Wenn Sie wollen. nennen Sie es Führung

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Wenn Sie wollen. nennen Sie es Führung
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Gewidmet allen Führungskräften

Cyrus Achouri

Wenn Sie wollen, nennen Sie es Führung

Systemisches Management im 21. Jahrhundert


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat: Anke Schild, Hamburg

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

© 2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2011 erschienenen Buchtitel „Persönlichkeit führt“ von Dietmar Hansch, ©2011 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-174-1

ISBN epub: 978-3-86200-956-5

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

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Inhalt

Vorwort

1. Einführung

Systemtheorie gestern, heute und morgen

Der Blick auf das Ganze

Wir kommen aus dem Wasser

Begrifflichkeit und Methode

2. Wie Leben funktioniert

Emergenz

Selbstorganisation als Ordnungsprinzip in der Natur

Mutation und Selektion

Anpassung

Konkurrenz, Kooperation und Koevolution

Evolution und Spieltheorie

Teleologie

Systemische und darwinistische Evolutionsbiologie im Vergleich

Der unverstandene Darwin?

ZUSAMMENFASSUNG

3. Warum der Apfel nicht nach oben fällt

Die Suche nach dem Bauplan der Welt

Kybernetik

Thermodynamik

Der quantenphysikalische »Fall« der Objektivität

Determinismus und Zufall

Selbstorganisation als Ordnungsprinzip im Universum

Licht, Zeit und Quanten

ZUSAMMENFASSUNG

4. Ordnung im Chaos

Komplexität oder die Unmöglichkeit von Prognosen

Selbstorganisation im Chaos

Ordnung in der Evolution

ZUSAMMENFASSUNG

5. Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit

Konstruktivismus und andere Missverständnisse

ZUSAMMENFASSUNG

6. Lernen, Lehren, Coaching

Lernende und Lehrende

Coaching

Die philosophische Hebamme

ZUSAMMENFASSUNG

7. Wer wir sind

Kognitionsforschung und künstliche Intelligenz

Die wahren Abenteuer sind im Kopf

Sein und Identität

Ein Gefühl für die richtige Entscheidung

Wie Motivation entsteht

ZUSAMMENFASSUNG

8. Was wir erkennen

Wie Darwin den Baron aus dem Sumpf zieht

Mögliche Begründungen für Erkenntnis

Historische Entwicklung

Geltung

Der hypothetische Realismus

Mesokosmos

Anpassung und Telos

Trial and Error

ZUSAMMENFASSUNG

9. Was wir tun sollen

Ist der Mensch schlecht?

Alles nur Fassade?

Aggressionen

Soziobiologie versus Konkurrenz

Egoismus und Altruismus

Systemische Ethik

Vom Sein zum Sollen

Ethik und Selbstorganisation

Vom Gen zum Mem

Identität als Memplex

ZUSAMMENFASSUNG

10. The Great Man

Von Transaktionen und Transformationen

Transformationale und charismatische Führung

Wird man als Führer geboren?

Der (Aber-)Glaube an den »Great Man«

ZUSAMMENFASSUNG

11. Vom Homo oeconomicus zum Homo systemicus

Ave, Homo oeconomicus

Power to the People

 

Wie sich Komplexität managen lässt

Selbstorganisation

Motivation

Leistung durch Konkurrenz?

Kooperation, kollektive Intelligenz und Hochleistungsteams

Nachhaltiges Management

Systemische Personalauswahl

Personalentwicklung

Lernen von Familienunternehmen

Homo systemicus oder die Kunst der Führung

Der systemische Rahmen

Bilanz

Schluss

12. Was nun? Der 30-Punkte-Plan systemischer Führung

Literaturverzeichnis

Der Autor

Vorwort

»Unser Zeitalter ist stolz auf Maschinen, die denken, und blickt misstrauisch auf Menschen, die zu denken versuchen.«

H. MUMFORD JONES

Um mich mit meiner eigenen Rolle als Führungskraft in der Industrie näher auseinanderzusetzen, habe ich öfter einige Kollegen zu ihrer Führungsphilosophie befragt. Die Antworten, die ich bekam, hatten interessanterweise selten mit Führungsstilen oder Führungstechniken zu tun. Vielmehr schien es bei Führung eher um das Menschenbild der Führungskraft als um rationale Methoden oder Werkzeuge zu gehen.

