Buch lesen: «Herzschweißen»
Conny Bischofberger:
Herzschweißen
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 edition a, Wien
Cover: Valeriya Gridneva
Satz: Sophia Stemshorn
ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-462-2
ISBN E-Book 978-3-99001-463-9
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
»Jede Geschichte, die wir über uns erzählen, kann nur in der Vergangenheit erzählt werden. Sie spult sich von dort, wo wir heute stehen, nach rückwärts ab, und wir sind nicht mehr ihre Akteure, sondern ihre Zuschauer, die sich entschieden haben zu sprechen.«
– Siri Hustvedt, Was ich liebte
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
EPILOG
1
»Meine Nerven möchte ich haben«, seufzte Isabella und strich sich eine goldblonde Strähne aus dem Gesicht. Eine Stunde vor der Deadline um 19.30 Uhr haderte sie noch immer mit dem Einstieg in ihre Kolumne. »Die ersten Worte sind entscheidend«, hörte sie ihre Lehrmeisterin Nana Paulischek sagen, »mit denen fängst du deine Leser wie mit einem Lasso. Sind sie überraschend, witzig oder berührend, dann folgen sie dir.«
Ein Foto auf Isabella Mahlers Schreibtisch, goldgerahmt, und ein Aschenbecher aus dem Café de Flore in Paris St. Germain erinnerten an die legendäre Journalistin. »Wenn ich einmal nicht mehr schreibe, bin ich tot«, stand in einem von Nanas letzten Mails aus dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Zwei Tage, nachdem sie ihre letzte Kolumne übermittelt hatte, starb sie an Lungenkrebs.
Nur Nana hatte hier im sechsten Stock des Media Quarter Vienna rauchen dürfen. Einmal fiel in der brütenden Julihitze die Klimaanlage für zwei Tageszeitungen und einen privaten Fernsehsender aus, weil sich Nana eine Marlboro Rot nach der anderen angezündet hatte und Isabella das Fenster aufreißen musste, um nach Luft zu schnappen. »Mon dieu«, murmelte Nana, sie hatte ihren Wohnsitz an die Seine verlegt und erwies der Redaktion nur noch selten die Ehre des persönlichen Erscheinens, »darf man hier eigentlich gar nichts mehr?«
Isabella hatte ihre letzte Zigarette ausgedämpft, nachdem ein Schwangerschaftstest sich clearblue verfärbt hatte. Das war jetzt auch schon ein Vierteljahrhundert her.
Zehn Jahre nach Nanas Tod war diese Frau in Isabellas Leben noch immer präsent. Ihre Liebe zur Sprache, der mädchenhafte Trotz, ihr herber Charme. »Wem gilt deine Sehnsucht?«, wollte sie von Isabella einmal ganz unvermittelt wissen. Sie fragte nie etwas ohne Grund. »Eigentlich niemandem mehr«, hatte Isabella wahrheitsgetreu geantwortet.
Sie war glücklich ohne Partner. Stolz auf zwei fantastische Söhne, der Kindesvater war ihr irgendwann abhandengekommen. Ein späterer Prinz taugte nicht. Sie vermisste nichts. Und außerdem, wann hätte sie bitteschön Zeit für Rendezvous und Romantik oder, Gott behüte, mehr als das?
In ihrem Kopf begannen sich die einzelnen Gedanken langsam dem Hauptstrang zuzuordnen. Ihr Blick fiel auf das Zitat, das wie eine Mahnung an der Tür zu ihrem Büro klebte. »Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige« – Voltaire.
Dann war sie so weit.
»Wer schon bisher wenig Hoffnung in den Ibiza-Untersuchungsausschuss gesetzt hatte, dessen Erwartungen wurden diese Woche noch untertroffen«, tippte sie in ihren Computer, Calibri, 12 Punkt, 1400 Anschläge inklusive Leerzeichen. Mehr als einen Gedanken zu Ende spinnen konnte man da nicht. Aber das in allen Farben und Facetten. Sie spürte die Wut der Fernsehzuschauer, die am Abend zuvor ein unverschämter Ministerauftritt ausgelöst hatte und sie kleidete diese Wut über die Ignoranz gegenüber dem demokratischen Instrument eines U-Ausschusses in Worte.
