picknick?«

Sie nickte und lächelte dabei.

»Mit wem?«

»Leider nicht mit dir, Thariel«, hauchte sie traurig, aber auch etwas aufgesetzt, und streichelte ihm über die Wange, »mach es gut, und verlier den Brief nicht!«

»Mach du es gut!«, flüsterte er.

»Nein, mach du es gut!«, kam es gespielt trotzig zurück.

»Nein, mach du es gut!«, ging Thariel darauf ein und stupste ihr gegen die Nase.

»Nein, mach du es gut!«, Lydia stupste nun seine Nase.

»Nein, mach du es gut!«

»Mach es immer so ein Stück besser gut!« Lydia breitete die Arme zur vollen Breite aus

»Und du sollst es immer so ein Stück besser gut machen!« Thariel kam auf noch mehr Armlänge.

»Du sollst …«, wollte sie gerade mit der Neckerei weitermachen, da schob sich der Kopf des Bürgermeisters aus der Kutsche, »Schluss jetzt, steig endlich ein!«

Lydia gab ihm einen letzten Kuss und winkte ihm noch nach, bevor sie schwer bepackt mit jemandem zum Picknick ging, der nicht Thariel war.

Scheppernd und klappernd setzte sich die Kutsche in Bewegung. Thariel verstaute den Brief sorgfältig in seiner Hose, um ihn ja nicht zu verlieren. Nur ein schmaler Weg führte aus dem Dorf heraus. Bevor die Kutsche um die Kurve bog, versank Thariels Haus wieder ein Stück mehr im Sumpf. Neben ihm in der Kutsche saßen Zimon der Dorfzauberer (in Ausbildung) und der Bürgermeister, an dessen Händen Thariel mehrere Kleckse blauer Farbe auffielen.

»In der Welt da draußen lauern Gefahren und Unsicherheiten. Ich rate dir eines: Sieh dich vor«, erklärte er Thariel, der sich bedankte, obwohl er fand, dass dieser Ratschlag recht allgemein ausgefallen war. Trotzdem zwinkerte der Bürgermeister ihm zufrieden zu. Der Zauberer (in Ausbildung) hatte seine langen Beine umständlich in die Kutsche gezwängt und musste sich ducken, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen. Was dennoch bei jeder Wurzel und jedem Stein geschah, die sie überfuhren. Der Kutscher sprach kein Wort und konzentrierte sich darauf, seine beiden gezähmten Einhorngiraffen anzutreiben.

»Thariel«, begann der Zauberer (in Ausbildung), »lange überlegte ich, was ich dir mit auf den Weg geben kann.«

Wieder machte er eine der langen Pausen, wegen denen er bei den Dorfbewohnern so unbeliebt war.

»Was denn?«, fuhr ihn der Bürgermeister an und schob nach, »tote Frösche?«

Zimon überhörte die Spitze und fuhr fort. »Nimm diese zwei Goldstücke mit, alle großen Zauberer besitzen solche Goldstücke.«

Thariel griff nach den beiden Münzen. Sie glänzten geheimnisvoll.

»Danke, was haben sie für Fähigkeiten?«

»Diese Münzen ermöglichen es dir«, der Zauberer (in Ausbildung) schob seine Mütze zurecht und donnerte wegen einer Boden­welle wieder gegen die Decke, »in jeder Gaststätte oder Herberge Speis und Trank und Übernachtungen zu erhalten.«

»Für immer?«

»Ja!«

»Danke, das hilft mir sehr«, freute sich Thariel.

»Also«, schränkte der Zauberer (in Ausbildung) dann doch noch ein, »natürlich nur so lange, bis das Geld eben aufgebraucht ist.«

»Wann ist magisches Geld denn aufgebraucht?«

»Ähm, das ist kein magisches Geld«, murmelte der Zauberer (in Ausbildung).

»Es sind also nur zwei Goldmünzen?«

»Zwei Goldmünzen«, wiederholte der Zauberer (in Ausbildung).

»Keine Magie.«

»Nein.«

Thariel schaute kurz aus dem Fenster und murmelte dann, »trotzdem danke.«

Er packte die beiden Goldstücke ein. Der Bürgermeister murmelte etwas in Richtung des Zauberers (in Ausbildung), was sich wie ein Schimpfwort anhörte.