Was mich dabei am meisten erstaunte, war, dass dieses Menschenbild sehr häufig eine »Natur des Menschen« zugrunde legte, wie sie von Thomas Hobbes, den Neodarwinisten oder auch der neobehavioristischen Schule vertreten wird. Demnach ist der Mensch eigennützig, er steht in ständiger Konkurrenz mit anderen, und Leistung ist von ihm nur unter Druck zu bekommen. Allerdings hatte ich den Eindruck, den Befragten wäre selbst nicht wohl dabei, einem Menschenbild zu folgen, das zwar in der ökonomischen Praxis inzwischen durchaus verbreitet ist, aber nur sehr bedingt durch wissenschaftliche Argumente gestützt wird. Ich habe mich seither mit den aktuellen wissenschaftlichen Begründungen der – durchaus dem Common Sense entsprechenden – »Natur des Menschen« näher befasst und sie scheinen in eine andere Richtung zu weisen. Mein Ziel war dabei nicht, eine idealistische Führungsphilosophie abzuleiten, sondern zu verstehen, wie Leistung bei Mitarbeitern entsteht. Dass unternehmerische Leistungsfähigkeit zugleich mit der Motivation und Sinnerfüllung der Mitarbeiter einhergeht, habe ich mit Freude als Ergebnis der Arbeit zur Kenntnis genommen.

Zahlreiche Menschen haben daran mitgewirkt, dass ich dieses Buch schreiben konnte. Ich danke zunächst Dr. Fritjof Capra, Center for Ecoliteracy California, für seine Unterstützung und die Inspiration durch seine Arbeit. Dank gebührt auch Prof. Dr. Detlef Dürr vom Mathematischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München für den Austausch zum quantenmechanischen Zufall.

Besonderen Dank schulde ich Ute Flockenhaus vom Gabal Verlag für ihre Neugier, ihre Kreativität und ihre Professionalität sowie Anke Schild für ihr professionelles Lektorat.

Für zahlreiche Anregungen, ihre Kritik und ihre inhaltliche Auseinandersetzung mit meinem Text danke ich außerdem ganz herzlich meiner Frau Jutta sowie Renate Achouri und Karl-Heinz Remy, ebenso den Mitgliedern des »Münchner Gesprächskreises für Philosophie«, Annette Großschmidt, Michael Zschaeck sowie Wolfgang Spitzauer.

Nicht zuletzt danke ich Elias und Charlotte für die viele Zeit, die nur geborgt war und deshalb auch zurückgegeben wird.

1. Einführung

»Der Sinn ist ewig ohne Handeln, und nichts bleibt ungewirkt. Wenn Fürsten und Könige ihn zu wahren verstünden, so würden alle Geschöpfe von selber sich gestalten.«

LAOTSE

Systemtheorie gestern, heute und morgen

»Es gibt sie nicht: ›die systemische Wirtschaftstheorie‹. Bestenfalls kann von Ansätzen dazu gesprochen werden. Eine ernst zu nehmende, breite wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Anwendung der neueren Systemtheorie auf die Wirtschaftswissenschaften ist nicht zu finden. Und die Fragen, die sich aus einem systemtheoretisch-konstruktivistischen Paradigma in den Wirtschaftswissenschaften ergeben, sind zahlreicher als die Antworten.« (Simon 2009, 11)

Weit verbreitet: systemische Begriffe

Für einen Großteil der »systemischen« Managementliteratur gilt, dass sie zwar systemische Begriffe aufgenommen hat, beispielsweise den der »Vernetzung«. Eine konsistente Ausarbeitung, insbesondere im Bereich Führung, scheint aber bis heute noch nicht erfolgt zu sein.

Betrachtet man den Status quo der Systemtheorie insgesamt, bietet sich ein sehr heterogenes Bild einzelner Ansätze. Während in einzelnen Teilgebieten wie der systemischen Therapie große Fortschritte und Erfolge erzielt wurden, hat die Zahl der in entsprechenden Verbänden organisierten Systemforscher und -praktiker seit den 1970er-Jahren kontinuierlich abgenommen. (de Zeeuw 2005) Charles François (1995) dagegen ist der Überzeugung, dass eine allgemeine Systemtheorie noch gar nicht formuliert wurde. Und für Oswald Neuberger (2002) steht die Umsetzung auf Teilgebiete wie die Wirtschaftswissenschaften noch aus – was ein völliges Umdenken im Rahmen einer systemischen Personalführung erfordere.

In der führenden amerikanischen Managementliteratur zeigt sich systemisches Denken als hochaktuell, wenn auch meist unter anderem Namen. Theoreme wie »Emergenz«, »Singularität« oder »Best Practices zu kollektiver Intelligenz in Hochleistungsteams« führen bekannte, systemische Paradigmen in neuem Gewand weiter.

