Buch lesen: «Die Kunst, auf dem Wasser zu gehen»

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(Nachtrag) 229

1

Als Janis Quint eines Tages entdeckte, dass er auf dem Wasser wandeln konnte, verwunderte ihn dies eher als dass es ihn beunruhigte. Viel später erst begriff er die Tragweite dieser Entdeckung und dass es kaum etwas in seinem Leben gab, dass ihn so sehr geprägt hatte wie diese Fähigkeit, deren praktischer Nutzen eher gering war.

***

So oder so ähnlich müsste es anfangen. Wenn es zutreffen würde. Aber meiner Ansicht nach hat er die Tragweite nie wirklich begriffen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, ihm ist niemals der Gedanke gekommen, dass man solche Gaben nicht wie ein lästiges Mitbringsel behandelt, das man nur annimmt, weil man nicht unhöflich sein will.

Das hat er nämlich getan. Einen großen Teil seines Lebens hat er damit verbracht nur dazusitzen und herauszufinden, was er tun wollte.

Ungeachtet dessen müsste ein Bericht über Janis Quints Leben natürlich mit einem solchen Satz beginnen. Denn niemand will ja etwas über ihn erfahren. Wenn sie eine Wahl haben zwischen Legende und Wahrheit, entscheiden sich die Leute immer für die Legende. Sie lieben fromme, kleine Episoden aus dem Leben ihres Helden. Überschaubare Szenen, die nicht zu lang sein dürfen, damit die Leser nicht den Faden verlieren oder nach dem Lesen nicht mehr dazu kommen, über das Gelesene nachzusinnen. Und sie brauchen immer eine Moral. Einen Nutzen, den sie daraus ziehen können. Fromme Literatur ist Gebrauchsliteratur. Erbauung eine Form geistlichen Stoffwechsels.

Na schön, ihr sollt eure Episoden haben. In denen wird nichts darüber stehen, dass eure Lichtgestalt keinen Ehrgeiz besaß, dass sie für euch, die ihr ihm jedes Wort von den Lippen zu lesen bereit wart, nur gleichgültiges Schulterzucken übrig hatte und sich in seinem Leben eigentlich nichts anderes wünschte, als an einem Klavier zu hocken und ohne Sinn und Verstand immer wieder ein und dasselbe Stück zu klimpern.

Ihr habt keine Ahnung, wer Janis Quint war, und so soll es auch bleiben. Aber dass ihr ihn als Heilsbringer verehrt, verdankt ihr nicht ihm.

Sondern mir.

***

„Du darfst ihnen nicht trauen.“

„Das tue ich auch nicht, Dad.“

„Einmal habe ich ihnen vertraut und daraus gelernt. So etwas passiert mir nicht wieder, habe ich mir gesagt. Man sollte ihnen nicht trauen, dann kann man ganz gut mit ihnen auskommen. Merk dir das, mein Junge.“

„Ja, das werde ich.“

„Habe ich dir schon erzählt, dass sie keine Kreuze mehr haben? Das heißt, sie haben schon noch welche, nur beten sie sie jetzt an und nageln keine Menschen mehr an ihnen fest.“

„Ja, das hast du schon erzählt, Dad. Schon oft.“

„Das bedeutet aber nicht, dass deine Aufgabe jetzt leichter ist. Man wird zwar nicht mehr ans Kreuz genagelt, dafür lassen sie einen im Fernsehen auftreten und machen ihn zum Narren. Das wäre das Schlimmste, wenn sie aus dir eine Witzfigur machen.“

„Keine Sorge, das wird schon nicht passieren.“

„Versprich mir, dass du das nicht mit dir machen lässt.“

„Ja, ich verspreche.“

„Ein wenig habe ich nämlich den Eindruck, dass du alles zu leicht nimmst. Dass du keine rechte Lust hast, dich ganz und gar einzubringen.“

„So wie mein Bruder, meinst du?“

„Was willst du damit sagen?“

„Dass du ihn bei jeder Gelegenheit zum leuchtenden Vorbild erklärst, an dem ich mir ein Beispiel nehmen sollte.“

„Na und? Was ist falsch daran? Ist er etwa kein Vorbild?“

„Oh doch, das ist er! Immerhin war er stets folgsam und tat, was du von ihm verlangtest. Ein Musterknabe, wenn es ihn auch das Leben gekostet hat.“

„Hör auf. Was weißt du denn schon von deinem Bruder?“

2

Mein älterer Bruder war immer ein Vorbild für mich. Dabei lernte ich ihn eigentlich nie richtig kennen. Ich glaube aber, das ist ganz normal, die meisten Menschen haben Vorbilder, die sie nie persönlich kennenlernten. Vielleicht hätten die sonst nie eine Chance, den Rang eines Vorbildes zu erlangen.

