Erst wenn die Nacht beginnt

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Erst wenn die Nacht beginnt
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Cristina Alandro

Erst wenn die Nacht beginnt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Erst wenn die Nacht beginnt

werden diejenigen munter, die niemals schlafen

die nicht spüren, wie die Zeit verrinnt

die nichts empfinden oder fühlen

Erst wenn die Nacht beginnt

geschehen seltsame, unerklärliche Dinge

die erst enden wenn die Nacht sich neigt

und ein neuer Tag beginnt

Kapitel 1

Noéra. – Noéra!“

Die Stimme ihrer Mutter hallte durch die Halle des Hauses und riss Noéra aus dem Schlaf. Sie hasste es auf solch unsanfte Weise geweckt zu werden. Grimmig zog sie sich die Bettdecke über den Kopf und drehte sich noch einmal herum. Sie hatte noch keine Lust aufzustehen denn sie ahnte bereits dass der Tag nichts Gutes bringen würde.

Wenige Minuten später klopfte es leise an ihre Türe und kurz darauf betrat Sarah, das Dienstmädchen der Haydens, leise das halb verdunkelte Zimmer und trat an Noéras Bett.

„Ms. Noéra, bitte steht auf. Eure Mutter ist bereits außer sich vor Wut. Ihr werdet noch zu spät zum Empfang kommen.“

„Das ist mir egal. Ich habe sowieso keine Lust zu diesem Empfang zu gehen.“ Widerwillig schüttelte Noéra den Kopf, schlug aber dennoch die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Sie wollte verhindern dass Sarah den Zorn ihrer Mutter zu spüren bekam, nur weil sie, Noéra, sich widersetzte. Daher stand sie wenige Augenblicke später schließlich auf, wusch sich und ließ sich von Sarah helfen sich anzukleiden. Da dieser sonnige Julitag versprach warm zu werden, entschied Noéra sich für eine luftige Garderobe. Sie ließ sich von Sarah das neue Kleid bringen, das ihre Mutter erst in der vergangenen Woche beim Schneider hatte abholen lassen. Es war ein hübsches bodenlanges Kleid aus hellblauer Seide. Die kurzen Ärmel, sowie der hochgeschlossene Ausschnitt waren mit weißer Spitze verziert und der weite Rock fiel elegant über die bauschigen Unterröcke und schwang bei jeder von Noéras Bewegungen leicht mit. Noéra gefiel sich als sie sich im Spiegel betrachtete. Der helle, glänzende Stoff betonte den leicht dunklen Teint ihrer Haut und bildete einen schönen Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar.

„Ihr seht wunderschön aus“, flüsterte Sarah ihr mit einem verschwörerischen Lächeln zu, als sie hinter Noéra trat. Noéra erwiderte ihr Lächeln im Spiegel.

„Danke“, sagte sie leise, wurde dann jedoch wieder ernst als sie sich daran erinnerte aus welchem Anlass sie sich so herausgeputzt hatte.