Anfänge der Systemtheorie

Die Systemtheorie wurde vor allem ab den 1940er-Jahren populär. Hier spielten der Zweite Weltkrieg wie auch das Aufkommen der Neurophysiologie und die Entwicklung des Computers eine wichtige Rolle. Den entscheidenden Durchbruch für eine neue Sicht lebender Systeme im Sinne von Selbstorganisation leiteten der Physikochemiker Ilya Prigogine – mit seiner Arbeit zu dissipativen Strukturen – und Heinz von Foerster – Mitbegründer der kybernetischen Wissenschaft – ein. Die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela führten das Paradigma der Selbstorganisation lebender Systeme dann in ihrer Konzeption der »Autopoiese« weiter.

Autopoiese/Selbstorganisation

Die Eigenschaft lebender Systeme, sich unter Beibehaltung ihrer inneren Integrität ständig selbst zu erneuern und Strukturen in Prozesse aufzulösen, führte zu einem völlig neuen Verständnis lebender Systeme. (Jantsch 1992) Die Grundprinzipien der Selbstorganisation wurden auf immer mehr Bereiche ausgeweitet: auf ökologische und soziobiologische Aussagen (Eigen/Winkler 1996) bis hin zu makroskopischen Aussagen über die Biosphäre (Margulis/Lovelock 1974). In diesem Sinne wurden Biosphäre und Atmosphäre als autopoietisches System gesehen, das sich selbst organisiert und regelt. Man spricht hier von der Gaia-Hypothese, die ihren Namen in Anlehnung an die Erdmutter der griechischen Mythologie erhalten hat.

Nach einer außerordentlich fruchtbaren Zeit bescheinigt Dirk Baecker (2005) der Systemtheorie, heute kaum noch eine wissenschaftliche Rolle zu spielen. In Deutschland und Österreich bzw. europaweit scheine noch am ehesten ein Interesse an diesen Fragestellungen vorhanden zu sein. Der Versuch, mit den einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen Schritt zu halten und diese immer wieder aufs Neue systemtheoretisch zusammenzuführen, scheint aufgegeben worden zu sein. Gerade die Selbstverständlichkeit des Wechsels zwischen Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft habe sich früher als sehr produktiv erwiesen, während heute die intellektuelle Neugier nachgelassen habe. (Stichweh 2005)

In Krisenzeiten populär?

Anders als Dirk Baecker zeichnet Peter Kruse ein durchaus positives Bild der Entwicklung der Systemwissenschaften im letzten Jahrzehnt. Gerade die Chaostheorie, die Theorie der Selbstorganisation sowie die Synergetik hätten sich zu einem intensiv diskutierten, interdisziplinären Forschungsbereich entwickelt. (Kruse 2009) Nehmen wir den Bereich der evolutionären Systemtheorie noch dazu, so könnten wir auch Disziplinen wie die Bionik anführen. Auch scheint die Systemtheorie populärer zu sein, wenn die Bewältigung globaler Krisen ansteht, wie sich anhand der Debatte um die Klimakrise oder die Finanzkrise zeigt.

Vielleicht treffen systemtheoretische Überlegungen auch gerade deshalb den gesellschaftlichen Nerv, weil in einer zunehmend komplexer werdenden Welt Vorhersagen immer schwieriger werden. Notwendig sind dann Konzepte, die dieser Komplexität versuchen gerecht zu werden und Innovationspotenzial besitzen, ohne die Gültigkeit bestehender Erkenntnisse und Forschungsstrategien zu widerlegen. So folgert Kruse: »Die Zeit der Vordenker ist ein für alle Mal vorbei. Ob in Kultur, Wirtschaft oder Politik – angesichts der Komplexität und Dynamik der von uns selbst erzeugten gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt es keine Patentrezepte mehr. Wir sind angewiesen auf die Bereitschaft aller, sich bei vollem Bewusstsein der Risiken immer wieder neu auf die Faszination gemeinsamer Lernprozesse einzulassen.« (Kruse 2009, 212)

