Buch lesen: «Caroline», Seite 2

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Am nächsten Tag rief Lydia an. Sie sprudelte vor Freude über und Caroline konnte nur mit Mühe herausbekommen, dass der Abend für Lydia ein voller Erfolg gewesen war. Kevin hatte sie eingeladen, ein paar Tage mit ihm zu verbringen. Lydia war überglücklich. Auch wenn sie dadurch die letzten gemeinsamen Ferientage nicht mit Caroline verbringen konnte. Caroline beschwichtigte Lydia. Schließlich würden sie ja auch in Zukunft weiter Freundinnen bleiben und noch viel gemeinsam unternehmen. Caroline konnte hören, wie Lydia erleichtert aufatmete, bevor sie auflegte. Nun musste Caroline sich eine Beschäftigung suchen, bis ihre Reise in ein paar Tagen losgehen würde.

Also konzentrierte sie sich auf das Packen der Koffer. Was anderes blieb nicht zu tun. Ungeduldig fragte sich Caroline, was sie wohl erwarten würde. Wie würden die anderen sein? Außer ihren Eltern hatte sie noch keine anderen Geweihten kennengelernt. Würde sie ihre Großmutter Leana endlich einmal persönlich kennenlernen? Wehmütig dachte sie an Lydia, die ihre Oma fast täglich besuchte und immer eine lustige oder spannende Geschichte darüber zu erzählen wusste. Doch Leana war nicht nur Carolines Oma, sondern auch das Oberhaupt einer Dynastie. Und Caroline wusste, dass es in der Geschichte ihrer Sippe auch dunkle Kapitel gegeben hatte. Leana hatte vermutlich auch heute noch zu viel zu tun, um sich um ihre Enkel aus Übersee zu kümmern. Zumal es ihnen gut ging und keine Gefahr in Sicht war.

Gedankenverloren spielte Caroline an ihrer Halskette. Was würde sie lernen? Wie stark würden ihre Fähigkeiten tatsächlich werden?

Caroline begann, sich darauf zu freuen, ihre neuen Kräfte endlich einmal ausprobieren zu dürfen. Sie konnte es kaum abwarten, ihre Kräfte mit anderen zu messen. Ob es noch weitere junge Geweihte wie sie geben würde? Wo sie wohl herkamen? Wer sie wohl waren?

Je näher der Tag der Abreise rückte, umso unruhiger wurde Caroline. Ihre Mutter erteilte ihr fortlaufend gut gemeinte Ratschläge und half beim Packen. Doch das machte Caroline nur noch nervöser, bis sie schließlich völlig genervt ihre Mutter aus ihrem Zimmer warf und nachdrücklich die Türe hinter ihr schloss. Dann warf Caroline sich erleichtert aufs Bett und versuchte, sich ein wenig zu entspannen.

Caroline musste wohl eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, lag ihr Zimmer vollkommen im Dunkeln. Sie fragte sich schlaftrunken, warum sie wohl wach geworden war. Hatte sie etwas gehört? Nein, ihre innere Stimme sagte ihr, dass sie nichts gehört hatte. Aber dass etwas nicht stimmte, spürte sie trotzdem sofort. Plötzlich war sie hellwach. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass jemand unbefugt ihr Heim betreten hatte. Sofort sprang sie auf und schlich im Dunkeln durch den Flur zur Treppe, die hinunter in die Wohnräume führte. Ohne ein Geräusch zu verursachen, glitt sie behände die Treppe hinunter. Das Licht ließ sie aus. Ihre neue Sicht zeigte ihr deutlich, wo sie sich befand. Eine Bewegung im Wohnzimmer erregte ihre Aufmerksamkeit. Vorsichtig schlich sie sich zur halb offenen Türe. Trotz der Finsternis konnte Caroline den Einbrecher deutlich sehen. Das Licht seiner Taschenlampe glitt über die Wohnzimmermöbel.

