Das Geheimnis der Botigo Bay

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Liam hatte das Gefühl, sein Herz würde vor Freude einen Sprung machen und sein Lächeln wurde noch strahlender.

„Wie schön! Ich freue mich sehr.“

Kurz darauf kehrten Ashad und Alex mit den Pferden zurück. Bevor sie in Hörweite kamen ergriff Liam rasch Nyahs Hand. Obwohl er sie nur ganz sanft berührte spürte er, wie sie leicht zusammenzuckte und sich anspannte. Daher ließ er ihre Hand sofort wieder los. Als sie ihn ansah lächelte sie jedoch und Liam erwiderte ihr Lächeln.

„Dann bis heute Abend?“, fragte er leise und mit hoffnungsvollem Blick.

„Ja, bis heute Abend“, erwiderte Nyah ebenso leise.

Dann traten sie auseinander und gingen zu ihren Pferden. Corazón wieherte leise als Nyah zu ihm trat. Er lehnte sanft seinen Kopf an ihre Schulter als sie ihm über den Hals strich. Sie sah dem Hengst an, dass er sich während des Kampfes aufgeregt hatte. Sie wusste dass er sie hatte verteidigen wollen, doch Nyah hatte ihn fortgeschickt um ihn zu schützen. Die Tatsache jedoch, dass er ihr nicht hatte helfen können hatte dem Pferd schwer zugesetzt. Corazón war eine Kämpfernatur. Nun, während Nyah ihn sanft streichelte, beruhigte er sich jedoch sofort. Wenige Augenblicke später saß Nyah auf. Dabei fing sie noch einmal Liams Blick auf, der sie beobachtet haben musste. Als sie seinen Blick erwiderte lächelte er sie an und hob zum Gruß die Hand. Dann ritten sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander.

Während des restlichen Rückritts nach Port Lantago war Liam sehr schweigsam. Er dachte über das merkwürdige Zusammentreffen mit Nyah nach. War es wirklich Zufall gewesen, ihr hier und unter diesen Umständen zu begegnen? Liam glaubte eigentlich nicht an Schicksal, doch seit er Nyah kannte hatte dieser Begriff eine ganz neue Bedeutung für ihn bekommen.

Dabei dachte er weniger über den Überfall auf Nyah und den darauffolgenden Kampf nach. Viel mehr beschäftigte ihn, was danach geschehen war. Warum war Nyah so erschrocken zusammengezuckt, als er sie berührt hatte? Es war schließlich nicht das erste Mal gewesen dass er ihre Hand ergriffen hatte. Für einen Moment hatte er gemeint, Furcht in ihren Augen aufflackern zu sehen, bevor sie ihn wieder angelächelt hatte. Dabei hatte sie ihre Anspannung nicht ganz verbergen können. Hatte es einfach nur an dem vorangegangenen Kampf gelegen? Wobei sie eigentlich einen sehr ruhigen und gefassten Eindruck gemacht hatte. Erstaunlich ruhig sogar. So, als wäre dieser Kampf kaum bemerkenswert gewesen. Was Liam wiederrum wunderte. Aber was war es dann gewesen? Nyah gab ihm immer wieder Rätsel auf.

Als er sie dann später mit ihrem Pferd gesehen hatte, war er für einen Moment ganz gefangen gewesen von ihrem Anblick. Diese stille Zwiesprache zwischen Nyah und ihrem Hengst, die so viel Vertrauen und auch Liebe ausgedrückt hatte, hatte ihn tief berührt.

Nun riss Alex Liam jedoch aus seinen Gedanken als er ihn, wohl zum wiederholten Mal, ansprach.

„Liam, ist alles in Ordnung?“, fragte sein Bruder und sah ihn aufmerksam an. Liam nickte.

„Ja, ich war nur in Gedanken.“

„Das dachte ich mir“, erwiderte Alex schmunzelnd.

„Und jetzt kann ich auch verstehen warum“, fügte er noch hinzu. „Sie ist wirklich eine bemerkenswerte Frau. Schön, furchtlos und eine hervorragende Kämpferin.“

„Ja“, gab Liam einsilbig zurück. Er hing immer noch seinen Gedanken nach. Doch dann riss er sich zusammen und sah Alex endlich an.

„Ich habe sie für heute Abend zu uns eingeladen. Nyah und ihren Begleiter. Ashad.“

„Oh“, entgegnete Alex überrascht. „Gut.“

Nach kurzer Überlegung fuhr er fort.