Der Arbeitnehmer der Zukunft

Wenn man sich mit dem möglichen Stellenwert systemischer (Personal-)Führung in der Zukunft beschäftigt, muss man zunächst verstehen, wie sich die Arbeitnehmerwelt generell entwickelt. Dauerhafte, lebenslange Anstellungsverhältnisse werden immer weniger den Normalfall darstellen, Mitarbeiter müssen ihre Karrierewege selbst in die Hand nehmen. Um mit den schnellen Veränderungen mithalten zu können, müssen sie eine erhebliche permanente Lern- und Veränderungsfähigkeit mitbringen. Lernen endet nicht mit dem Hochschulabschluss oder der Ausbildung, sondern wird ein Leben lang anhalten. Die Verantwortung für die eigene »Employability« wird nicht mehr von den Unternehmen übernommen, jeder Arbeitnehmer hat selbst seine Personalentwicklung und Marktkompatibilität im Auge zu behalten. Globale, hochkomplexe Zusammenhänge können nicht mehr eindimensional, monokausal und lokal verstanden werden. Visionen und unternehmerische Leitbilder werden nicht mehr von nur wenigen Führungspersonen getragen. Systemisches Denken bietet hier einen hochaktuellen theoretischen und praktischen Ansatz, mit dieser Komplexität umzugehen.

Der Blick auf das Ganze

Systemisches Denken hat nichts mit der vielstrapazierten Vernetzung, einer Suche nach Weltharmonie, mit Esoterik oder dergleichen zu tun. Trends wie »Kooperatives Führungsverhalten«, »Hedonismusprinzip«, der Ruf nach »Selbstentfaltung« und »Selbstverwirklichung« (Malik 2009, 59) mögen eine gewisse Faszination ausüben, haben aber mit systemwissenschaftlicher Forschung wenig zu tun und bringen die Systemtheorie durch ihre mangelnde Fundierung eher in Misskredit.

Kein einheitliches Verständnis von »systemischer Führung«

Von einem einheitlichen Verständnis systemischer Führung kann kaum gesprochen werden, die verschiedenen Schulen haben bestenfalls das Denken in »vernetzten Systemen« gemeinsam und unterscheiden sich ansonsten doch erheblich in Inhalt, Praxis- oder auch Theorie- und Wissenschaftsbezug. (Steinkellner 2007) So ähneln beispielsweise die Inhalte der »Human-Relations«-Strömung – partizipative Führung, teilautonome Gruppen, Selbstverwirklichung der Arbeitnehmer oder die Schaffung einer Unternehmenskultur des Vertrauens – denen der systemischen Führung, ohne jedoch auf die von der Systemtheorie getroffene Argumentation zurückzugreifen. Ich werde in diesem Buch keine humanistisch orientierte Systemtheorie entwerfen, sondern vielmehr die Erkenntnisse aus der Systemtheorie nutzen, um systemische Führung als effizienten, der Natur lebender Systeme entsprechenden Ansatz zu präsentieren.

 

Systemtheorie und Betriebswirtschaftslehre

Gerade Ansätze der Selbstorganisation bieten ein Vorbild für die Bewältigung komplexer Managementaufgaben, einer Komplexität, die in dieser Form vor einigen Jahrzehnten noch nicht vorhanden war. Ein interdisziplinärer Ansatz wie die Systemtheorie hat es allerdings schwer, sich in der Betriebswirtschaftslehre durchzusetzen. Dabei ist gerade die Betriebswirtschaftslehre durch ihre generalistische Ausrichtung aufgefordert, aktuelle, einzelwissenschaftliche Ergebnisse aufzunehmen. Der Betriebswirt kann sich nicht auf Bilanzierungsfragen beschränken; sein angewandtes Wissen speist sich heute aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Mathematik, Psychologie oder Rechtswissenschaften.

Empirische Daten und Theorie

Oft wird vergessen, was die Ursprünge systemischen Denkens ausgemacht hat, nämlich eine übergreifende interdisziplinäre Suche nach Zusammenhängen. Systemtheorie kann sich demnach nicht in der empirischen Suche nach passenden Daten erschöpfen. Selbst wenn sich heute in vielen Studien und praktischen Beispielen zeigt, dass kollektive Intelligenz, Kooperation und Selbstorganisation für die Team- und Einzelleistung in Unternehmen eine große Rolle spielen, müssen wir doch auch verstehen, wieso das so ist, welche theoretische Annahme hier zugrunde liegt.

Notwendig ist dies, um sich von den vorliegenden empirischen Daten zu »emanzipieren«; vergleichbar mit der Vermeidung des naturalistischen Fehlschlusses in der Ethik – bei dem alles gut wäre, was praktiziert wird. Zum anderen würde eine Begrenzung auf die empirischen Daten unseren Spielraum auf das beschränken, was bereits gemacht wird. Das würde sowohl unser derzeitiges Handeln als auch unsere Kreativität und Überlebensfähigkeit für die Zukunft erheblich begrenzen.