Die Gestalt war dunkel gekleidet und hatte eine Maske übergezogen. Plötzlich erfasste der Lichtkegel Caroline. Der Einbrecher hatte sich wohl eher zufällig zu ihr umgedreht, um nach Wertgegenständen zu suchen. Er schien wie paralysiert. Dann ließ er die Taschenlampe vor Schreck fallen. Caroline erkannte deutlich, wie der Einbrecher hektisch begann, an seiner Tasche zu nesteln. Erstaunt bemerkte sie, dass er eine Waffe zog. Beiläufig fragte sich Caroline, ob er noch irgendetwas sagen würde, als sie sah, wie er den Abzug durchdrückte. Fast gleichzeitig nahm sie das aufblitzende Mündungsfeuer wahr. Caroline schien es, als ob die Kugel auf sie zu schweben würde. Irgendwie kam ihr die Geschwindigkeit des Geschosses viel zu langsam vor. Erstaunt beobachtete sie, wie die Kugel langsam, aber unerbittlich näherkam. Obwohl die Waffe offensichtlich einen Schalldämpfer besaß, machte sie einen Höllenlärm, wie Caroline fand. Sie wurde plötzlich wütend. Was fiel diesem Fremden ein, in ihrem Heim auf sie zu schießen? Sie setzte zu einem Sprung an. Während sie nach vorne hechtete, drehte sie sich in der Luft um die näher kommende Kugel herum. Der Dieb hatte keine Chance. Er registrierte erst, dass etwas nicht normal verlief, als er durch den Aufprall von Caroline umgerissen wurde und mit ohrenbetäubendem Lärm gegen das Schreibpult krachte.

Das Nächste, was Caroline bewusst wahrnahm, waren ihre Eltern. Beide kamen über das Geländer auf sie zu gesprungen. Es sah aus, als ob sie sich in Zeitlupe bewegen würden.

Sie wirkten bedrohlicher als sonst. Bei beiden waren die Eckzähne gut sichtbar. Ihre Gesichter waren zu Fratzen verzerrt und ein tiefes Knurren ging von ihnen aus.

Caroline schaute wieder zu Boden. Sie kniete auf dem Einbrecher. Beide Hände hatte sie um die Hand mit der Waffe geschlossen. Ein tiefes Knurren erfüllte auch ihren Brustkorb. Der Mann unter ihr schien wie versteinert.

„Caroline, ist dir was passiert?“ Ihre Mutter beugte sich über sie, während ihr Vater das Licht anschaltete. Kurz war Caroline von der plötzlichen Helligkeit geblendet.

„Nein, ist alles in Ordnung. Nix passiert. Hab jemanden rumschleichen hören und wollte nur nachsehen.“ Caroline rappelte sich benommen auf.

Ihr Vater griff sich den Eindringling, der noch immer wie hypnotisiert zu Caroline herüberstarrte. Er konnte nicht fassen, was er soeben gesehen oder, besser gesagt, nicht gesehen hatte.

Caroline betrachtete erneut ihre Eltern. Sie sahen nun aus wie immer. Der Dieb begann, vor sich hin zu wimmern, während er verstört die neue Szenerie beobachtete.

„Ich glaube, ich bringe Caroline lieber in die Küche. Kümmerst du dich um den Einbrecher?“ Behutsam drehte Johanna ihre Tochter herum und schob sie vorsichtig in Richtung Küche. Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihres Vaters.

„Keine Sorge, er wird sich an nichts erinnern.“ Mit dieser Geste deutete er auf die jämmerliche Gestalt, die er am Kragen festhielt.

Total verwirrt blickte Caroline von einem zum anderen und ließ sich anschließend widerstandslos von ihrer Mutter in die Küche führen. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl.

„Wirklich alles in Ordnung?“

Caroline nickte.

„Ja irgendwie schon. Aber ich fühle mich, als würde ich schweben.“

Ihre Mutter zeigte dasselbe Lächeln wie vorhin ihr Vater.

„Das glaub ich dir sofort.“

Ungläubig schaute Caroline an sich runter und ihre Füße schwebten tatsächlich einige Zentimeter über dem Boden.

Beruhigend nahm Johanna Caroline in den Arm.

„Keine Sorge, das vergeht gleich wieder. Ich hatte ja so gehofft, dass du zu den Glücklichen gehörst. Nur wenigen Geweihten ist es möglich, diese Form der Fortbewegung zu nutzen. Sie erfordert viel Konzentration und Kraft. Und vielen, wie mir und deinem Vater, fehlt es schlicht an den notwendigen Fähigkeiten.“

„Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass ich das jetzt kann?“

Ihre Mutter reichte ihr den verchromten Toaster.

„Vielleicht liegt es an deinem Gesicht.“

Caroline konnte nicht glauben, was sich im Toaster widerspiegelte. Ihre braune Mähne war länger, dicker und zotteliger als sonst. Ihre grünen Augen schienen durchdringend zu leuchten und ihr Gesicht besaß eine Vielzahl von fleischigen Wülsten, die sowohl anziehend als auch bedrohlich wirkten. Ihre Eckzähne standen deutlich hervor und verliehen dem Gesicht zusätzliche Gefährlichkeit.