Für dein Publikum schreiben, nicht für die asozialen Netzwerke. Auch so ein Stehsatz von Nana. In alle Richtungen denken, nicht nur in die eine, vermeintlich richtige. Oberstes journalistisches Prinzip. Schreiben war immer Lust und Qual zugleich. Isabella ging darin vollkommen auf. Meistens jedenfalls.
Dann flossen die Gedanken, die Worte folgten einem inneren Takt. Mit dem letzten Satz ließ sich Isabella wie immer besonders viel Zeit. Nichts fand sie ärgerlicher als Texte, die am Schluss einfach ausrannen, abrupt endeten, das Publikum enttäuscht zurückließen.
»Das Geschwafel war einfach unerträglich«, brachte sie die Story schließlich auf den Punkt.
Sie ließ den Fluss der Worte noch einmal auf sich wirken, den Bogen zwischen Anfang und Ende, machte die Klammer fest, die alles zusammenhielt, und fühlte den Rhythmus. Gute Texte sind wie Musik, sie spielen dir beim Lesen eine Melodie vor.
Die Wanduhr zeigte 19.15 Uhr. Sie wartete bis 19.19 Uhr, Isabella hatte ein Faible für schöne Zahlen, und stufte die Kolumne elf Minuten vor der Abgabefrist auf Korrektur.
Dann packte sie den Stoß Zeitungen und Magazine, die sie noch lesen wollte an diesem 28. November, und die Mappe mit den Briefings für ihr nächstes Interview in ihre leicht strapazierte, roséfarbene Tasche und stieg in den Lift.
2
Im Dorf ihrer Kindheit hatte sie sich immer schon fremd gefühlt. Nachzüglerin einer Bubenfamilie, gezeugt, als die Mutter frühmorgens ins Schlafzimmer oberhalb der Gastwirtsstube wankte und der Vater schon auf dem Weg hinunter in den Weinkeller war, um sein Tagwerk zu beginnen. »Nicht geplant« sei sie gewesen, das hatte sie als kleines Mädchen nur zu oft gehört. Ihre Existenz hatte sie einem kurzen Begehren auf einer Holzstiege zu verdanken.
So fühlte sich Bella in dem Dorf und in der Familie mit fünf älteren Brüdern: Zufällig hineingeboren. Als sie 14 Tage alt war, ließ die Mutter den Kinderwagen samt Säugling wegschaffen. Aufgezogen wurde Bella von ihrer Tante, die sie Mama nannte und über alles liebte.
Bella, warum schaust du so böse? Auf Familienfotos sah man ihre dunkelbraunen Augen unter dem brünetten Pagenkopf richtig funkeln.
Bella, wo warst du schon wieder so lange? An manchen Tagen hüpfte Bella auf den Steinen im Bach das ganze Tal hinein bis zum großen Wasserfall. Sie fing mit bloßen Händen Forellen aus dem kalten Wasser und schlug sie auf einem Stein tot.
Bella, was schreibst du da? In einem kleinen Büchlein notierte sie sich interessante Worte, um sie später in ihren Aufsätzen zu verwenden. Sie wollte schon mit zehn Jahren Schriftstellerin werden.
Im Wirtshaus der Eltern wurde viel gesungen, getanzt und getrunken. Bella dachte lange, Betrunkensein sei ganz normal und Nüchternheit der bedauernswerte Zustand nach dem Genuss von Alkohol. Wie Leihpersonal wurde die kleine Bella regelmäßig abgeholt, nicht einmal die geliebte Tante konnte das verhindern, dann musste sie im Wirtshaus Teller waschen, Aschenbecher putzen, Wein ausschenken, beim »Bunten Abend« im Dirndl Heimatlieder singen. Und wenn die begeisterten Gäste eine Runde spendierten, da musste auch sie Schnaps trinken. Obstler, Williams, Kirsch. Mit den Jahren wurde sie immer trinkfester. Alkohol entfaltete bei ihr nie die übliche Wirkung. Nur bei Champagner stellte sich später jene süße Benommenheit ein, die Menschen dazu verleitet, viel zu viel zu trinken.