„Dieser Ashad hat etwas Furchteinflößendes an sich. Weißt du, in welcher Beziehung er zu Nyah steht? – Ich meine, er folgt ihr schließlich wie ein Schatten und sie scheinen einander sehr vertraut zu sein.“

Jedenfalls hatte ihr Umgang miteinander darauf schließen lassen, fügte Alex im Stillen hinzu, als er Liams ernsten Blick sah. Auch Liam war aufgefallen, wie zuvorkommend und selbstverständlich sie mit einander umgegangen waren. Und sie schienen einander wortlos zu verstehen. Liam war ebenfalls der düstere Blick aufgefallen, den ihm der Schwarze zugeworfen hatte, als er mit den Pferden zurückgekommen war und ihn mit Nyah gesehen hatte. Er hatte wie eine stille Warnung gewirkt, obwohl Ashad ihm gegenüber durchaus höflich, wenn auch ein wenig reserviert gewesen war. Erst jetzt erkannte Liam jedoch, dass er, als er Nyah an der Seite des Schwarzen hatte wegreiten sehen, für einen kurzen Moment so etwas wie Eifersucht verspürt hatte. Wer war dieser Mann, dass Nyah ihm ihr Vertrauen schenkte? Etwas, das er sich selbst ebenfalls wünschte. So sehr wünschte, dass es ihm beinahe den Verstand raubte.

Dann schalt er sich jedoch einen Narren. Wer war er denn selbst dass er sich irgendetwas von Nyah hätte wünschen dürfen? Von dieser wundervollen, geheimnisvollen Schönen? Eines wusste er jedoch mit absoluter Sicherheit. Nyah war die Frau, auf die er so lange gewartet hatte. Obwohl er so wenig über sie wusste war er sich völlig sicher. Und er wusste dass er nicht wieder von ihr loskommen würde. Niemals. Er war ihr völlig verfallen und es gab nichts das er daran ändern konnte. Wenn er nur wüsste, wie sie empfand. Was sie fühlte. Doch sie ließ ihn einfach nicht an sich heran. Und wo er früher, bei anderen Frauen, eher skrupellos und weniger zurückhaltend gewesen war, wusste er jetzt nicht, wie er sich verhalten sollte. Und das quälte ihn am meisten. Er wollte auf keinen Fall irgendetwas tun, dass Nyah verletzte oder ihr unangenehm war. Ständig hatte er Angst, irgendetwas Falsches zu tun oder zu sagen. Eine Tatsache, über die er sich nie zuvor Gedanken gemacht hatte, die ihn nun jedoch belastete. Dennoch konnte er Nyah nicht fernbleiben. Oder gerade deshalb.

Nun riss er sich jedoch von seinen Gedanken los und beantwortete Alex‘ Frage mit einem Kopfschütteln.

„Sie hat Ashad nie erwähnt.“

Doch vielleicht würde er an diesem Abend etwas mehr herausfinden. Schon jetzt konnte Liam es kaum erwarten, bis die Stunden vergingen und er Nyah wiedersah.

Ashad war keineswegs erfreut darüber als Nyah ihm, nachdem sie zurück auf ihrer gemieteten Hacienda waren, sagte, dass Liam sie zum Abendessen eingeladen hatte. Er brauchte nicht zu fragen, ob sie die Einladung angenommen hatte. Natürlich hatte sie das. Und es stand ihm nicht zu, ihre Entscheidung in Frage zu stellen, doch er machte sich dennoch Gedanken.

„Denkst du nicht, dass das zu gefährlich ist?“, fragte er Nyah skeptisch als sie nebeneinander her in Richtung Port Lantago ritten. Nyah sah ihn nur verständnislos an.

„Ich meine, machst du dir keine Sorgen dass Liam Moore zu viel über dich herausfindet? Er wird sich doch sicher ohnehin über den Zwischenfall heute Mittag gewundert haben. Und er ist nicht dumm. Ganz im Gegenteil.“

„Nein“, entgegnete Nyah. „Dumm ist er keineswegs. Und natürlich hat er gefragt wo ich gelernt habe, mit dem Degen zu kämpfen. – Glücklicherweise nicht warum.“

Ihre letzten Worte waren kaum hörbar und Ashad sah, wie sie sich für einen Moment anspannte. Doch dann fuhr sie gleichmütig fort.

„Dennoch glaube ich nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen. Er weiß nichts was uns – oder mich – verraten würde. Ich weiß sehr wohl, seinen Fragen auszuweichen. Und er akzeptiert das.“

„Aber wer weiß wie lange noch“, erwiderte Ashad. Dann sah er Nyah nachdenklich an.