„Und deine Flugtechnik war auch echt beeindruckend. Wir waren auf der Treppe, als der Schuss fiel. Du hast reagiert, bevor du die Waffe sehen konntest. Deine Fähigkeiten scheinen groß zu sein. Ich bin stolz auf dich. Selbst wir haben den Einbrecher erst gehört, als du schon auf der Treppe warst. Erstaunlich.“

Caroline betrachtete sich weiter im Toaster.

„Und so sehe ich als … Also so sehe ich wirklich aus? Echt nicht übel. Warum haben meine Fähigkeiten ausgerechnet heute Nacht eingesetzt?“

Ihre Mutter schmunzelte.

„Du hattest noch nie einen echten Grund, sie anzuwenden. Normalerweise machen sie sich gerade am Anfang schon bei kleineren Gelegenheiten bemerkbar. Wie in der Eisdiele, in der dein Durst erwacht ist. Doch heute Nacht bedrohte dich und dein Heim eine echte Gefahr. Daher haben deine Sinne und Kräfte mit voller Wucht zugeschlagen, um es mal so zu formulieren. Als wir sahen, wie der Kerl die Pistole zog, dachten wir zuerst, dass du verletzt worden wärst. Aber dann haben wir deine Drehung und die Richtungsänderung bemerkt. Da wussten wir, dass du das alleine schaffst. Aber es sah knapp aus.“

Ihre Mutter zog am Oberteil von Carolines Schlafanzug herum.

„Die Drehung kam instinktiv.“

Caroline blickte auf die Finger ihrer Mutter, die mit einem kleinen Loch in der Nähe ihrer Schultern spielten, das am Abend definitiv noch nicht da gewesen war. Johanna lächelte, als ihre Finger über die kleine gerötete Hautstelle ihrer Tochter fuhren, die der kaputte Stoff freigab.

Carolines Vater klopfte an der Küchentür.

„Die Polizei kommt gleich. Wie sieht meine Tochter aus?“ Stolz blickte er zu ihr hinüber „Hmm. Vielleicht sollte sie ihre Aussage erst morgen machen. So kann sie jedenfalls nicht unter Leute.“

Caroline sah ihre Mutter an.

„Das bekommen wir schon hin. Gib uns zwei Minuten.“

Johanna drehte sich um und reichte Caroline eine Kühlkompresse aus dem Gefrierschrank.

„Die mit Abstand schnellste Methode, dein Blut abzukühlen und dir wieder ein normales Gesicht zu verpassen. Wenigstens solange du das noch nicht steuern kannst. Halt dir die auf das Gesicht und bleib hier. Ich schau nur schnell nach Markus. Der muss in dem ganzen Chaos nicht auch noch rumspringen. Bis ich wieder runterkomme, solltest du wieder vorzeigbar sein.“

Kurz darauf betrat Caroline noch immer etwas unsicher das Wohnzimmer. Ein Polizist inspizierte gerade die Kampfspuren, während ein anderer die Einbruchspuren sicherte. Der Einbrecher war bereits im Polizeiauto verstaut.

„Also Sie sind die Heldin des Tages? Oder besser gesagt der Nacht?“

Caroline nickte und blickte sich um. Das Wohnzimmer sah ziemlich mitgenommen aus. Der Schreibtisch war umgestürzt. Überall lagen Scherben von der eingeschlagenen Scheibe. Bei dem Sturz hatten sie offensichtlich auch den Wohnzimmertisch umgeworfen. Einer der Polizisten pulte gerade eine Kugel aus der Wand. Das Bild, das dort gehangen hatte, lag auf dem Boden.

„Ja, die bin ich wohl.“

Der Polizist zückte seinen Stift.

„Ich werde ihnen nun ein paar Fragen stellen.“

Caroline blickte zu ihrer Mutter. Diese war hinter sie getreten, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und nickte milde lächelnd. Caroline holte einmal tief Luft und berichtete, was sich zugetragen hatte.