Wäre sie kein Mädchen gewesen, sondern ein Bub, dann hätte sie wie ihre Brüder ins Gymnasium gehen können und später auf die Uni und außerdem einen BMW mit Sportfelgen fahren. So sollte sie den Kronenwirt des Nachbardorfes ehelichen und dann von ihrer Mutter, der singenden Sonnenwirtin, das durch Heirat vergrößerte Gastro-Imperium übernehmen. Das war fix geplant mit dem Kind, das zwar nicht geplant, aber sehr musikalisch war.
Bella musste noch heute schmunzeln, wenn sie daran dachte, denn der Kronenwirt war ein wirklich begehrenswerter Mann gewesen. Sie hatte sich für eine Nacht mit ihm entschieden, aber gegen den Rest.
Als Isabella die Tür zu ihrer Altstadtwohnung aufsperrte, bereitete Marcelo in der Küche gerade French Toast zu. Der Duft von gebräunter Butter, Eiern, knusprigem Weißbrot und frisch gemahlenem schwarzem Pfeffer stieg ihr in die Nase. »Auch einen für dich?«, fragte Marcelo und schwenkte die Pfanne. Isabella nickte dankbar, legte ihre Magazine und Mappen auf dem großen Holztisch ab, warf den gelben Mantel über einen Stuhl und begrüßte ihre Tiger. Der kohlrabenschwarze Mogli schnurrte laut, die ungarische, getigerte Prinzessin strich ihr in Achtern um die Beine. Sie füllte die Katzenschüsseln, dann schenkte sie sich und ihrem spanischen Mitbewohner zwei Gläser kühlen Sancerre ein.
Aus dem CD-Player klang Haydns Paris-Symphonie Nummer 82, C-Dur. Der French Toast schmeckte wunderbar. Und in Gesellschaft von Marcelo noch besser. Mit jedem Jahrzehnt genoss sie es mehr, junge, aufgeschlossene Menschen um sich zu haben, sich inspirieren zu lassen von ihren Visionen und der Kraft, mit der sie diese Visionen vertraten. Isabella hatte schon mit Studenten aus Uruguay, Japan, Finnland, Holland, Italien, Spanien und Ungarn und einem Flüchtling aus Syrien gewohnt.
Sie fühlte Genugtuung darüber, dass sie sich damals ins Gymnasium gekämpft, schreiben gelernt und fortan selbst entschieden hatte, wie und wo und mit wem sie leben, für wen sie arbeiten und wofür sie ihre Kräfte einsetzen wollte.
Isabella wollte noch Mails checken, Nachrichten schauen, sich gedanklich auf den nächsten Interviewpartner für ihr Sonntagsformat einstimmen und ein heißes Bad mit Rosenöl nehmen. Das machte so schön müde. Und eine zarte, weiche Haut.
3
Frühstücksfernsehen, die Themen des Tages, der Studiogast, das alles gehörte zu Isabellas Morgen wie der selbst gemahlene African Blu, den sie mit Milch und eineinhalb Löffel Zucker aus der geblümten dänischen Tasse trank, dabei lag Mogli satt und müde auf ihrem Schoß.
Als Journalistin musst du Infos aufsaugen wie ein Schwamm, hatte Nana immer gesagt, und im richtigen Augenblick rufst du sie ab. Das ging beim Frühstücksfernsehen los und endete auf Twitter und Instagram, bevor sie ins Bett ging.
Isabella war durch eine harte Schule gegangen. Erste Ferialpraxis mit 17, dann startete sie als Redaktionsaspirantin eine zweijährige Ausbildungszeit bei der Lokalzeitung in Bregenz. An ihren ersten Auftrag erinnerte sie sich, als wäre er gestern gewesen: Sie musste über die Jahreshauptversammlung eines Bienenzuchtvereins berichten. Da war sie 18 und hatte gerade die Schule abgeschlossen. Schnell lernte sie, das Interessante im scheinbar Langweiligen zu finden. Es war alles eine Sache des Blickwinkels.