Heute gaben die Gillivans einen großen Empfang in ihrem Sommerhaus einige Meilen von der Stadt entfernt. Den Gillivans gehörte eines der größten Industrieunternehmen der Region und sie waren einer der wichtigsten Geldgeber für die Universität an der Professor Hayden Geschichte und Archäologie unterrichtete. Außerdem waren die Gillivans und die Haydens schon seit vielen Jahren befreundet. Gegen das Fest an sich hätte Noéra gar nichts einzuwenden gehabt. Sie freute sich sogar darüber, die Stadt an diesem schönen warmen Tag verlassen zu können und aufs Land hinaus zu fahren. Und auch die Gillivans mochte sie sehr gerne. Das ältere Ehepaar war für sie beinahe zu einer Art Ersatzgroßeltern geworden seit ihre eigenen Großeltern vor ein paar Jahren gestorben waren. Sie waren es auch gewesen die Noéra geholfen hatten über den Verlust ihrer geliebten Großeltern hinwegzukommen, als sie sie für einige Monate zu sich in ihr Landhaus geholt hatten. Für Noéra war dieser Verlust weit schlimmer gewesen als für den Rest ihrer Familie, jedenfalls glaubte sie das. Das Verhältnis zu ihren Großeltern, die ebenfalls in dem geräumigen Stadthaus der Haydens gelebt hatten, war viel inniger gewesen als das zu ihren Eltern oder ihrer ein Jahr älteren Schwester Lydia. Doch obwohl sie sich freute Martha und Roger Gillivan wiederzusehen verspürte sie ansonsten keinerlei Lust, zu diesem Empfang zu gehen. Sie mochte es nicht besonders, so viele Leute um sich zu haben mit denen sie gezwungener Maßen Höflichkeiten austauschen musste. Außerdem würde sie sich wieder fühlen wie auf einem Präsentierteller, dessen war sich Noéra sicher. So war es ihr bereits auf den vergangenen Festen und Bällen ergangen, zu denen ihre Mutter sie und Lydia geschleppt hatte. Während Lydia es genoss im Mittelpunkt zu stehen und geradezu aufblühte wenn sie von allen Seiten Aufmerksamkeit bekam, war Noéra dieses Gefühl zutiefst zuwider. Noch schlimmer war es geworden seit sich Lydia vor etwa einem Monat mit dem Sohn eines bekannten Geschäftsmannes aus London verlobt hatte. Denn nun lag Jane Haydens ganzes Augenmerk auf Noéra und darauf, auch für ihre jüngere Tochter möglichst bald einen passenden Ehemann zu finden. Das Problem war jedoch, dass Noéra unter passend etwas ganz anderes verstand als ihre Mutter, weshalb sie in letzter Zeit bereits mehrfach in Streit geraten waren und ihr ohnehin schwieriges Verhältnis zueinander weiter belastet wurde. Noéra wollte ihren zukünftigen Ehemann eines Tages selbst wählen und erst dann, wenn sie sich selber dazu bereit fühlte. Und dieser Zeitpunkt war noch lange nicht gekommen, doch das schien ihre Mutter nicht zu interessieren. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie, Noéra, nur aus Liebe heiraten würde und nicht irgendeine gute Partie. Und unter all den Männern, die ihr bisher den Hof gemacht hatten, war nicht ein einziger gewesen, den Noéra auch nur entfernt in Betracht gezogen hätte. Es waren zwar durchaus ein paar nette und sogar ganz passabel aussehende junge Herren dabei gewesen, doch das alleine reichte in Noéras Augen eben nicht aus. Sie glaubte fest daran dass es irgendwo auf der Welt das passende Gegenstück zu ihr gab, ihren Seelenverwandten. Das durfte sie nur nicht laut sagen, denn schon einmal war sie von ihrer Mutter und ihrer Schwester wegen ihrer vielleicht viel zu romantischen Vorstellung von der Liebe ausgelacht worden. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal wiederholen.

„Du liest zu viele schlechte Romane“, hatte ihre Mutter verächtlich zu ihr gesagt. Doch damit hatte das überhaupt nichts zu tun, dachte Noéra auch in diesem Moment wieder und kam damit in die Realität zurück, nachdem Sarah sie leicht angestupst hatte, da sie einen viel zu langen Augenblick gedankenverloren vor dem Spiegel gestanden war.

„Ihr solltet nun wirklich hinuntergehen. Die anderen warten bereits auf Euch.“ Und als Noéra sich zu ihr herumdrehte fügte Sarah noch hinzu: „Auch dieser Tag wird vorübergehen. Und wer weiß, vielleicht wird es ja ein schönes Fest und es gefällt Euch.“

„Ja, vielleicht“, entgegnete Noéra noch immer nachdenklich.

„Danke – für alles.“

Lächelnd sahen sich die beiden jungen Frauen an. Sarah war für Noéra weit mehr als eine Hausangestellte. Sie war ihr eine liebe Freundin und Verbündete in diesem Haus, vielleicht ihre liebste Freundin überhaupt, die sie jederzeit verstand und zu ihr hielt. Noéra hatte sie schon oft gebeten, sie nicht mehr so förmlich anzusprechen, doch Sarah bestand darauf. Sie wollte auf keinen Fall Mrs. Haydens Zorn auf sich ziehen weil sie es am nötigen Respekt ihrer Tochter gegenüber fehlen ließ. Doch auch Sarah mochte Noéra sehr und freute sich über ihre Freundschaft. Sie waren fast gleich alt und waren mehr oder weniger zusammen aufgewachsen, denn Sarahs Mutter stand schon seit vielen Jahren im Dienst der Haydens. Und Noéra war so ganz anders als der Rest ihrer Familien. Weder so arrogant und hochnäsig wie ihre Schwester, noch so aufbrausend und wichtigtuerisch wie ihre Mutter. Und schon gar nicht so streng aber teilweise oberflächlich wie ihr Vater Robert Hayden. Nein, in Sarahs Augen war Noéra sehr viel liebenswerter als ihre Familie und sie schätzte sich glücklich, ihr eine gute Freundin sein zu können. Als sie nun gemeinsam das Zimmer verließen drückte sie noch einmal Noéras Hand, dann zog sie sich zurück.