„Ich bin wach geworden, weil ich Durst hatte, und wollte in die Küche, um mir was zu trinken zu holen. Ich mache dabei selten das Licht an, weil ich keinen wecken will. Und als ich an der Wohnzimmertür vorbei kam, habe ich das Glas splittern hören. Ich habe mich dann geduckt und gewartet, bis ich den Einbrecher sehen konnte. Dann bin ich auf ihn gehechtet. Ich mache Kampfsport.“

Der Polizist schüttelte den Kopf und deutete auf die Wand mit dem Einschussloch.

„Na, das hätte auch schief gehen können.“

Caroline zuckte verlegen drein blickend mit den Schultern.

„Ja, da habe ich wohl einfach Glück gehabt.“

Nickend notierte sich der Polizist die Aussage.

Nun schaltete sich ihr Vater ein.

„Wir wurden von dem Lärm geweckt und sind runtergelaufen. Wir sahen die beiden am Boden liegen und haben den Dieb dingfest gemacht. Und dann haben wir Sie gerufen.“

Der Polizist betrachtete die drei.

„Das war alles sehr mutig. Zum Glück ging alles gut. Wenn Sie wollen, kann ich eine Streife zu ihrer Sicherheit abstellen, bis das Fenster repariert ist.“

Caroline schaute ihre Eltern an. Ihr Vater blickte kurz zu ihrer Mutter, bevor er antwortete.

„Ich glaube, das ist nicht nötig. Es wird wohl selten in einem Haus zweimal in der gleichen Nacht eingebrochen.“

Erneut zuckte der Polizist mit den Schultern.

„Okay. Aber wenn noch was sein sollte, rufen Sie sofort an. Und morgen hätte ich gerne eine Aussage auf dem Präsidium.“

Erleichtert drückte Carolines Vater die Hand des Polizisten und schob ihn in Richtung Haustüre.

„Wird gemacht. Ich glaube, Caroline sollte jetzt lieber versuchen, noch ein bisschen zu schlafen. Wir werden erst einmal aufräumen, wenn Sie hier fertig sind, und provisorisch das Fenster reparieren.“

Als sie den Polizisten an der Türe verabschiedeten, hörten sie den Einbrecher etwas von „getroffen“ und „unmenschlichen Gesichtern“ faseln.

Der Polizist sah die drei an und meinte dann:

„Der hat sich wohl beim Sturz ziemlich den Kopf gestoßen.“

Caroline nickte zustimmend.

Dann war endlich der Tag des Abfluges gekommen. Caroline war furchtbar nervös. Sie hatte Angst, dass sich ihr neues Gesicht zeigen könnte oder sich plötzlich eine ihrer anderen Fähigkeiten in der ungewohnten Umgebung verselbstständigen würde. Wer konnte schon sagen, in welcher Situation ihre Kräfte das nächste Mal entfesselt werden würden? Im Flugzeug käme das bestimmt nicht so gut an, wenn unerwartet ihr Gesicht zum Vorschein käme. Ihre Eltern hingegen waren beruhigt, dass sich nun auch ihr Gesicht gezeigt hatte, denn es bedeutete, dass alle Kräfte aktiviert waren. Wenn eine Gefahrensituation eintreten würde, könnte ihre Tochter sich intuitiv wehren und der Gefahr entgehen. Ihre Kräfte würden sie schützen. Sie machten sich ebenso keine Gedanken darüber, dass Carolines Gesicht in einem unpassenden Moment zutage kommen würde. Menschen nahmen nur das wahr, was sie wollten. Wenn einer ihr Gesicht sehen sollte, würde er es für eine Halluzination oder eine Maske halten. Und Caroline hätte genügend Zeit sich zu beruhigen oder sich in einen Waschraum oder Ähnliches zurückzuziehen, bis sie wieder aussah wie alle anderen.

Voll bepackt betrat Caroline zusammen mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder das Flughafengebäude. So früh am Morgen war noch nicht viel los. Der Boden war blitzblank und spiegelte das Licht der künstlichen Sonnen an der gewölbten Decke. Durch die riesigen Oberlichter fiel nur die Schwärze des nahenden Tages. Hin und wieder konnte Caroline durch die monströsen Scheiben die Positionslichter der Flugzeuge in der Warteschleife ausmachen. Suchend blickten sich ihre Eltern um, bis sie den passenden Abflugschalter gefunden hatten. Zielstrebig gingen sie auf den Schalter zu, während Caroline den Koffer hinter sich herzog und die Halle begutachtete. Irgendwie verursachte die leere Weite der Halle bei ihr ein beklemmendes Gefühl.