„Andererseits, wenn ich gesehen habe wie er dich ansieht, mache ich mir fast weniger Sorgen darum, dass er zu viel weiß. Du könntest ihm wahrscheinlich alles erzählen und er würde dir glauben. Er… Er ist dir völlig verfallen.“

„Ashad!“, entfuhr es Nyah und als sie ihn ansah blitzte es in Ashads tiefschwarzen Augen auf.

„Ich sage nur die Wahrheit, Nyah“, antwortete er ruhig. „Und sag mir jetzt nicht dir wäre nicht aufgefallen, wie Liam dich ansieht. Seine Augen leuchten förmlich auf wenn er dich sieht und er kann den Blick nicht von dir wenden.“

Wieder fiel Ashad auf, wie Nyah sich verspannte.

„Nun ja, vielleicht“, gab sie leise zurück und wandte den Blick ab.

Ashad wusste, dass Nyah das Gespräch nun unangenehm wurde. Doch er musste wissen, wie es um sie stand, wenn er sie schützen wollte.

„Weiß er, dass du Jamaica bald wieder verlassen wirst?“, fragte Ashad schließlich. Nyah schüttelte den Kopf.

„Nein“, antwortete sie. „Aber er wird es noch früh genug erfahren.“

Ashad nickte.

„Was wirst du ihm sagen?“, fragte er dann.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Nyah. „Aber mir wird schon etwas einfallen. – Dabei hasse ich es schon jetzt, ihn anlügen zu müssen.“

Ashad wollte etwas erwidern, doch Nyah bat ihn mit einer Geste zu schweigen. Sie erriet seine Gedanken auch so. Er brauchte ihr nicht zu sagen, dass sie Liam vermutlich nie wieder sehen würde, sobald sie Jamaica verlassen hatte. Und wer weiß was sie überhaupt erwartete, wenn sie ihren Plan, der sie zunächst nach Jamaica geführt und bald wieder weiterziehen lassen würde, in die Tat umsetzten? Dennoch versetzte ihr die Aussicht, Liam dann vielleicht nie wieder zu sehen, einen tiefen Stich. Sie mochte ihn. Sogar sehr. An mehr wollte sie gar nicht denken, denn dann stieg sofort wieder die Angst in ihr auf, die sie wie ein unsichtbarer Schatten ständig verfolgte. Dabei hatte Liam ihr nie Anlass gegeben, sich zu fürchten. Ganz im Gegenteil. Er war sehr zuvorkommend. Ein perfekter Gentleman. Und er war sehr sensibel und vermutlich auch sehr einfühlsam, doch so nah, um das herauszufinden, hatte Nyah ihn nicht an sich herankommen lassen. Und das würde sie wohl auch nicht. Zu groß war ihre Furcht. Und ihre Vernunft sagte ihr zudem, dass das auch keinen Sinn hatte. Es konnte wohl kaum eine Zukunft für sie geben. Dennoch machte dieser Gedanke sie traurig.

 

Ashad sah Nyah noch einen Moment lange schweigend an. Ihr Gesicht spiegelte in diesem Augenblick deutlich die widersprüchlichen Gefühle wider, die sie empfand. Doch dann nahm ihr Gesicht wieder einen gleichmütigen Ausdruck an und sie verbarg all ihre Gefühle. Eine Kunst, die sie hervorragend beherrschte. Nur in seltenen Fällen verlor sie die Fassung und ließ ihre Maske fallen. Und selbst dann musste man sie gut kennen – so gut wie nur Ashad sie kannte – um es zu bemerken. Sie war eine Meisterin darin, sich zu verstellen. Das hatte das Leben sie gelehrt. Doch seit sie diesen Liam Moore getroffen hatte fürchtete Ashad um ihre Selbstbeherrschung. Um ihre Gefühle. Um ihre Seele. Er machte sich Sorgen um Nyah und er wusste nicht, ob er sie dieses Mal schützen konnte.

„Versprich mir, vorsichtig zu sein“, bat er sie leise. „Pass auf dich auf.“

„Ja, das werde ich“, antwortete Nyah ebenso leise. Doch sie wusste nicht, ob sie ihr Versprechen halten konnte.

Am frühen Abend erreichten Nyah und Ashad Liams Stadthaus. Mit der Wegbeschreibung, die er Nyah mittags mit schnellen Worten gegeben hatte, bevor sie sich voneinander verabschiedet hatten, war es nicht schwer zu finden gewesen.