„Da bist du ja endlich“, wurde Noéra am Fuß der Treppe von ihrer Schwester begrüßt. „Wegen dir kommen wir noch zu spät.“

Noéra zuckte jedoch nur mit den Schultern und ging zur Haustür, die offen stand da ihre Eltern bereits zur Kutsche vorausgegangen waren. Sie wollte nicht mit ihrer Schwester streiten. Ihrerseits schweigend folgte Lydia Noéra zur Kutsche und als sie beide eingestiegen waren gab Robert Hayden dem Kutscher das Signal loszufahren. Mit einem Ruck setzte sich der leichte Zweispänner, der von zwei Braunen gezogen wurde, in Bewegung und rollte in zügigem Tempo durch die Straßen von Wilchester.

 

„Hübsch seht ihr beiden aus“, lobte Jane Hayden ihre Töchter und betrachtete sie anerkennend. Während Lydia sich wie ein kleines Kind über dieses Lob ihrer Mutter freute sah Noéra weiterhin starr aus der Kutsche hinaus und beobachtete die an ihr vorüber ziehende Landschaft. Jane Hayden war sehr zufrieden mit ihren beiden Töchtern, waren sie auch noch so verschieden. Beide waren äußerst hübsch und wohlerzogen. Lydia mit ihrem blonden Haar, dem hübschen herzförmigen Gesicht und den strahlend blauen Augen war ihr Liebling, das konnte sie nicht leugnen. Sie war ihr selbst sehr ähnlich und es hatte nie Probleme zwischen ihnen gegeben. Anders als mit Noéra. Ihre jüngere Tochter war ganz anders als ihre Schwester und sie erschien ihr manchmal fremd. Noéra hatte ihren eigenen Kopf und lehnte sich gegen sie auf. Ihr Verhältnis zueinander war oft schwierig, aber dennoch liebte Jane Hayden auch ihre zweite Tochter mit den hüftlangen, dunkelbraunen Locken und den außergewöhnlich bernsteinfarbenen Augen. Und sie war sich sicher dass auch Noéra bald einsehen würde dass sie nur das Beste für sie wollte.

Der Empfang bei den Gillivans heute war eine gute Gelegenheit, weiter nach einem geeigneten Verehrer für Noéra Ausschau zu halten. Wobei sie sich eigentlich sicher war, bereits den passenden Mann für sie gefunden zu haben. Nun musste sie ihre Tochter nur noch von ihrer Wahl überzeugen. Das bereitete ihr zuweilen Kopfzerbrechen, zumal sie von ihrem Gatten nur wenig Unterstützung in dieser Angelegenheit erwartete. Er ließ ihr dabei „völlig freie Hand“, wie er ihr immer wieder versicherte. Jane war sich jedoch bewusst dass er vermeiden wollte, ebenfalls mit Noéra aneinander zu geraten. Hatte er früher immer Wert auf eine strenge Erziehung seiner Töchter gelegt, so war Jane in den vergangenen Jahren immer öfter aufgefallen dass er nachsichtiger geworden war und jedem Streit, nicht nur mit seinen Töchtern, aus dem Weg ging. Dabei hätte sie in diesem Fall gerne seine Unterstützung gehabt. Vielleicht würde Noéra eher auf ihren Vater hören. Dennoch ließ sie sich davon nicht entmutigen. Sie würde Noéra schon überzeugen. Sie war schließlich ihre Mutter! Und beim Empfang der Gillivans würde sie damit beginnen. Zufällig wusste sie nämlich sehr genau wer auf der Gästeliste stand.

Etwa eine halbe Stunde später erreichte die Kutsche das schön gelegene Haus der Gillivans. Das große, weiß getünchte Haus mit dem urigen Reetdach lag am Ende einer langen Allee zwischen ausgedehnten Wiesen und war von hohen Bäumen umgeben. Vor dem Haus standen bereits zahlreiche andere Kutschen. Milton, der Kutscher, brachte die Pferde vor der Eingangstreppe zum Stehen und öffnete eine der Flügeltüren. Robert Hayden stieg als Erster aus der Kutsche und half anschließend seiner Frau und den beiden Mädchen beim Aussteigen. Dann reichte er Jane seinen Arm und sie gingen, gefolgt von ihren Töchtern, die Treppe zum Eingang hinauf, wo sie der Butler der Gillivans in Empfang nahm und zur Wiese hinter dem Haus führte, wo sie herzlich von Martha und Roger begrüßt wurden.