Am Schalter zeigte Caroline ihr Ticket und den Pass und gab ihren Koffer und die Reisetasche ab. Nur ihren Rucksack behielt sie. Dann verabschiedete sie sich mit einer herzlichen Umarmung von ihren Eltern und wuselte Markus durch die Haare. Bevor sie endgültig in die Abflugzone des Flughafens verschwand, winkte sie noch einmal allen zu. Die guten Ratschläge ihrer Mutter folgten ihr noch eine Weile durch den Gang zur Abflughalle.

Da bis zum Abflug noch Zeit war, tigerte Caroline in der Halle auf und ab und tat so, als ob sie die Schaufenster der Geschäfte betrachten würde. Schließlich setzte sie sich völlig entnervt in eines der Bistros und schlürfte einen dünnen und fast kalten Kakao. Dabei betrachtete sie die vorbei eilenden Passagiere und fragte sich, wer von ihnen wohl ebenfalls zu den Geweihten gehörte. Caroline wusste, wenn sie ihre Fähigkeiten unter Kontrolle hatte, würde sie, wie alle anderen Geweihten auch, einen Angehörigen dieses Volkes in ihrer Umgebung sofort registrieren. Da sie aber ihre Fähigkeiten noch nicht kontrollieren konnte, würde sie einen Geweihten vermutlich erst erkennen, wenn er direkt vor ihr stehen würde. Gedankenverloren spielte Caroline an dem kleinen silberfarbenen Ankh mit dem grünen Stein, der um ihren Hals baumelte.

„Hi, darf ich mich zu dir setzen?“

Caroline hatte gar nicht bemerkt, wie sich der junge Mann genähert hatte.

Wie willst du denn einen Geweihten erkennen, wenn sich sogar normale Menschen an dich heranschleichen können?, schimpfte sie sich im Geiste aus und schaute erschrocken auf. Caroline blickte in ein ebenmäßiges Gesicht mit tiefblauen Augen und einer schön geschwungenen Nase. Umrahmt wurde das Gesicht von fast schwarzen, leicht gewellten Haaren, die bis über die Schultern reichten. Die schlaksige, hoch aufgeschossene Figur wirkte in ihren Bewegungen irgendwie unbeholfen und geschmeidig zugleich. Lächelnd schob der Fremde seine Haare mit einer unbedachten Handbewegung über die Schultern zurück.

„Klar. Kannst dich gerne setzen. Hi, ich heiße Caroline.“

Sie gaben einander die Hände, während der Junge sich einen Stuhl zurückzog, seinen Rucksack ablud und sich niederließ.

„Ich bin Michael. Und bitte immer in der amerikanischen Sprechweise. Aber meine Freunde nennen mich alle Mike. Und, wohin bist du unterwegs? Ich will über den großen Teich. Studienreise. Ich will mit dem Rucksack einmal quer durch Amerika. Und du?“

Caroline trank noch einen Schluck Kakao, bevor sie antwortete.

„Ich bin auch auf dem Weg in die USA. Ich habe dort Verwandtschaft.“

Caroline lächelte breit. Mike war ihr sofort sympathisch. Er bestellte sich eine Cola und sagte:

„Mein erster Stopp wird New York sein.“ Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

Caroline lachte.

„Na dann werden wir wohl zusammen fliegen. Wunderbar. Dann wird der Flug nicht so langweilig.“

Mike wollte gerade etwas erwidern, als sein Handy klingelte. Mit einer Geste bat er um einen Moment Geduld, blickte auf das Display und entfernte sich vom Tisch. Caroline schaute ihm neugierig nach. Wenn doch jetzt bitte mal ihr gutes Gehör anspringen würde. Aber natürlich, wenn man es mal brauchte, funktionierte es nicht.

Scheinbar teilnahmslos blickte sie zu Mike, der nervös auf und ab lief, während er in das Handy sprach. Dabei nestelte er an einem Anhänger, den er aus seinem Hemd gezogen hatte. Dann steckte er den Anhänger energisch wieder in sein Hemd zurück und beendete das Gespräch.

Nach einer kleinen Weile kehrte er zu ihrem Tisch zurück. Verstört spielte er mit seinem Handy. Dann schnappte er sich entschlossen seinen Rucksack und blickte Caroline an.

„Sorry, ich muss los. Wird wohl nix mit dem gemeinsamen Flug. Familienangelegenheiten.“

Er warf einen abschätzenden Blick auf das Handy. Schließlich steckte er es entschieden ein, drehte sich um und verließ die Abflughalle in größter Eile.