Mit dem ersten Gehalt kaufte sich Isabella einen gebrauchten, vanillegelben VW-Käfer, um unabhängig zu sein. Wenn der Polizeifunk – damals konnte man den noch heimlich abhören – einen schweren Unfall meldete, war sie schon unterwegs. Den Fahrersitz hatte sie mit einem weißen Lammfell überzogen.
Wie sie vor Jahrzehnten arbeitete, das konnten sich die jungen Kolleginnen und Kollegen gar nicht mehr vorstellen. Keine Handys, kein Internet! Die Grundausstattung waren Münzen, damit man in Telefonzellen jederzeit eine Geschichte durchgeben konnte, falls man keinen Fernschreiber fand. Faxgeräte mit Thermopapier waren die Steigerungsstufe der Technisierung. In den Journalisten-Hotels gingen regelmäßig die Thermopapierrollen aus. Und um in diesen Journalisten-Hotels zu wohnen, musste man jederzeit den richtigen Reisepass dabeihaben. Nummer eins für Israel und den Rest der Welt, Nummer zwei für arabische Länder.
Ihre Texte klopfte Isabella viele Jahre lang in die Schreibmaschine, Handgelenksentzündungen galten in den Siebzigern und Achtzigern als Berufskrankheit. Papier war kostbar, deshalb riss man die Blätter, wenn sie nicht ganz vollgeschrieben waren, ab und verwendete den Rest für eine Kurzmeldung. Mit »Rohrbomben«, das waren runde Plastikbehälter mit abschraubbarem Deckel, jagte man die Texte vom zweiten Stock der Redaktion durch einen Rohrschacht hinunter in die Druckerei. Dort kamen sie zum Bleisetzer, danach in Platten, die mit Spagat zusammengebunden waren. Die Titel passten manchmal nicht hinein, dann setzte der Druckereiarbeiter eine Schutzbrille auf, sägte die breitesten Buchstaben, wie »m« und »w«, an beiden Enden etwas ab, und es flogen Funken durch die Luft. Isabella liebte es, den Männern in den dunkelblauen Mänteln bei ihrer Arbeit zuzuschauen. Manchmal durfte sie auch ein »w« absägen.
Mit dem Aufkommen des Internets veränderte sich der Beruf von Grund auf. Nur eines veränderte sich nicht. Die Sprache war noch immer der Kern jeder Reportage, jedes Berichts, jedes Kommentars. Die Ehrfurcht vor der Sprache hatte Isabella nie verloren.
Es war 7.15 Uhr an diesem 29. November, in »Guten Morgen Österreich« ging es gerade um das Recht auf Nahrung und den Hunger in der Welt. Sie hörte, wie die Moderatorin den Studiogast ankündigte. Christoph Regner, neuer Geschäftsführer von »Amnesty International Österreich«. Aha, dachte sich Isabella, na ja, mal schauen, was der zu sagen hat.
Im Einspieler zur Story sah sie, wie Regner durch die Gänge der Amnesty-Zentrale schritt. Wie er seine Kappe abnahm, sich kurz über das grau melierte Haar strich, den schwarzen Mantel aufhängte, sein Blick hatte etwas Tragisches. In Westafrika bahne sich eine Hungerkrise an, die Zahl der unterernährten Menschen könne von 17 auf 50 Millionen steigen, hieß es im Bericht. Die Kamera fing ein, wie Regner mit seinem Team konferierte, an der Wand hingen Poster der neuen Amnesty-Kampagne, auf dem Tisch lagen Fotos von Slums in Nigeria. »Together we can beat poverty.«
Die Moderatorin begrüßte Regner im Studio. Großgewachsen, schlank, melancholischer Blick. Schwarze Jeans, weißes Hemd. Irgendetwas fesselte Isabella und sie schaute genauer hin. Für einen Moment dachte sie, eine Mundbewegung erhascht zu haben, als hätte Regner vor dem Auftritt noch rasch einen Apfel verspeist.