„Wie schön dass ihr hier seid“, empfing Martha sie mit einem strahlenden Lächeln. Der Reihe nach umarmte sie die Haydens. Nachdem sie Noéra an sich gedrückt hatte schob sie sie einen halben Schritt von sich und betrachtete sie glücklich.

„Du bist noch hübscher geworden seit unserem letzten Zusammentreffen“, sagte sie leise, damit die anderen es nicht hören konnten und strich Noéra flüchtig über die Wange. Noéra erwiderte Marthas Lächeln.

„Es ist so schön endlich wieder hier zu sein. Das letzte Mal ist bereits viel zu lange her.“

„Da hast du recht“, antwortete Martha. „Du musst dir später unbedingt die Pferde ansehen. Sie werden sich über deinen Besuch bestimmt ebenso freuen wie ich.“

„Das werde ich“, versicherte Noéra mit leuchtenden Augen, denn sie hatte die Pferde sehr vermisst.

Martha Gillivan hatte ihr vor einigen Jahren das Reiten beigebracht und Noéra hatte ihre Leidenschaft für diese wundervollen Tiere entdeckt. Noéras Eltern waren anfangs zwar dagegen gewesen Noéra reiten zu lassen, doch die Gillivans, die beide passionierte Reiter waren, hatten Jane und Robert Hayden schließlich überzeugt, wofür Noéra ihnen unendlich dankbar war. Sie bedauerte zu Hause in der Stadt keine Möglichkeit zum Reiten zu haben. Umso mehr freute sie sich nun jedoch auf die Pferde. Doch zunächst musste sie erst einmal einige der anderen Gäste begrüßen und folgte ihren Eltern und ihrer Schwester widerstrebend. Lächelnd schüttelte sie Hände und tauschte Höflichkeitsfloskeln aus. Schon nach kurzer Zeit fiel es Noéra zunehmend schwer, die Maskerade aufrecht zu erhalten und sich mit all den Leuten zu unterhalten, obwohl sie sich viel lieber heimlich zurückgezogen hätte. So freundlich sich all diese Leute auch gaben war Noéra sich doch sicher dass es den meisten von ihnen nur darum ging, sich hier sehen zu lassen, aber kaum einer interessierte sich wirklich für seinen Gegenüber. Für die meisten schien es nur eine weitere Gelegenheit zu sein, ihre teure Garderobe zu tragen und sich über Oberflächlichkeiten zu unterhalten. Noéra riss sich jedoch zusammen, atmete tief durch und fügte sich ergeben in ihr Schicksal. So auch als ihre Mutter kurze Zeit später in Begleitung Henrys auf sie zukam.

Henry war der Sohn eines Kollegen von Noéras Vater und es war bereits abzusehen dass Henry in die Fußstapfen seines Vaters treten würde und bald ebenfalls an der Universität unterrichten würde. Er war etliche Jahre älter als Noéra und sie waren einander bereits vor ein paar Wochen auf einem Ball vorgestellt worden. Noéra hatte gleich bemerkt dass ihre Mutter einen Narren an Henry gefressen hatte und dieser Eindruck verstärkte sich jetzt noch, als Jane Hayden mit einem vielsagenden Blick zu Noéra trat.

„Ah, das bist du ja, Noéra. Sieh mal wer ebenfalls hier ist.“ Bei diesen Worten wandte sie sich Henry aufmunternd zu.

„Guten Tag Henry“, begrüßte Noéra ihn höflich. „Wie schön, Euch zu sehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Hayden.“ Bei diesen Worten verneigte Henry sich galant vor Noéra.