Empirische Forschung ist einerseits unverzichtbar. Andererseits sollten wir nicht vergessen, dass empirischer Erfolg nicht notwendigerweise die zugrunde liegenden Konstruktionen beweist. (Gergen 2002) Die Entwicklung qualitativ hochwertiger theoretischer Ansätze in der Forschung bleibt unabdingbar.

Rückgriff auf einzelwissenschaftliche Ergebnisse

Wir kommen um eine fundierte Rückführung des systemischen Paradigmas auf aktuelle, einzelwissenschaftliche Ergebnisse nicht umhin. Darüber hinaus müssen die Aussagen ihrerseits wiederum empirisch überprüft werden. Für systemische Führung heißt das beispielsweise, Prinzipien für lebende Systeme aus biologischer und kultureller Evolution aufzufinden, um in der Folge konkrete Aussagen daraus ableiten zu können, beispielsweise wie Motivation entsteht und wie mit Mitarbeitern umgegangen werden muss, sodass diese möglichst motiviert und leistungsfähig sind.

Ziele dieses Buches

All dies wollen wir in diesem Buch tun. Diese Arbeit wird notwendigerweise immer bruchstückhaft bleiben. Schon auf dem Gebiet einzelwissenschaftlicher Forschung ist es unmöglich, den aktuellen Stand der Forschung zu spiegeln. Mithin kann dies nicht das Ziel eines Überblicks sein, der den Bogen von einzelwissenschaftlichen Aussagen bis hin zu praktischen Managementempfehlungen spannt. Vielmehr soll dieses Buch Verbindungen schaffen, Ideen geben, einen roten Faden spinnen, der sich über die einzelwissenschaftliche Isolation hinausbegibt und einen Anstoß für systemisches Management in Wissenschaft und Praxis liefert.

Bewusst ausgeklammert habe ich einige Strömungen der Systemtheorie, die den Rahmen sprengen würden. So werden etwa soziologische Systemtheorien (Parsons, Luhmann et al.) zur Aufklärung gesellschaftlicher Verhältnisse nur gestreift, politische (Kaplan, Easton, Deutsch et al.), wie sie insbesondere in den 1950er-Jahren in den USA im Rahmen des Szientismus aufkamen (Albert/Walter 2005), ganz ausgelassen. Insbesondere die soziologische Systemtheorie findet sich in der deutschen Systemlandschaft schon erheblich weiter ausgearbeitet, als dies bei den Wirtschaftswissenschaften der Fall ist. Dieses Buch soll dazu beitragen, den Entwicklungsabstand zu verringern.

Keine Trennung von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Systemtheorie

Die Differenzierung in naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Systemtheorie erscheint mir wenig sinnvoll. Das Unterscheidungskriterium, dass naturwissenschaftliche Systemtheorie von objektiver Messung ausgehe, während sozialwissenschaftliche den Beobachter mit einschließe (Tschacher 2004), entspricht spätestens seit Aufkommen der Quantenphysik nicht einmal mehr dem naturwissenschaftlichen Weltbild. Zudem ist das systemtheoretische Paradigma gerade angetreten, eine für Natur- und Geisteswissenschaften gemeinsame Beschreibung anzubieten.

Interdisziplinarität

In der Folge werden deshalb Themencluster gebildet: von Evolutionsbiologie, Physik, Chaosforschung, Erkenntnistheorie, Philosophie, Kognitionswissenschaften, Entwicklungspsychologie, Coaching/Therapie und kultureller Evolution bis hin zur aktuellen Führungsstillehre und zu systemischem Management. Systemtheorie bündelt durch die interdisziplinäre Vernetzung viele Beobachtungen, auch wenn es sich dabei nur um relativ wenig Merkmale handelt, wie die Merkmale der Verschränktheit aller Systeme, Selbstorganisation und Autonomie oder auch der Koevolution und Kooperation. (Hawking 2009) Systemtheorie kann als gemeinsame Sprache verstanden werden, die sich aus so unterschiedlichen Bereichen wie Physik, Chemie, Biologie, Biochemie oder auch Physiologie herausgebildet hat. (Kriz 2004) Gerade auch Vertreter der »harten« Naturwissenschaften wie Hermann Haken begrüßen die interdisziplinäre Grenzüberschreitung in Systemtheorie und Synergetik. (Haken 2004) Ebenso haben sich Vertreter der Geisteswissenschaften immer wieder für ein interdisziplinäres Verständnis der Systemtheorie ausgesprochen, das angeborene Strukturen, biochemische und neuronale Prozesse, die Physis, die Familie oder auch die ökonomische Situation miteinbezieht. (Kriz 1989; Schiepek 2004)