Dann hörte sie den Amnesty-Chef über die Arroganz des Westens reden, der schuld daran sei, dass noch immer alle fünf Sekunden ein Kind auf dieser Welt verhungerte. Seine Stimme klang wunderschön. Marx habe noch geglaubt, dass Hunger Schicksal sei, sagte Regner. »Aber hinter jedem Opfer steht ein Mörder. Das hier ist lautloser Völkermord.« Diese Sprachmelodie …
Während er von Enklaven des Glücks sprach und von einer Welt der Schmerzen, sah sie seine feingliedrigen Hände, die langen Finger, den Ring, und war im Innersten berührt. Wann er diese Welt der Schmerzen das erste Mal betreten habe, wollte die Moderatorin wissen. Regner sagte, das sei an einem Augustmorgen in Brüssel gewesen. Und erzählte die Geschichte zweier Jugendlicher aus Guinea, die im Fahrgestellkasten einer Boeing aus Afrika ihren Tod gefunden hatten. Er versprach sich kurz, lachte über sich selber, und fuhr fort. Isabella fand das sympathisch. Inhaltlich wurde es zunehmend schwieriger, ihm zu folgen, sie suchte seine Augen, die Brauen, die Fältchen, die Lippen, konnte sich nicht sattsehen. Einer der Jugendlichen habe einen Zettel in der Hemdtasche gehabt, auf dem stand: »Wenn ihr seht, dass wir uns geopfert haben, dann darum, weil wir in Afrika leiden und euch brauchen, um gegen die Armut zu kämpfen und dem Krieg ein Ende zu machen.« Seit diesem Erlebnis habe er sich geschworen, nie mehr auf der falschen Seite zu stehen.
Isabella zitterte. Die Begegnung mit Christoph Regner hatte etwas in ihr aufgewühlt, das sie nicht benennen konnte, etwas Geheimnisvolles, als hätte er ihr über den Inhalt hinaus etwas sagen wollen.
4
Die Luft roch nach Schnee an diesem 1. Dezember. Isabella hatte wieder einmal die Route über die Wiener Ringstraße genommen, um ins Media Quarter am Stadtrand zu kommen, obwohl das eigentlich ein Umweg war. Sie lenkte ihren links hinten stark verbeulten Mini vorbei am Hotel Imperial, dem Kunsthistorischen Museum und dem Burgtheater, und betrachtete andächtig die klassizistischen Prachtbauten, die in ein lachsrosa Licht getaucht waren. Nach 35 Jahren in dieser Stadt konnte Isabella noch immer den Zauber spüren, der von ihr ausging, besonders an dem einen Tag im Jahr, an dem die ersten Schneeflocken durch die Luft tanzten.
Ihre Playlist spielte Leonard Cohen, »So long, Marianne«. In ihrer depressiven Phase war Isabella süchtig nach diesem Sound gewesen. Drei Jahrzehnte später mochte sie seine tieftraurige Stimme noch immer gern. »Come over to the window, my little darling …« Beim Dr.-Karl-Renner-Ring erklomm eine Gruppe japanischer Touristen am großen Brunnen vorbei den Aufgang zum Parlament.
In Wien muss zwei und zwei nicht zwingend vier sein, hatte ein Minister aus ihrem Bundesland einmal in einem Interview erklärt, es kann auch genauso gut dreieinhalb oder fünf sein, hier stört eine kleine Ungenauigkeit keinen. Das fand Isabella besonders charmant: Dass die Wiener ihre Schlampigkeit, gepaart mit dem berüchtigten Grant, unter dem Deckmantel der Gemütlichkeit versteckten. Am Schottentor überholte sie einen Fiaker, die Pferde schnaubten, der Atem des Kutschers rauchte in der Kälte. Null Grad. Wenn die Temperatur noch um ein halbes Grad sinken und es leicht nieseln würde, dann … Sie konnte den ersten Schnee kaum erwarten.