Nyah war beeindruckt als sie das große, elegante Haus aus hellem Stein sah. Es lag in der Nähe des Hafens in einer ruhigen Seitenstraße, jedoch nicht weit vom Zentrum von Port Lantago entfernt. In dieser Straße befanden sich mehrere hübsche Häuser und Villen, doch Liams Anwesen übertraf sie all. Es war von einem kleinen Park umgeben und lag ein Stück von der Straße zurückversetzt. Das Grundstück war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, das große Tor an der Straße stand jedoch offen. Nyah und Ashad ritten den geschotterten Weg hinauf und stiegen erst auf dem Platz vor der großen Eingangstüre von den Pferden. Ashad sah sich ebenfalls um, jedoch eher um sicher zu gehen, dass keine Gefahr drohte. Er war wie meist schwer bewaffnet, obwohl er eigentlich nicht glaubte dass hier eine Gefahr für Nyah bestand. Dennoch blieb er wachsam und vorsichtig. Auch als die zweiflügelige Eingangstüre geöffnet wurde und Liam lächelnd zu ihnen trat.

„Wie schön“, begrüßte Liam sie. „Ich freue mich sehr, dass ihr hier seid.“

Er deutete eine Verbeugung vor Nyah an, wobei er seinen Blick nicht von ihren schwarzen Augen wenden konnte. Sie sah hinreißend aus in ihrem langen, dunkelbraunen Seidenkleid, das mit unzähligen cremefarbenen Stickereien und Perlen verziert war. Ihr dunkles Haar hatte sie zum Teil aufgesteckt und es fielen nur noch ein paar lange glatte Strähnen über ihren Rücken. Er meinte einen Hauch von Anspannung auf ihrem schönen, ebenmäßigen Gesicht zu sehen, doch als sie seinen Gruß erwiderte lächelte sie ihn an und ihre Augen leuchteten auf. Wie schön sie war, dachte Liam.

Dann reichte er Ashad höflich die Hand.

„Willkommen.“

Ashad erwiderte Liams Händedruck, blieb jedoch ernst.

„Vielen Dank.“

Dann nahm Ashad Nyah die Zügel ihres Hengstes aus der Hand und fragte Liam, wo er die Pferde unterstellen und trinken lassen konnte. Liam rief daraufhin einen jungen Stallburschen herbei, der Ashad abholte. Der Junge bot dem Schwarzen an, sich um die beiden Pferde zu kümmern, Ashad lehnte jedoch höflich ab und bestand darauf, sich selbst um sie zu kümmern. Als er dem Jungen schließlich mit den Pferden folgen wollte weigerte sich Nyahs Schimmelhengst zunächst, mitzugehen. Ashad warf Nyah einen kurzen Blick zu und sie trat noch einmal zu Ánima. Liam beobachtete sie schweigend, als sie dem Hengst über den anmutig gewölbten Hals strich und ihm etwas zuflüsterte. Der Schimmel hörte Nyah aufmerksam zu. Dann berührte er sie leicht mit seiner Nase am Arm. Als Nyah Ashad daraufhin erneut schweigend ansah, führte der Schwarze die Pferde weg. Dieses Mal folgte ihm der edle Schimmel ohne zu Zögern.

„Ist etwas nicht in Ordnung mit ihm?“, fragte Liam, als Nyah Ashad und den Pferden noch einen Moment lang nach sah.

„Nein, es ist alles in Ordnung“, antwortete sie lächelnd, als sie sich zu Liam umwandte und in seine schönen, dunkelblauen Augen blickte, die strahlend ihr Lächeln erwiderten. Das war es gewesen, was Ánima ihr hatte sagen wollen. Dass alles gut war. Doch als sie Liam nun ansah hätte sie ohnehin keinen Zweifel mehr daran gehabt. Sein Lächeln und das Funkeln in seinen Augen ließen ihr Herz schneller schlagen.

„Ich freue mich wirklich sehr dass du heute Abend hier bist“, sagte Liam, als sie alleine waren. Nyah antwortete mit einem Lächeln.

Dann bot Liam ihr seinen Arm an und sie hakte sich leicht bei ihm unter um ihm ins Haus zu folgen. Drinnen wurde sie von Alex und seiner Frau Elena begrüßt. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb und schon bald waren alle in ein fröhliches Gespräch vertieft, an dem sich sogar der sonst eher schweigsame Ashad beteiligte, als er wenig später zu ihnen stieß und sie gemeinsam zu Abend aßen.