Caroline schaute ihm verwundert hinterher.

3

Kurz darauf wurde Carolines Flug aufgerufen. Eilig packte sie ihre Sachen zusammen und suchte ihr Abfluggate. Die letzten Kontrollen zogen sich in die Länge. Doch endlich durfte Caroline ihren Platz am Fenster einnehmen. Gebannt verfolgte sie die Startvorbereitungen. Ihr erster Flug. Sie war nicht wirklich nervös oder aufgeregt. Sie war nur neugierig. Wie es wohl war, in so einer großen Blechtrommel durch die Luft zu fliegen?

Beim Start wurde ihr Körper gegen den Sitz gepresst. Sie genoss den Adrenalinstoß durch die Beschleunigung. Es war toll. Wie durch einen Zauber wurden die Häuser, Gebäude, Bäume und Straßen immer kleiner, bis sie schließlich von den Wolken verdeckt wurden. Über ihr zeigte sich ein prachtvoller Himmel mit einem grandiosen Sonnenaufgang. Blau-, Lila-, Rot-, Gelb- und Rosatöne schillerten über den Horizont. Und Caroline hätte fast drauf wetten können, dass sie am Rand sogar verschiedene grüne Schlieren aufblitzen sah. Gebannt betrachtete sie das Farbenspiel. Die Stewardess unterbrach ihre verträumte Betrachtungen, als sie Caroline freundlich, aber bestimmt ihr Frühstück auf einem winzigen Tablett entgegenstreckte.

Den Rest des Fluges verbrachte Caroline mit dem Betrachten des Himmels und der Wolken unter ihr, Lesen und Dösen. Um wirklich schlafen zu können, war es in dem engen Sitz einfach zu unbequem.

Als das Signal aufleuchtete, dass man sich im Landeanflug befand, legte Caroline ein Lesezeichen in das Buch und verstaute es in ihrer Tasche. Das Buch hatte ihre Mutter ihr kurz vor dem Abflug, als kleine Weglektüre, geschenkt. Die Geschichte eines ihrer Vorfahren. Als Caroline gefragt hatte, hatte ihre Mutter nur gelacht und gemeint, sie würde schon von selber darauf kommen.

Während Caroline sich reckte, um ihre Glieder zu entknoten, dachte sie plötzlich an Mike. Sie hatten sich ganz nett unterhalten. Und dann dieser seltsame, überstürzte Abgang. Irgendwie beunruhigte die ganze Sache Caroline, obwohl sie nicht wusste, wieso. Schließlich hatte sie sich ja nur ein paar Minuten mit Mike unterhalten. Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite und blickte aus dem Fenster. Die Welt kam bereits deutlich sichtbar näher.

Nach der Landung dauerte es noch eine ganze Weile, bis Caroline ihr Gepäck erhielt und in Richtung Ausgang gehen konnte. Plötzlich war sie doch nervös. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in diesem riesigen Flughafen jemanden finden könnte. Ihr fiel ein, dass sie nicht einmal einen Namen wusste. Sie musste sich darauf verlassen, dass man sie fand.

Der Flughafen wimmelte nur so von Passagieren und Besuchern. Caroline schlängelte sich durch den Ausgangsbereich des Zolls und blieb nach ein paar Metern an einem halbwegs leeren Fleck stehen. Als sie aufblickte, sah sie ein Schild mit ihrem Namen.

„Hallo, sind Sie Caroline del Montelaro? Willkommen.“ Caroline streckte dem Mann ihre Hand hin. Klar, er war ein Familienmitglied und hatte sie wohl direkt als Geweihte erkannt. Vermutlich schon, als sie sich noch beim Zoll befunden hatte. Das Schild diente nur als Alibi.

Neugierig schaute sich Caroline den Mann genauer an. Seine Haare waren hell und lang. Die blauen Augen blitzten fröhlich, als er sie anschaute. Er hatte eine Figur, die große Kraft und hartes Training bezeugten. Und irgendwas an ihm kam Caroline vage bekannt vor. Er schien ca. 40 Jahre alt zu sein, obwohl Caroline sicher war, dass er um einiges älter war. Und noch etwas konnte sie erkennen: Ihn umgab eine schwache grüne Aura. Sie legte sich wie ein Schleier um ihn. Verwirrt betrachtete Caroline die sich ändernden Farbnuancen, die sich ständig in Variationen zu wiederholen schienen. Ein Räuspern holte sie aus ihren Betrachtungen. Er lächelte mild.