Im Dorf hatte Mama ihr immer erlaubt, barfuß durch den ersten Schnee zu laufen. Der Gedanke ließ sie wohlig frösteln. Wenn Bella dann mit roten Backen und eiskalten Füßen ins Bett schlüpfte und Mama die Decke über ihre Schultern legte, war sie glücklich.
Müsle gang ga schlofa, da Tag züt us bed Schuah – Mäuslein, geh schlafen, der Tag zieht beide Schuhe aus.
Und huschlat uffa Zeha da Schwizar Bergo zua – und huscht auf Zehen den Schweizer Bergen zu.
Das Wiegenlied hatte sie später auch ihren Söhnen vorgesummt, wenn sie Angst vor Gespenstern hatten oder keine Ruhe finden konnten. »Müsle« blieb zeitlebens ein zärtliches Wort für sie.
Mit ihrem dunkelgrünen Mini verließ sie den Gürtel und bog in Richtung westliche Außenbezirke ab. Die Sonne war jetzt weg, das Blassrosa des Himmels hatte sich hellgrau verfärbt. Im Radio schnappte sie einen Satz auf, der sie aufhorchen ließ, der würde dem Thema ihrer Kolumne eine spezielle Note verleihen.
Sie spürte die Leichtigkeit, die sie sich als Grundgefühl immer bewahren wollte. Diese Bereitschaft, alles auf sich zukommen zu lassen, Isabella hatte sie jahrelang trainiert. Auf den Zufall vertrauen, auf das Glück und das eigene Können, dann begegnet dir alles. Die Begegnung im Frühstücksfernsehen hatte sie erfolgreich verdrängt, darin war sie richtig gut.
Isabella parkte ihren Wagen auf dem Deck des Medienhauses, trat durch die Schwingtür ins Gebäude ein und fuhr mit dem Lift in den sechsten Stock. Daisy, ihre Assistentin, hatte Kräutertee gekocht und die Tasse mit dem Fuchsmotiv bereitgestellt, alle Tageszeitungen und Magazine lagen geordnet neben dem Keyboard. Die Kolumne ging ihr heute ganz leicht von der Hand. Manchmal war es so einfach und dann wieder eine furchtbare Qual.
Sie hatte Nana immer beneidet, wenn sie auf dem Boulevard St. Germain plötzlich innegehalten hatte. »Du musst ja noch deine Kolumne schreiben!«, murmelte sie dann und machte ihre Freunde ganz nervös. Oft spielte sich das am späteren Nachmittag ab, eine knappe Stunde vor der Deadline. Dann winkte sie ein Taxi herbei und raste in ihre kleine Wohnung in der Rue de Bac, um schnell die Nachrichtenlage in Wien zu checken. Was war am Cover, was hatten die Kollegen sich einfallen lassen? Ein kleines Detail, eine Ungeheuerlichkeit, eine Kurzmeldung irgendwo auf Seite 24, ein besonderer Blickwinkel auf ein Foto inspirierte sie dann, sie formulierte einen wichtigen Gedanken und traf mit ihren Worten jedes Mal mitten ins Herz.
Jahre nach Nana Paulischeks Tod hatte der Herausgeber ihr, der Star-Interviewerin, diese Kolumne angeboten. Du kannst nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, hätte Nana dazu wohl gesagt. Isabella nahm das Angebot trotzdem an. Drei Mal pro Woche Kolumne und einmal, in der auflagenstärksten Ausgabe, das große Sonntags-Interview. Und es war jede Woche eine Gratwanderung.
Der Sprung vom knappen Kommentieren zu den atmosphärischen Einleitungstexten ihrer Interviews, von der Politik in die Kunst, von der breiten Gesellschaft in die Randgruppen schien ihr oft unmöglich. Den Schalter einfach umzulegen, die Welten zu wechseln, sich auf eine völlig neue Situation einzulassen erforderte einen Fokus, der sie mehr als einmal an ihre Grenzen führte.