Da es nach diesem sonnigen Tag noch lange hell blieb begaben sie sich nach dem Essen auf einen kleinen Spaziergang durch den Park, der das Haus umgab. Alex und Ashad waren schnell in ein Gespräch über verschiedene Kampfstile und Waffen vertieft. Beide kannten sich in diesem Thema gut aus und konnten so ihre Erfahrungen austauschen. Nyah war überrascht, dass Ashad scheinbar all seine Skepsis vergessen hatte und nun ganz offen und zwanglos mit Alex sprach. Doch auch ihr selbst war Liams Bruder sympathisch und sie freute sich darüber, dass Ashad sich ebenfalls wohl zu fühlen schien. Nur Alex‘ Frau Elena tat ihr ein wenig leid, da sie sich an diesem Gesprächsthema so gar nicht beteiligen konnte und einfach schweigend neben Alex her ging. Sie machte jedoch einen gleichmütigen Eindruck.

Nyah hatte sich erneut, wenn auch zuerst ein wenig schüchtern, bei Liam untergehakt und sie folgten den anderen langsam in einigem Abstand. Liam hatte sanft seine linke Hand auf Nyahs Hand gelegt, die an seinem rechten Arm ruhte. Wieder hatte er gespürt, wie sie sich für einen Moment angespannt hatte und er hatte schon gefürchtet dass sie ihm ihre Hand wieder entziehen würde, doch zu seiner Freude hatte sie sich gleich darauf wieder entspannt.

„Würdest du mir deine Pferde zeigen?“, fragte Nyah auf einmal und entlockte Liam damit ein Lächeln.

„Aber natürlich“, antwortete er. „Sehr gerne.“

Er gab Alex ein kurzes Zeichen und bedeutete ihm, dass er mit Nyah zu den Ställen hinüber ging, die sich auf der Rückseite an das Wohnhaus anschlossen. Alex nickte ihm zu und ging dann mit Elena und Ashad weiter. Zuvor warf Ashad Nyah einen kurzen, dunklen Blick zu. Nyah schüttelte jedoch kaum merklich den Kopf.

Auch Liam hatte den Blick des Schwarzen bemerkt.

„Es ist ihm nicht recht, dass wir uns abseilen, nicht wahr?“, fragte er und etwas blitzte in seinen Augen auf.

„Nein“, bestätigte Nyah. „Das ist es nicht.“

„Möchtest du… lieber wieder zurück?“, fragte Liam leise.

Nyah schüttelte den Kopf.

„Nein“, antwortete sie lächelnd und Liam freute sich über ihre Antwort.

„Gut“, erwiderte er lächelnd und langsam gingen sie weiter. Bevor sie die Ställe erreichten hielt Liam plötzlich an und wandte sich Nyah zu.

„In welchem Verhältnis steht ihr zueinander?“, fragte er unvermittelt. „Du und Ashad, meine ich.“

Liam hatte versucht, seine Neugierde zu unterdrücken, doch er musste es einfach wissen. Nyah sah ihn einen Moment lang schweigend an. Ihre dunklen Augen wirkten im schwächer werdenden Licht tiefschwarz.

„Das ist nicht so einfach zu erklären“, begann Nyah leise. Ihre Miene war dabei sehr ernst.

„Wir kennen uns schon sehr lange. Unsere beiden Leben sind seitdem untrennbar miteinander verbunden.“

Einen Augenblick lang unterbrach Nyah sich und wandte den Blick ab, so als überlegte sie, wie sie es Liam erklären sollte. Dann sah sie ihn wieder an.

„Vor langer Zeit, als jeder von uns Hilfe am allernötigsten brauchte, sind wir für einander da gewesen. Seitdem hat sich eine tiefe Freundschaft zwischen uns entwickelt. Wir sind einander… sehr vertraut und waren selten mehr als ein paar Tage voneinander getrennt.“

Liam nickte und freute sich über diese ehrliche Antwort. Wenngleich er wieder meinte, bei Nyahs Worten einen Schatten über ihr ernstes Gesicht huschen zu sehen. Er war jedoch froh darüber, dass Nyah nur von Freundschaft sprach. Unendlich froh sogar.

„Man merkt dass ihr euch schon lange kennt. Ihr scheint euch wortlos zu verstehen, nicht wahr?“

Nyah nickte.

„Es ist schön wenn man jemanden so gut kennt, dass man sich sogar ohne Worte versteht und weiß, was der andere fühlt und denkt“, fuhr Liam fort. „Bei Alex und mir ist es genauso.“

Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort.

„Bei Ashad habe ich zusätzlich den Eindruck, als wolle er dich beschützen. Habe ich Recht?“

Nun musste Nyah lachen und ihr Gesicht hellte sich auf.