Sie unterhielten sich eine Weile zu dritt, doch dann schien Noéras Mutter auf einmal jemanden entdeckt zu haben, den sie unbedingt und sofort begrüßen musste und Noéra und Henry blieben alleine zurück. Das hatte sie ja geschickt eingefädelte, dachte Noéra grimmig. Was sollte sie jetzt denn nur mit Henry anfangen? Worüber sollten sie sich unterhalten? Henry war zwar ein recht netter Kerl, doch schon bei ihrem letzten Zusammentreffen wäre Noéra vor Langeweile beinahe vergangen, was Henry jedoch keineswegs aufgefallen war. Er war so in seinem Vortrag über eine Studie, an der er gerade arbeitete, aufgegangen, dass Noéra das Gefühl gehabt hatte, er würde sie gar nicht mehr wahrnehmen. Wenn der heutige Nachmittag auf ähnliche Art und Weise verlaufen sollte bemitleidete Noéra sich schon jetzt. Und es schien alles darauf hinzudeuten. Nachdem Henry sich nämlich kurz nach Noéras Befinden erkundigt hatte und wie es ihr seit ihrer letzten Begegnung ergangen war, begann er nun von sich und seinen Studien zu erzählen. Anfangs bemühte Noéra sich noch um eine interessierte Miene und stellte sogar ein paar vorsichtige Zwischenfragen, wenn auch nur in dem Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, was ihr jedoch nicht gelang, wie sie resigniert feststellte. Nach einer Weile ließ sie Henry einfach reden und hörte nur noch mit halbem Ohr zu.

Sie sah sich gerade Hilfe und Ablenkung suchend um als ihr plötzlich ein Einfall kam und sie lächelte in sich hinein. Ihr war eine Idee gekommen wie sie ihre momentane, unangenehme Situation doch noch zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Als Henry eine kurze Pause machte, da er den Faden für einen winzigen Moment verloren zu haben schien, schlug Noéra ihm vor, einen kleinen Spaziergang zu machen. Überrascht aber glücklich strahlend willigte Henry ein und bot Noéra seinen Arm an. Noéra lehnte jedoch lächelnd ab und so gingen sie gleich darauf nebeneinander her, während Henry weiter erzählte und erzählte. Jetzt machte es Noéra jedoch weit weniger aus, Henry weiter zuhören zu müssen, bot sich ihr durch den Spaziergang mit ihm doch eine gute Gelegenheit, nach den Pferden zu sehen. Daher lenkte sie ihren Weg schon nach kurzer Zeit in Richtung der Ställe. Hätte sie sich allein zurückgezogen um die Pferde zu besuchen hätte das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Zorn ihrer Mutter entfacht. Doch so würde diese, wenn sie Noéra und Henry sah, davon ausgehen Noéra wolle sich ein wenig allein und ungestört mit Henry unterhalten und das sicherlich begrüßen. Und dass Jane Hayden ihre Tochter und deren Verehrer beobachtete, dessen war sich Noéra sicher. Beinahe hätte Noéra sich für ihr berechnendes Verhalten geschämt, jedoch nur einen kurzen Moment lang, dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Schließlich hörte sie sich nun seit geraumer Zeit Henrys langweilige Ausführungen und Theorien an. Sie konnte es kaum fassen dass er nicht einmal auf die Idee kam, auch sie einmal zu Wort kommen zu lassen, sie nach irgendetwas zu fragen, vielleicht mit ihr irgendein Thema zu diskutieren. Nein, er war so sehr auf sich selbst fixiert dass er gar nicht daran dachte. Weshalb hätte sie also ein schlechtes Gewissen haben sollen?

Erst als sie den Stall erreichten, der nur ein kurzes Stück vom Haus der Gillivans entfernt lag und von ausgedehnten, saftigen Weiden umgeben war, verstummte Henry abrupt und sah Noéra fragend an.

„Was tun wir hier?“, fragte er und sah sich um.

„Wir sehen uns die Pferde an. Die Gillivans haben sehr schön Pferde.“

„Nun, wenn Ihr das möchtet…“

Noéra hörte deutlich die Enttäuschung und den Unmut aus Henrys Stimme heraus als er ihr die Stalltüre öffnete, doch er nickte dennoch lächelnd.

Im Stall sah sich Noéra suchend nach Sully, dem Fuchswallach um auf dem sie Reiten gelernt und mit dem sie viele schöne Stunden verbracht hatte.

„Er hat mir das Reiten beigebracht“, erzählte sie Henry mit einem verträumten Blick, während sie dem Pferd sanft über die Nase strich. Sie verband so viele schöne Erinnerungen mit diesem Tier.