Isabella griff nach der Mappe mit den Informationen über ihren nächsten Interviewpartner. Daisy stellte diese Mappen immer zusammen. Sie enthielten eine Biografie, bereits erschienene Interviews und Porträts, Storys über artverwandte Personen und Themen, Auszüge aus Büchern, Jugendfotos, Jugendsünden et cetera.
Dieses Mal stand »Paulo Coelho« auf dem Deckblatt. Der brasilianische Bestsellerautor war Gastredner bei einem Treffen von Nobelpreisträgern im Benediktinerstift Melk, Isabella hatte schon vor einem Jahr davon erfahren und ihre Anfrage bei Coelhos Management deponiert. Erst kam eine Absage, aber Isabella kannte das Prozedere und ließ sich davon nicht abschrecken. Ganz im Gegenteil: Wenn ein Weg nicht zum Ziel führt, dann wählst du eben einen anderen, das war ihr Motto.
Sie traf sich nochmals mit dem österreichischen Veranstalter des Meetings, worauf dieser ihre Einladung mit Coelhos Büro erneut erörterte. Sie organisierte, telefonierte, kontaktierte – alles ohne Erfolg.
Dass Coelho schließlich doch noch zusagte, hatte Isabella Mahler letztlich einem Detail in ihrem Mail zu verdanken. »Unsere Leserinnen und Leser« – das waren immerhin auch ein paar Millionen – »würde vor allem interessieren, ob es eine geheime Formel gibt, nach der Sie schreiben, auf der sich der magische Effekt begründet, den Ihre Geschichten für 250 Millionen Fans auf der ganzen Welt haben«, schrieb Isabella. Details waren so wichtig. Auch für den meistgelesenen Autor der Welt. Isabella war am Ziel.
»Ihre Frage hat Herrn Coelhos Neugier geweckt«, schrieb sein Manager. »Er ist gerne zu einem Interview bereit. Da Herr Coelho im Radisson Blu wohnen wird, schlägt er die Hotelbar vor.« »Blu Style«, kommende Woche am Donnerstagnachmittag um 15 Uhr.
Isabella notierte sich Stichworte, aus denen sich die Fragen an Paulo Coelho ergeben würden. Sinnsuche und Selbsterkenntnis, Glück und Schmerz, Drogen- und Foltererfahrungen, Literaturkritiker, Geldanlage. Die Fragen formulierte sie meist wenige Stunden vor dem Treffen auf ein paar Blättern Papier. Mit weichem Bleistift geschrieben, das fühlte sich so leicht an. »Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht«, schrieb Erich Kästner. Die Fragen waren der Kern jedes Interviews. Selbst wenn der Interviewpartner nichtssagend sein sollte, was bei Politikern nicht selten der Fall war, mussten wenigstens die Fragen überraschend, außergewöhnlich und präzise sein.
»Hi Isabella, Lust auf einen CO?« Eine WhatsApp-Nachricht von Kathi blinkte auf. »CO« stand für Campari Orange. Eigentlich ein Sommergetränk, aber egal. Manchmal kommentierte Kathi Aussagen mit »TD« – »total desaster« oder »IT« – »it’s true«. Trump-Style, dachte Isabella und musste lachen.
Die Kriminalpsychologin Katharina Kinski war Isabellas älteste Freundin. Zeit mit ihr zu verbringen hatte immer etwas Heiteres, Spannendes. Mörder und Psychopathen, Borderliner und Co-Abhängige. Kathi kannte sich aus mit kranken Beziehungen.
Viele solcher Charaktere hatten sich in die elegante, perfekt gestylte Fünfzigerin mit den grünen Augen schon verliebt, Stalking und Drohungen inklusive. Deshalb zählte Kathi zwei Polizeibeamte zu ihren engsten Freunden. Die konnte sie auch spätnachts anrufen, wenn einer ihrer Klienten wieder einmal durchdrehte.
»Ja, gern«, tippte Isabella in ihr iPhone, sie hatte heute eigentlich nichts mehr vor. »Wo?«
»Bristol Bar, um 17 Uhr.«
»Machen wir 17.17«, schrieb Isabella, und Kathi schickte ein Smiley.