„Oh ja, das stimmt. Er macht sich ständig Sorgen. Dabei weiß er genau, dass ich sehr gut auf mich selbst aufpassen kann.“

„Das kannst du allerdings“, entgegnete Liam und lächelte Nyah an. „Ich habe selten jemanden so gut kämpfen sehen wie dich. Das würde man jedoch nicht erwarten wenn man dich sieht. Und – nun ja, ich würde mir auch ständig Sorgen um dich machen, wäre ich an Ashads Stelle.“

Sie wirkte so zart, dachte Liam. Und manchmal so verletzlich. Nyah erwiderte sein Lächeln und sah ihn einen Moment lang schweigend an. Seine letzten Worte waren sehr leise gewesen. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und beschloss daher, um ihre Verlegenheit zu verbergen, nur auf seine vorherigen Worte einzugehen.

„Ich weiß“, erwiderte sie leise. Der Umstand, dass sie eher zart und schutzlos wirkte, war schon oft von Vorteil und eine natürliche Tarnung für sie gewesen. Jedoch vor vielen Jahren auch ihr Verhängnis. Denn damals war sie tatsächlich schwach und hilflos gewesen. Doch davon durfte Liam nichts wissen. Niemand durfte davon wissen.

Nyah war froh als Liam nach einem kurzen Schweigen weitersprach.

„Mit Ashad an deiner Seite kann dir jedenfalls nicht viel passieren“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. „Sein düsterer Blick kann einem wirklich Furcht einflößen.“

Das meinte Liam ganz ehrlich. Er selbst fühlte sich unwohl, wenn der großgewachsene Schwarze ihn mit seinem durchdringenden, dunklen Blick fixierte.

Nun lachte Nyah wieder leise.

„Das stimmt. Dabei meint er es gar nicht böse.“

Dennoch wusste sie, dass Ashad sie immer schützen und wenn es sein musste sogar sein Leben für sie geben würde.

Sie sahen sich noch einen Moment lang lächelnd an, dann ergriff Liam Nyahs Hand – dieses Mal ganz vorsichtig – und sie gingen weiter zu den Ställen. Liam freute sich, dass Nyah den sanften Druck seiner Finger leicht erwiderte.

Als sie die Ställe erreichten öffnete Liam das große Tor und ließ Nyah den Vortritt. Dann bat er sie jedoch, einen Augenblick zu warten während er die beiden Lampen entzündete, die zu beiden Seiten des Tors an der Wand hingen. Im Stall war es bereits sehr dunkel, obwohl jede der Pferdeboxen ein großes Fenster hatte. Doch das dämmrige Licht war nicht mehr stark genug, um den Stall zu erhellen. Als die Lampen ein angenehmes, gedämpftes Licht auf den Stallgang warfen gingen Liam und Nyah weiter.

Nyah war beeindruckt, wie sauber und großzügig der Stall und die Boxen waren. Liams Stall glich ihrem eigenen, obwohl ihr Stall natürlich kleiner war. Sie selbst brauchte nur Platz für ihre beiden Hengste Ánima und Corazón, sowie Ashads Pferd und zwei weitere Kutschpferde, die sie jedoch nur selten einspannte. Liam hingegen besaß über zwanzig Pferde, wie er Nyah gerade erzählte, darunter einige Nachwuchspferde und Fohlen. Die Pferde sahen durchweg gut genährt und gesund aus. Es waren alles reinrassige Cartujanos, wie Nyah unschwer erkennen konnte. Das spanische Blut ihrer Vorfahren war unverkennbar, genau wie bei ihren eigenen Hengsten, wenngleich Nyahs Hengste nicht mit anderen Pferd vergleichbar waren. Liam freute sich als er erneut feststellte, wie sehr Nyah seine Leidenschaft für Pferde teilte. Dass sie sich gut mit Pferden auskannte wusste er ohnehin. Das hatten ihre präzisen Fragen schon früher deutlich gemacht. Doch der Glanz ihrer Augen, die Zärtlichkeit, mit der sie die Pferde, die ihr neugierig die Köpfe entgegen streckten, streichelte und die kaum hörbaren freundlichen Worte, die sie ihnen zuraunte zeigten ihm deutlich, wie sehr sie diese Tiere liebte. Genau wie er selbst. Natürlich war es bei ihren eigenen Pferden noch intensiver. Liam wusste, dass Nyah für ihre beiden Hengste etwas ganz Besonderes empfand. Er konnte es deutlich spüren, wann immer sie mit ihnen zusammen war. Zwischen Nyah und ihren Pferden existierte ein sehr intensives Band, das mit Worten kaum zu beschreiben war. Er wusste, dass sie die beiden Hengste bei sich hatte, seit sie Fohlen gewesen waren, wenngleich sie ihm nicht erzählt hatte, woher sie sie hatte. Ein weiteres Geheimnis, das er noch nicht hatte lüften können. Doch vielleicht irgendwann.