Die Kutsche hatte mittlerweile den engen Pfad hinter sich gelassen und eine Stelle erreicht, an der eine Hauptstraße kreuzte. Hier stieg Thariel aus.

Der Bürgermeister wiederholte seinen Ratschlag: »Sieh dich vor.«

Der Zauberer (in Ausbildung) warnte ihn vor allerlei falschen Feen und Druiden und der Kutscher haute ihm zum Abschied seine kräftige Pranke so fest auf die Schulter, dass Thariel sich sicher war, dass er den Schmerz noch bei seiner Rückkehr ins Dorf spüren würde – sollte es je zu einer solchen Heimkehr kommen.

Weil langsam die Dämmerung hereinbrach, dauerte dieser letzte Abschied nicht lange. Die drei wollten das Dorf wieder erreichen, bevor es Nacht wurde, denn in der Dunkelheit konnten die Wesen hier draußen sehr unangenehm werden. Außerdem hatte Zimon noch eine private Verabredung, was ihm aber keiner glaubte. Die Kutsche wendete und verschwand nach wenigen Augenblicken in den Nebelschwaden.

Thariel war zum ersten Mal auf sich alleine gestellt und der Regen prasselte auf ihn herab.

4

Thariel lief los. Er sollte der befestigten Hauptstraße folgen und kam gut voran. Doch er fühlte sich nicht sicher auf den Beinen. Bei jedem Schritt hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sein Weg wurde von mächtigen Fliederbäumen eingerahmt, deren Blätterwerk sich weit über ihm berührten und so den Eindruck eines Tunnels machten. Dann wurde ihm sein Problem klar: die befestigte Straße. Thariel war noch nie auf einer solchen gelaufen. Es fühlte sich unangenehm an, wenn der Untergrund nicht nachgab, weswegen er versuchte, zwischen der Straße und den Fliederbäumen zu gehen. Im Dickicht summten, pfiffen und zirpten die Kreaturen des Waldes. Bald würde die Sonne untergehen, was Thariel beunruhigte, weil in der Nacht seltsame Wesen durch die Wälder wandelten.

Er wusste schon seit Kindertagen, dass man ihnen aus dem Weg gehen sollte. Normalerweise war das auch kein Problem, man ging einfach ins Haus und schloss die Türe oder unterhielt sich laut mit einem Begleiter, wenn man auf Reisen war. Aber Thariel hatte hier draußen weder Begleiter noch eine Haustüre und wenn er ... ein rot schimmerndes Wesen schwebte aus dem Wald hervor, der in der Nacht nur noch aus einem schwarzen Schlund zu bestehen schien. Man konnte durch das Wesen hindurchsehen wie durch klares Wasser. Es hatte den Kopf und den Körper eines Menschen, aber anstelle der Armen und Beinen nur unzählige schmale Streifen, die bei jeder Bewegung wie Papier im Wind flatterten.

Thariel versuchte, nicht hinzusehen.

»Du, hey du!«, rief das Wesen. Thariel tat so, als ob er nichts gehört hatte. Manchmal funktionierte es. Doch schon schwebte es an seiner Seite. Es hatte harte Gesichtszüge und seine Augen funkelten vor Wut. Seine Hände zitterten und ballten sich immer wieder zu Fäusten.

»Ich kann es nicht mehr hören!«, schrie das Wesen aus der Dunkelheit Thariel an, »immer werde ich vertröstet. Wie lange noch? Gerade letzte Woche war es wieder soweit, ich warte und warte und mir wird versprochen, dass ich jetzt an der Reihe bin und was passiert dann? Mein Schalter wird zugemacht! Der Kerl vor mir wird noch durchgewunken, ich nicht! Seit Jahrhunderten geht das schon so. Was für ein Pech kann man haben? Wobei ich denke, das hat System. Man will mich bestrafen, mich brechen. Weil ich eine eigene Meinung habe. Das gefällt nicht allen. Und darum wird versucht, mich verrückt zu machen! Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft die direkt vor mir den Schalter zugemacht haben, glaubst du mir das?«

Thariel ging weiter und er spürte anklagende Blicke auf sich ruhen. Er wollte nicht, aber etwas zwang ihn dazu, »ja« zu sagen.