„War wohl ein langer Flug?“

Caroline nickte. Sie versuchte noch einmal, den grünlichen Schleier auszumachen. Doch vergebens. Aber Caroline war sich nun sicher: Vor ihr stand ein Silubra. Jemand aus ihrer Sippe.

Caroline hatte soeben flüchtig die Aura dieses Mannes gesehen. Wenn sie ihre Fähigkeiten im Griff hatte, würde sie andere Geweihte in einem gewissen Umkreis sofort erkennen, auch ohne sich darauf konzentrieren zu müssen. Müde schüttelte sie den Kopf und versuchte sich zu sammeln.

„Hi, ja, ich bin Caroline. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Der Mann strahlte über das ganze Gesicht.

„Dachte ich mir schon. Du bist nicht zu übersehen. Mein Name ist übrigens Greg.“

Dann schnappte er sich den größten von Carolines Koffern und zog ihn in Richtung Ausgang. Verwirrt folgte ihm Caroline. Als sie ihn eingeholt hatte, sprach er weiter.

„Die anderen sind auch schon da. Wir können also gleich los.“

Caroline starrte Greg nach.

„Ich bin also nicht die Einzige?“

Er lachte auf.

„Nein. Dieses Mal sind wir echt gesegnet. Wir haben gleich drei Neulinge zu unterweisen. Das wird spaßig. So viele sind es selten in einem Jahrgang. Ich bin gespannt, was ihr so auf dem Kasten habt.“

Neugierig musterte Greg sie von der Seite, als wolle er abschätzen, wie groß ihre Fähigkeiten wohl waren.

Vor dem Fahrzeug, das Greg ansteuerte, standen bereits zwei Teenager, die ungefähr in Carolines Alter waren. Der Junge schien ein wenig älter als das Mädchen und seine Klamotten wirkten verschlissen.

„Hallo, mein Name ist Boris Jatschecz“, begrüßte er Caroline mit einem starken osteuropäischen Akzent.

„Und das ist Amanda King.“

Amanda reichte Caroline ihr schmale Hand und flüsterte ein zaghaftes „Buenos días“. Alles an ihr wirkte schmal und zart. Ihr schwarzes, hüftlanges Haar und die dunklen Augen betonten ihre südländische Herkunft.

Caroline stellte sich vor und gab beiden die Hand, während Greg ihr Gepäck verstaute. Mit einer wedelnden Armbewegung scheuchte er die drei schließlich in sein Fahrzeug.

„Wir wollen doch heute noch ankommen, oder? Also nichts wie los.“

Caroline, Amanda und Boris schwangen sich in den Van. Da alle drei schon seit langer Zeit unterwegs waren, wurde während der Fahrt wenig gesprochen. Caroline war vom frühen Aufstehen und dem langen Flug völlig erschlagen und froh, keine Konversation betreiben zu müssen. Den anderen schien es ebenso zu gehen.

Sie fuhren eine ganze Weile und Caroline war wohl eingenickt. Sie schreckte hoch, weil Boris sie anstupste.

„Das hier musst du dir anschauen Caroline.“

Verschlafen rieb Caroline sich die Augen, als sie gerade das schwere schmiedeeiserne Tor passierten. Sie fuhren einen langen geschwungenen Weg entlang, der den Hügel hinauf auf ein gigantisches Gebäude zu führte. Rechts und links konnte Caroline Rasenflächen sehen, die von hohen Hecken umfasst wurden. Blumenbeete zogen sich am Wegesrand entlang und blühten in sämtlichen Regenbogenfarben. Der helle Kies knirschte unter dem Gewicht des Wagens. Als Caroline zurückblickte, konnte sie sehen, dass sich das schwere Tor wie von Geisterhand wieder schloss. Am Horizont zogen schwere Gewitterwolken auf.

Am Ende des Weges befand sich ein Wendehammer direkt vor dem Haupteingang des Hauses. In der Mitte des Platzes prangte ein monströser Springbrunnen, der aber anscheinend nicht in Betrieb war. So standen die riesigen Figuren nutzlos auf ihren marmornen Sockeln und blickten untätig und dumpf in das leere Becken. In diesem Moment sprang die Außenbeleuchtung an. Caroline erkannte, dass rund um den Platz kleine elektrische Fackeln platziert waren und die gesamte Auffahrt hell erleuchteten.