 

Auch er hatte seinen Hengst Nando bereits als Fohlen gehabt – er hatte ihn selbst gezogen – aber dennoch war sein Verhältnis zu dem Pferd nicht so tief wie Nyahs zu ihren beiden Pferden.

Bewegt sah er ihr nun dabei zu, wie sie eines der Fohlen am Hals kraulte und die kleine Rappstute ihren Kopf an Nyah drückte. Dieser Anblick berührte ihn zutiefst und er konnte den Blick nicht von Nyah wenden. Vor allem als sie sich schließlich zu ihm umsah, während sie noch immer das Fohlen streichelte. Selbst im schwachen Licht der beiden Lampen konnte er ihre Augen leuchten sehen. Und er sah auch wie sie leicht errötete als ihr klar wurde, dass er sie die ganze Zeit über beobachtet hatte. Wie bezaubernd sie war. Es faszinierte ihn, dass sie auf der einen Seite sehr selbstsicher und furchtlos auftrat und dabei wie eine Löwin kämpfen konnte – noch immer stand ihm das Bild der stolzen Kriegerin vor Augen, die sie am Vormittag unbestreitbar gewesen war – und auf der anderen Seite eine solch bezaubernde Natürlichkeit und Unschuld bewahrte, die Liam tief berührte. In manchen, kurzen Augenblicken, wirkte Nyah sogar beinahe schüchtern und in sich gekehrt und Liam wünschte sich zu wissen, warum. Sie hatte doch keinen Grund, sich zu verstecken. Ganz im Gegenteil.

In Momenten wie diesem jetzt gerade verspürte Liam den fast unbändigen Wunsch, Nyah zu berühren. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen und in seine Arme geschlossen, oder ihr doch zumindest zärtlich über die Wange gestrichen. Sie sah so hinreißend aus, als sie ihn nun anlächelte. Und so wunderschön. Dennoch widerstand er seinem drängenden Wunsch. Etwas hielt ihn zurück und er erwiderte nur still Nyahs Lächeln.

„Du hast wundervolle Pferde“, sagte Nyah leise und Liams Augen leuchteten auf beim Klang ihrer Stimme.

„Komm“, sagte er dann ebenso leise. „Ich möchte dir noch etwas zeigen.“

Fragend sah Nyah ihn an und folgte ihm dann zu einem kleinen Raum am Ende des Stalls. Der Raum lag neben der Sattelkammer und Liam entzündete eine weitere Lampe, um ihn zu erhellen. Als Nyah eintrat sah sie sich erstaunt um. Die Wände waren mit prunkvollen Zäumen geschmückt und auf hölzernen Sattelböcken hingen reich verzierte Sättel. Die Sättel waren mit verschiedenfarbigem Samt überzogen und reich verziert, ebenso wie die meisten Zäume mit goldenen, silbernen und messingfarbenen Beschlägen verziert waren. Diese Stücke mussten ein Vermögen wert sein.

Andächtig strich Nyah über einige der Sättel und Zäume und betrachtete sie näher.

„Sie sind wunderschön“, sagte sie und wandte sich für einen Moment zu Liam um.

„Die meisten davon stammen aus Südspanien“, erwiderte Liam, während Nyah sich weiter umsah. Er ließ unerwähnt, dass einige der Stücke nicht ganz rechtmäßig in seinen Besitz gelangt waren, sondern zur Beute einer lange zurückliegenden Kaperfahrt gehörten.

Durch einen plötzlichen Luftzug fiel die Tür des kleinen Raums auf einmal unvermittelt zu. Nyah musterte gerade einen mit dunkelblauem Samt überzogenen Sattel, als die Tür ins Schloss fiel. Erschrocken fuhr sie herum und erstarrte. Auch Liam hatte sich nach der Tür umgesehen und Nyahs Reaktion daher nicht bemerkt. Erst als er ihre bebende Stimme hörte wandte er sich wieder zu ihr um.