„Ihr reitet?“, fragte Henry, der ein Stück von dem Pferd entfernt stehengeblieben war, erstaunt. „Nun, mir persönlich sind diese Tiere ja viel zu groß um sie zu reiten. Da ziehe ich es doch vor zu Fuß zu gehen oder in der Kutsche zu fahren.“

Na, das hatte Noéra schon fast vermutet. Henry schien ihr generell nicht der Mutigste zu sein. Er war niemand, der irgendein Risiko eingehen würde. So wie Noéra ihn kennengelernt hatte bestand sein Leben einzig aus Daten und Fakten. Er schien auch keinerlei Hobbys zu haben. Er interessierte sich nur für seine Arbeit. Seine ganze Art passte jedoch, so fand Noéra, wunderbar zu seinem ganzen Aussehen. Er war zwar groß, jedoch von schmächtiger Gestalt. Und sein gepflegtes Äußeres, das streng gescheitelte dunkle Haar und überhaupt sein ganzes Auftreten ließen darauf schließen dass er eher ein Mann des Geistes war, der sich die Hände nicht schmutzig machte. Diese und noch viele weitere Eigenschaften ließen ihn in Noéras Augen auf keinen Fall als zukünftigen Ehemann in Frage kommen. Sie wünschte sich einen Mann, der sich für sie interessierte, der für sie einstand und für sie da war. Mit dem sie ihre Interessen teilen konnte, an dessen Leben sie selbst teilhaben wollte, jemanden, den sie achten konnte. Henry war das genaue Gegenteil davon. Das wurde ihr in diesem Moment, als sie gemeinsam hier im Stall standen, noch einmal völlig bewusst, noch deutlicher als zuvor.

Sie blieben noch einige Minuten bei den Pferden, dann machten sie sich wieder auf den Rückweg zum Haus. Noéra hatte bemerkt dass Henry begonnen hatte, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten und sie wollte seine Geduld nicht über Gebühr strapazieren. Er fühlte sich sichtlich unwohl an diesem Ort.

Als sie den Stall verließen und die Türe gerade hinter sich schlossen trafen sie auf Matt, den Verwalter der Gillivans, der sich auch um die Pferde kümmert. Es dauerte einen Augenblick, doch als er Noéra erkannte erhellte ein Lächeln sein sonst sehr ernstes, beinah finsteres Gesicht.

„Wie schön, euch wiederzusehen, Miss Noéra. Es ist schon viel zu lange her, seit Ihr zum letzten Mal hier gewesen seid.“

„Das stimmt, Matt“, antwortete Noéra ebenfalls lächelnd. „Und ich habe die Pferde sehr vermisst. Gerade eben habe ich Sully besucht und er schien sich tatsächlich noch an mich zu erinnern.“

„Aber natürlich erinnert er sich an euch. Pferde vergessen niemals.“

 

Kurz darauf verabschiedete Noéra sich mit einem glücklichen Lächeln von dem alten Mann und ging in Begleitung Henrys zurück zur Wiese hinter dem Haus. Keiner der beiden sprach ein Wort, was Noéra jedoch nicht weiter störte. Sie genoss diese wenigen Minuten des Schweigens, das jedoch ein jähes Ende fand als sie die Wiese und die übrigen Gäste erreichten. Mit eiligen Schritten kam Lydia auf sie zugeeilt, begrüßte Henry kurz und fuhr dann an beide gewandt fort.

„Wir haben mit dem Tee auf euch gewartet. Kommt schnell mit, wir sitzen dort drüben gemeinsam mit den Gillivans unter den großen Bäumen. Der Kuchen duftet köstlich und ich kann es kaum erwarten, davon zu kosten.“

Bei diesen Worten nahm sie Noéra an der Hand und zog sie hinter sich her. Henry beeilte sich, den beiden Schwestern zu folgen. Bei Lydias letzten Worten hatte Noéra sich ein Grinsen verkneifen müssen. Als ob ihre eitle Schwester jemals viel Kuchen essen würde. Dafür war Lydia viel zu sehr auf das Bewahren ihrer schlanken Linie bedacht. Obwohl Noéra aufgefallen war dass sich ihre Schwester seit ihrer Verlobung nicht mehr ganz so strikt zurückhielt wenn es um Süßigkeiten ging. Seit einiger Zeit genehmigte sie sich durchaus ab und zu einen Leckerbissen. Noéra selbst hatte sich über derlei Dinge sowieso noch nie Gedanken gemacht. Doch das war auch gar nicht nötig denn sie konnte ohnehin essen was sie wollte und so viel sie wollte ohne auch nur ein einziges Gramm zuzunehmen.

Am Tisch wurden sie von den anderen freudig begrüßt und man wies Noéra und Henry zwei sich gegenüberliegende Plätze zu, direkt neben Noéras Eltern. Noéra war froh dass sich ihr Vater nun eine Weile mit Henry über die Universität unterhielt und atmete erleichtert auf, was ihre Mutter jedoch scheinbar falsch deutete, als sie sich jetzt zu Noéra hinüberbeugte.