„Wir sind da.“ Greg stellte das Auto ab und stieg aus. „Schnappt euch euer Gepäck und dann nichts wie rein.“

Boris, Amanda und Caroline kletterten aus dem Wagen. Caroline warf einen ersten Blick auf das Haus. Direkt neben dem Eingangsbereich standen links und rechts Laternen. Sie sahen aus wie alte Gasfackeln, die Caroline aus historischen Verfilmungen kannte. Diese Lampen hier wurden allerdings mit Elektrizität betrieben. Greg hatte inzwischen schon den Kofferraum geöffnet und ging geradewegs auf das riesige Haus zu. Über ein paar breite ausgetretene Treppenstufen gelangte er zur Eingangstür. Zwei dicke runde Säulen aus dunklem Stein stützten ein schweres schiefergedecktes Vordach. Der dunkle Stein und die dreieckige Form des Dachaufsatzes ließen das Ganze wuchtig und ein wenig bedrückend wirken. Und obwohl der Eingangsbereich von allen Seiten offen, beleuchtet und begehbar war, wirkte er wie eine Vorhalle zu einer Gruft. In dem Stein über der Türschwelle war der Name des Hauses eingemeißelt worden: Kievets Hook House. Links und rechts vom Hauptgebäude konnte Caroline in einigem Abstand die Umrisse zweier Seitenflügel erkennen. Diese waren ungefähr gleich lang und schienen, wie die gesamte Fassade des Hauses, mit dunklem Stein verkleidet. Das Haus wirkte in der Sonne alt, beständig und bedrohlich zugleich.

„Na kommt schon.“ Greg deutete mit einer Geste an, dass sie sich ein wenig beeilen sollten.

Caroline drehte sich zum Auto um. Ihr Blick schweifte über die erleuchtete Auffahrt und zu dem im Dunkeln liegenden Rasen. Dann gesellte sie sich zu Amanda und Boris, die ihr Gepäck aus dem Kofferraum des Wagens zogen und bereits die Taschen sortierten.

Greg öffnete einen der beiden Flügel der wuchtigen Eingangstür, die leicht knarzte. Dahinter begrüßte sie ein heller Empfangsraum mit hohen Decken, an denen schwere Lüster ein mannigfaltiges Licht abgaben.

Amanda, Boris und Caroline schulterten gerade ihre Taschen, als Greg erneut am Van auftauchte, um den Kofferraum zu schließen. Dann ging er voran und betrat die Eingangshalle.

Die Wände waren etwa bis auf Brusthöhe mit dunklem Holz vertäfelt. Darüber hingen mannshohe Porträts aus verschiedenen Epochen. Dazwischen gab es immer wieder Fackelhalterungen, über denen die Wände leichte Rußspuren aufwiesen. Der marmorne Fußboden war mit dicken Läufern ausgelegt. Gleich neben der Eingangstüre befanden sich zu beiden Seiten kleine Sitzgruppen. Diese bestanden jeweils aus einem Beistelltisch, einem breiten schwarzen, ledernen Sessel und einem zweisitzigen schwarzen Ledersofa. An der rechten Wand konnte Caroline eine Garderobe aus poliertem Kirschholz entdecken.

Greg bedeutete mit einer Handbewegung, dass sie hier warten sollten. Dann schritt er zielstrebig zum anderen Ende der Diele, wo sich neben der breiten Türe aus Milchglas ein kleiner Tisch mit einem schwarzen Telefon befand. Noch während Greg telefonierte, öffnete sich die Milchglastür und zwei Dienstmädchen traten heraus. Sie knicksten vor Greg und begrüßten die drei Neuankömmlinge mit einem höflichen Kopfnicken.

Greg hatte aufgehört zu telefonieren und drehte sich zu Caroline und den anderen um.

„Also herzlich willkommen im Kievets Hook House. Das sind Greta und Sarah. Sie werden euch jetzt auf eure Zimmer bringen. Dort könnt ihr euch ein wenig frisch machen. In einer halben Stunde wird das Essen serviert. Also bis gleich.“

Und schon war er durch die Milchglastür entschwunden. Eines der beiden Dienstmädchen verschwand ebenfalls hinter der Tür, um kurz darauf mit einem Kofferwagen wieder aufzutauchen, während das andere sich schüchtern als Greta vorstellte. Dann packten sie die Koffer der drei auf den Wagen und baten darum, ihnen zu folgen.

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Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
250 S. 1 Illustration
ISBN:
9783945914014
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Rechteinhaber:
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