„Würdest du bitte… die Türe wieder öffnen?“, bat Nyah und ihre Stimme klang gepresst, obwohl sie sich bemühte, ihr einen ruhigen Klang zu geben. Als Liam sie ansah erschrak er. Sie war kreidebleich und der Schreck stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Nyah…“, begann er überrascht, da er sich ihre Reaktion nicht erklären konnte. Dabei trat er einen Schritt auf sie zu, doch sie wich vor ihm zurück.

„Bitte“, wiederholte sie leise und Liam meinte Angst in ihren Augen zu erkennen. Aber warum?

Dann kam er jedoch unverzüglich ihrer Bitte nach und öffnete die Türe wieder. Da er noch immer einen leichten Durchzug spürte schob er einen flachen Holzkeil unter die Türe, damit sie nicht noch einmal zufiel. Dann sah er sich wieder nach Nyah um und trat langsam auf sie zu. Sie stand noch immer blass und wie erstarrt da und sah ihn unverwandt an als er näher kam. Aus ihren Augen sprach unverkennbar Angst, auch wenn Liam nicht wusste wovor oder warum. Und als er nur noch einen Schritt von ihr entfernt stehenblieb sah er, dass sie zitterte.

„Was ist mit dir?“, fragte er besorgt, denn er konnte sich ihren Schrecken nicht erklären. Er traute sich nicht, ihr noch näher zu kommen denn er fürchtete, sie würde erneut zurückweichen. Ihre Hände hatte sie unbewusst zu Fäusten geballt.

„Es… ist nichts“, antwortete sie leise und versuchte, sich wieder zu entspannen, doch sie konnte ihr Zittern nicht unterdrücken.

„Aber du zitterst“, entgegnete Liam und Nyah erkannte Sorge in seinen schönen dunkelblauen Augen.

„Es… ist schon wieder vorbei“, erwiderte sie, auch wenn der Nachhall sie noch immer erzittern ließ. Sie konnte es Liam nicht erklären. Sie konnte einfach nicht. Doch das war auch nicht nötig, denn er schien etwas zu ahnen. Langsam kam er noch einen Schritt näher und hob vorsichtig eine Hand. Zärtlich und ganz behutsam strich er ihr über die Wange. Dabei sah er ihr ruhig in die Augen. Sie wich nicht zurück, wenngleich er ihre Anspannung spüren konnte.

„War es eine böse Erinnerung?“, fragte er leise und überraschte Nyah damit. Er war tatsächlich sehr einfühlsam.

Schweigend nickte sie und war dankbar als er nickte und deutlich machte, dass ihm diese Antwort genügte. Dann zog er sie sanft in seine Arme und sie ließ es geschehen. Behutsam drückte er sie an sich und schließlich ergab sie sich, immer noch zitternd, in seine Umarmung und lehnte den Kopf sacht an seine Schulter. Sie standen einfach still da und nach und nach fiel die Spannung von Nyah ab. Sie wunderte sich über sich selbst. Ihr erster Impuls als Liam seine Arme um sie gelegt hatte war gewesen, zurückzuweichen. Doch etwas hatte sie innehalten lassen. Und jetzt stellte sie fest, dass sie sich in Liams Umarmung geborgen und sicher fühlte, worüber sie erneut erschrak. Liam, der es spürte, deutete ihre neuerliche Anspannung jedoch falsch.

„Hab keine Angst mehr“, flüsterte er in ihr Haar. „Es ist alles gut.“

Dabei hielt er sie weiter fest doch Nyah spürte, dass er sie sofort loslassen würde, wenn sie es wollte. Doch sie hielt still und entspannte sich wieder.

Nie zuvor hatte sie sich so wohl und geborgen gefühlt wie in diesem Moment. Ein Zustand, der ihr einerseits Angst machte, jedoch auch ein ungeahntes Glücksgefühl in ihr hervorrief. Liams starke Brust, an die sie sich lehnte, seine starken Arme gaben ihr Halt und Sicherheit und sie empfand keine Angst. Wie war das nur möglich, fragte sie sich vage.

Auch als Nyah wieder ganz ruhig war, hielt Liam sie weiter sanft fest, bis sie sich schließlich behutsam von ihm löste um ihm in die Augen sehen zu können. Liam war froh, dass er keine Angst mehr sah, als er ihren Blick erwiderte.

„Danke“, sagte sie leise. „Und – es tut mir leid. Ich wollte nicht…“

Doch Liam unterbrach sie sanft, indem er ihr behutsam seinen rechten Zeigefinger über die Lippen legte.

„Nichts muss dir leid tun“, erwiderte er. „Und du musst mir nichts erklären, wenn du nicht möchtest.“

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