„Ihr wärt sicher gerne noch ein wenig länger unter euch gewesen, nicht wahr?“, raunte Jane ihrer Tochter zu. „War euer Spaziergang schön? Ihr hattet euch sicher einiges zu erzählen.“ Dabei lächelte sie Noéra verschwörerisch zu. Noéra nickte jedoch nur kurz.

„Ja, ja, sehr schön. Aber wir waren sowieso gerade auf dem Weg zu euch.“

Noéra hätte ihre Mutter gerne aufgeklärt, damit diese keine falschen Schlüsse zog, doch dafür war hier nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit.

Der restliche Nachmittag verflog weit schneller als Noéra erwartet hatte und es gelang ihr, sich geschickt immer wieder in Gespräche verwickeln zu lassen um sich nicht noch einmal alleine mit Henry unterhalten zu müssen. Erst als Henry sich am frühen Abend verabschiedete wandte er sich noch einmal mit einem charmant gemeinten Lächeln an Noéra.

„Es hat mich sehr gefreut, Euch hier wiederzusehen, Miss Hayden. Ich würde gerne noch ein wenig länger bleiben und mich an Eurer Gesellschaft erfreuen, doch leider muss ich aufbrechen. Ich hoffe jedoch auf ein baldiges Wiedersehen mit Euch.“ Dabei nahm er Noéras Hand in die seine und verbeugte sich leicht vor ihr. Noéra zwang sich zu einem Lächeln, doch bevor sie etwas sagen konnte ergriff ihre Mutter, die Henrys letzte Worte gehört haben musste, das Wort.

„Wir geben in fünf Tagen ein Dinner. Nur in kleinem Rahmen, aber kommen Sie doch auch, Henry. Es würde uns sehr freuen.“

Während sie Henrys Antwort abwartete wechselte sie einen kurzen Blick mit Noéra, die ihre Augenbrauen fragend in die Höhe zog. Auch Henry wirkte überrascht, stimmte jedoch mit einem glücklichen Lächeln zu.

„Diese Einladung nehme ich sehr gerne an, Mrs. Hayden. Vielen Dank.“

„Dann am Donnerstag um sieben Uhr“, erwiderte Noéras Mutter, woraufhin Henry nickte und sich dann endgültig verabschiedete.

Noéra versuchte ihre Bestürzung so gut es ging zu verbergen. Sie musste unbedingt mit ihrer Mutter sprechen. Und zwar bald. Nun versuchte sie jedoch, sich nichts anmerken zu lassen, was ihr auch gelang, bis sie sich wenig später von den Gillivans verabschiedete. Als sie Martha zum Abschied umarmte raunte diese Noéra ins Ohr:

„Ist alles in Ordnung, meine Liebe?“

Noéra nickte, merkte aber selbst dass sie Martha nicht überzeugen konnte. Dafür kannten sie einander zu gut. Martha Gillivan hob jedoch nur kurz eine Augenbraue und nickte dann ebenfalls.

„Roger und ich fahren morgen wieder nach Wilchester zurück. Wir wollen uns übermorgen ein Pferd ansehen. Mr. Christie hat uns benachrichtigt dass er einige neue Pferde bekommen hat. Wenn du möchtest kannst du uns begleiten.“

Mr. Christie war einer der angesehensten Pferdehändler der Gegend und seit kurzem in Wilchester ansässig. Sein Stall lag am Stadtrand von Wilchester, in einer etwas abgelegenen Gegend. Noéras Augen leuchteten auf.

„Ich komme gerne mit. Vielen Dank.“

Martha nickte lächelnd.

„Gut, dann holen wir dich am späten Vormittag ab. Das ist doch in Ordnung, nicht wahr, Robert?“

Fragend sah Martha nun Robert Hayden an, doch sie wusste bereits, dass er keine Einwände haben würde. Nicht, wenn sie ihn darum bat.

„Natürlich“, erwiderte er und Noéra dankte ihm mit einem glücklichen Lächeln. Dann brachen die Haydens auf.

Martha Gillivan sah ihnen noch einen Moment hinterher. Sie hätte gerne gewusst, was Noéra bedrückte.