»Wenigstens einer glaubt es mir!«

Jetzt schwebte das Wesen direkt vor Thariel. Ihre Köpfe trennten nur wenige Zentimeter.

»Die wollen mich brechen, zermürben. Aber da kennen die mich schlecht. Meine Zeit kommt noch! Sie kommt!«

Das Wesen schwieg jetzt und blickte Thariel ernst an, was fast noch gespenstischer war, als wenn es sprach.

»Tut mir leid für Sie«, hörte er sich sagen und ärgerte sich schon beim Sprechen darüber.

»Danke!«, donnerte das Wesen mit neuer Wut los, »manchmal denke ich, ich bin verflucht und das wird nie aufhören. Manche warten schon seit Tausenden von Jahren! Aber ich denke, irgendwann muss ich einfach an der Reihe sein. Es ist mein Recht, mein Recht!«

Die letzten Worte schrie es so laut, dass Thariel die Ohren weh taten.

»So«, kam es danach deutlich ruhiger und fast entspannt, »das hat gutgetan, sich mal Luft zu machen, den Ärger loszuwerden. Danke, mein Freund, danke.«

Während es diese Worte sprach schwebte es in die Dunkelheit davon und schimmerte noch kurz zwischen den Ästen, bevor es vom Wald verschluckt wurde.

Thariel dröhnte der Kopf und er beeilte sich, schnell weiterzukommen.

In einiger Entfernung sah er drei weitere Wesen lautlos über den Weg gleiten. Eine ganze Gruppe, das hätte ihm noch gefehlt. Dabei hatte er durchaus Mitleid mit diesen Geistern noch nicht geborener Wesen, die sich immer übergangen fühlten. Oft sogar zu Recht, weil viele von ihnen wirklich schon lange warteten und deswegen irgend­wann keine Geduld mehr hatten.

Endlich hatte er den Wald hinter sich gelassen und schlief in einer kleinen Höhle ein. Als er erwachte, schien die Sonne und er blickte staunend auf eine Wiese hinab, die er in der Nacht nicht gesehen hatte. Der Wind wiegte die Halme, als ob sie bei der Morgengymnastik waren. Was hinter der Wiese folgte, sah sogar noch schöner aus. Ein Blumenmeer aus allen möglichen Farben. Thariel atmete den frischen Duft von Gras und Blumen ein, als er den Hügel hinablief. Die Sonne kitzelte ihm auf der Nase und für einen Augenblick vergaß er dabei, dass die Regenwolke über ihm niederging. Er legte sich auf das warme Gras und schaute in den Himmel hinauf, der in kräftigem Blau und mit wenigen weißen Wolken vom süßen Sommer sprach. Es duftete nach den Rosen und Lavendel, nach Chrysanthemen und Gladiolen, nach Tulpen und Narzissen des nahen Blumenmeers. Thariel fühlte sich wohl hier im hohen Gras und wälzte sich übermütig hin und her. Die Halme kitzelten ihn an Armen und Beinen und er fühlte sich bei ihnen geborgen. Trotzdem stand er bald wieder auf, das Blumenmeer zog ihn an.

Während er sich dem Meer näherte, strichen seine Hände über die Gräser, als sei er der Hirte und sie seine Herde. Dann blieben sie zurück und er stand vor dieser gewaltigen wogenden Blumenpracht, die sich in all ihren Farben bis zum Horizont erstreckte. Seine Augen waren mit all diesen Farben ebenso überfordert wie seine Nase mit den süßen Düften, die in der Luft lagen. Er wollte nicht nur am Ufer stehen, er wollte zwischen all diesen Blumen liegen und in sie eintauchen. So nahm er Anlauf und sprang ins Blumenmeer … und spürte, wie oben und unten sich auflösten und ihn etwas mit sich riss. Seine Arme und Beine fanden keinen Halt, unsichtbare Kräfte zogen ihn mit sich. Thariel konnte noch ein letztes Mal die Sonne als gelben Punkt erahnen, nun schon weit weg und wie durch einen Filter. Und dann dachte er, dass er doch nicht wirklich schon wieder ertrinken konnte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er spürte nur noch, dass er sank und sank, tiefer und immer tiefer.