Im »Bristol« wusste der Barkeeper schon, wie sie ihren Campari mochte: möglichst mit Blutorangensaft, frisch gepresst, nicht zu viele Eiswürfel und einen Strohhalm in Gelb oder Grün oder Weiß, als Komplementärfarbe zum Rot des Cocktails. Isabella legte großen Wert auf Ästhetik und war sehr detailverliebt, manche nannten es auch anstrengend. Bei den kleinen Dingen des Lebens konnte sie geradezu radikal sein. Isabella hasste zum Beispiel Kapselkaffee, George Clooney hin oder her. Warum sollte man auf den Duft von frisch gemahlenem Kaffee in der Früh verzichten? Oder Maresi Leicht statt Milch, frischer Milch. Den Zusatz »länger frisch« empfand sie als Verrat am Wort »frisch«. Entweder war etwas frisch oder eben nicht.
Kathi wartete schon mit zwei Gläsern Campari Orange an der Bar, als Isabella Punkt 17.17 Uhr eintraf.
»Hey Süße!« Bei Kathi klang das gar nicht wie der gefürchtete Wiener Charme, sondern vertraut und ehrlich.
»Hey«, erwiderte Isabella leise. Sie wollte ihr eigentlich von Coelho erzählen, von den wochenlangen erfolglosen Versuchen und dass das Interview nun doch noch zustande kam.
Stattdessen erzählte sie ihrer Freundin von Christoph Regner. Von seinen Worten, seiner Stimme, seinen Augen, seinen Händen, dem Ring. Von dem Gefühl, das sie vollkommen überwältigt hatte.
Kathi spielte mit einer roten Locke. Ihr Blick blieb konzentriert und ernst. »Und was wirst du jetzt tun?«
Isabella überlegte. »Vielleicht gar nichts«, sagte sie.
»Der Ring kann auch ein Glücksbringer sein«, meinte Kathi.
Isabella musste lachen. Das war typisch Kathi, für sie hatte das Geheimnisvolle, Unwahrscheinliche immer mehr Logik als das ganz Normale.
»Ich glaub’ schon, dass es ein Ehering ist«, sagte Isabella.
»Und wenn schon«, zuckte Kathi mit den Schultern, »man kann nicht auf jedes Detail Rücksicht nehmen. Du schreibst ihm morgen ein E-Mail!«
Isabella drehte ihren Strohhalm hin und her, bewegte die Eiswürfel im Kreis. Die Sache war ihr plötzlich sehr unangenehm. Was hätte sie für einen Grund, einem fremden Mann zu schreiben? Den Eindruck zu erwecken, als wäre sie, mit bald 60, auf der Suche?
Kathi las ihre Gedanken. »Ein Mail heißt noch gar nichts. Vielleicht schreibt er höflich zurück und das war’s.«
Aber Isabella wusste, dass das nicht stimmte. Wenn sie ein Mail schrieb, dann hieß das für sie sehr viel. Dann waren es keine leeren Worte. Dann schlug sie einen Weg ein, von dem sie nicht wusste, wohin er sie führen würde. Vielleicht würde nichts mehr in Isabellas Leben so sein wie es bisher war. Und bisher war es eigentlich – zumindest lange Zeit – ziemlich perfekt gewesen.
»Ich will ihm schreiben und gleichzeitig will ich ihm auf keinen Fall schreiben«, sagte Isabella. »Kannst du das verstehen?«
Kathi nickte.
»Noch zwei Campari?«, fragte der Barkeeper. Isabella winkte ab.
»Ach Süße«, seufzte Kathi und bestellte die Rechnung.
Als Isabella vom Opernring in Richtung dritter Bezirk fuhr, konnte sie ihre Angst ganz deutlich spüren, aber auch etwas anderes. Eine seltsame Mischung aus Mut und Freude.
In diesem Moment begann es am Abendhimmel von Wien sanft zu schneien.