Zwei Tage später ließ sich Noéra schon früh von Sarah wecken. Sie wollte ihren Vater an diesem Morgen zur Universität begleiten um sich, bevor die Gillivans sie später abholten, in der Bibliothek, die sich gleich neben der Universität befand, ein Buch auszuleihen. Das Buch über keltische Sagen und Legenden, das sie sich in der vergangenen Woche ausgeliehen hatte, hatte sie bereits ausgelesen und nun wollte sie sich nach neuem Lesestoff umsehen. Noéra las gerne, oft bis spät abends, und verschlang die Bücher, die ihr gefielen, geradezu. Dieses Keltenbuch hatte es ihr besonders angetan, hatte es sie doch in eine ganz andere, mystische Welt entführt. Daher hoffte sie, heute nochmals ein ähnliches Buch zu finden. Sie ließ sich gerne in längst vergangene Zeiten entführen, sei es nun durch ein Sachbuch oder einen guten Roman. Noéra mochte beides, Hauptsache sie wurde wenigstens für kurze Zeit von der Realität abgelenkt, denn diese kam ihr an manchen Tagen furchtbar trostlos vor. Es gab so viele Dinge, die sie gerne getan hätte, so viele Orte, die sie gerne gesehen hätte, doch vieles davon ließen ihre Eltern nicht zu und deshalb blieb es ihr verwehrt. Dann wollte sie wenigstens darüber lesen, auch wenn das, wie sie sich leider eingestehen musste, nur ein notdürftiger Ersatz war.

Mit ihrer Vorliebe für Bücher kam Noéra ganz nach ihrem Vater und ihren Großeltern. Auch diese hatten immer viel gelesen, wobei es bei Robert Hayden natürlich auch beruflich bedingt war, dass er Stunden damit zubrachte, Bücher zu wälzen. Noéra hätte liebend gerne ebenfalls studiert wie ihr Vater, doch das hatte ihre Mutter nicht zugelassen da sie der Ansicht war, das sei reine Zeitverschwendung für eine junge Frau. Sie hatte sich nicht einmal auf eine Diskussion darüber eingelassen und Noéra hatte schließlich resigniert einsehen müssen, dass sie auch von ihrem Vater keinerlei Unterstützung zu erwarten hatte. Er hatte ihr, trotz ihres mehrfach geäußerten Wunsches, noch nicht einmal erlaubt, ihn auf eine seiner Reisen zu einer neu entdeckten Ausgrabung zu begleiten. Das sei ebenfalls nichts für Frauen pflegte er dann immer zu sagen. Wie Noéra diesen Ausspruch hasste. Warum sollte es allein den Männern vorbehalten sein, Dinge zu tun, die sie gerne taten, sich zu amüsieren, aber auch sich zu bilden, etwas zu erreichen? Sie schien jedoch in einer Familie, einer Gesellschaft zu leben, in der das so war, und daran konnte sie rein gar nichts ändern. Aber außer ihr schien das niemanden zu stören, was Noéra an manchen Tagen beinahe verzweifeln ließ. Doch mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, dass sie wohl ein wenig anders war als viele ihrer Mitmenschen. Sie hatte all diese Restriktionen satt, doch sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Und auch an diesem Tag kam sie zu dem Schluss, dass sie sich wohl einfach damit abfinden musste. Doch darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachgrübeln und so schob sie all ihre trüben Gedanken beiseite. Bald würden die Gillivans sie abholen und es würde bestimmt ein schöner Tag werden. Immerhin hatten ihre Eltern ihr erlaubt, mit zu dem Pferdehändler zu fahren, obwohl Noéra wusste dass ihre Mutter davon ganz sicher nicht begeistert war. Sie hatte Noéra zu Anfang auch gar nicht erlauben wollen, Reiten zu lernen. Doch vor den Gillivans hätte sie das niemals zugegeben.

Es würde nun nicht mehr lange dauern bis sie abgeholt wurde. Daher schloss Noéra rasch die Haustüre hinter sich und eilte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Die beiden Bücher, die sie in der Bibliothek gefunden hatte, legte sie auf ihr Nachttischchen. Dann wechselte sie das dünne Sommerkleid gegen den dunkelbraunen Reitrock und eine beigefarbene Bluse. Sie würde zwar bestimmt keine Gelegenheit haben zu Reiten, dennoch genoss sie es, endlich wieder einmal ihre Reitkleidung zu tragen. Ihre Schwester zog sie zwar immer verächtlich damit auf, wie wenig damenhaft sie in dieser Kleidung aussähe, doch das machte Noéra nichts aus, zumal Noéra nicht der Meinung war, dass Lydia damit Recht hatte. Sie fand den Reitrock sehr elegant und außerdem äußerst bequem.

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