Abel – so hieß mein Bruder – und ich, wir sind über zehn Jahre auseinander. Als ich neun war, ging er für Ärzte ohne Grenzen in den Irak. Dort wurde er von islamistischen Terroristen entführt und umgebracht. Mein Vater meinte damals, dass im größten Unglück, das einem widerfahren könne, auch ein Quäntchen Glück liege.

„Er ist für andere gestorben. Und das ist eine ganze Menge. Wie viele Menschen sterben heutzutage völlig sinnlos und haben ihr Leben lang nicht begriffen, worauf es ankommt.“

„Du freust dich also, dass er gestorben ist?“, fragte ich.

Lotte, meine Mutter, meinte daraufhin, dass ich still sein solle, und Papa fügte hinzu, dass ich mir an meinem Bruder ein Beispiel für mein ganzes Leben nehmen könne.

Damals versuchte ich es auch. Abel hatte schließlich eine Menge riskiert und konnte nichts dafür, dass er ermordet worden war. Und doch war es der Tag, an dem ich anfing, ihn zu hassen. Nicht weil ich ihn für das falsche Beispiel hielt. Sondern weil sein Vorsprung zu groß war. Er war ein Märtyrer, und ich würde es nie mit ihm aufnehmen können.

***

Viele, ich glaube sogar die meisten aus meiner Jahrgangsstufe, bevorzugten Popgrößen als Vorbilder. Sie kleideten sich schrill, gründeten eine Band oder spielten Videoclips nach. Andere wollten Fußballstar werden und wieder andere wurden von ihren Eltern schon seit dem Kindergarten zu mathematischen Genies trainiert.

Das hat mein Papa aber nicht gemeint, als er mir wieder und wieder einschärfte, dass jeder Mensch jemanden brauche, dem er nacheifern könne. „Vorbilder sind mehr als nur ein rationales Ziel, das eine Person verkörpert“, dozierte er. „Sie sind eine Vision. Und ohne eine Vision zu haben, kannst du auf Erden nichts bewirken.“

Henrik, mein Vater, war lange Zeit evangelischer Pfarrer einer beschaulichen Gemeinde in Neukirchen-Vluyn gewesen. Eines Tages jedoch hatte ihn der Ruf Gottes ereilt (ich stellte mir das lange Zeit so vor, dass der Herr sich telefonisch bei ihm meldete), und von da an kümmerte er sich um verirrte Schafe. Ich fand es damals toll, dass Gott sich nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere erbarmte, doch es stellte sich heraus, dass er mit Schafe Menschen gemeint hatte, die in die Fänge skrupelloser Sekten geraten waren. Vater befreite sie in halsbrecherischen Aktionen, die sich oftmals am Rand der Legalität bewegten und schloss sich nach einer geglückten Tat wochenlang mit den Befreiten ein, um sie zu dekodieren.

So lernte er auch Mama kennen.

Als ich zur Welt kam – das war neun Jahre vor Abels Tod - , lag seine aktive Zeit schon etwas zurück, doch das bedeutete keineswegs, dass er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Henrik Marius war Sprecher von mindestens drei Bürgerintiativen und reiste fast jedes Wochenende zu einer Demo, die irgendwo in der Republik stattfand.

Mama leitete Kurse über gewaltlose Selbstverteidigung für Frauen und hielt darüber auch abendfüllende Vorträge oder Wochenendseminare, auf denen sie eine DVD zum Thema anbot.

***

Was Abel anging, so habe ich ihm eigentlich Unrecht getan. Als ich an einem der Wochenende, an denen meine Eltern nicht wussten, wo ihnen der Kopf stand, zufällig in Mamas Unterlagen herumstöberte, konnte ich einen ernüchternden Blick hinter das Märtyrerimage meines Bruders werfen.

Abel war gar nicht von Islamisten ermordet worden. Er hatte nicht einmal einen Fuß in den Irak gesetzt. Und die Mitarbeit bei Ärzte ohne Grenzen war nur ein vager Plan unter vielen gewesen, nichts weiter. In einer regennassen Herbstnacht, in der Gundula, seine Damalige, ihm eröffnet hatte, dass sie mit ihm Schluss machen wolle, hatte er sich sinnlos betrunken und war mit seinem Kleinwagen gegen einen Baum gerast.

Auch heute denke ich noch oft an diese zufällige Entdeckung und verstehe meine Gefühle nicht. Eigentlich hätte mir Abel von da an näher sein müssen, menschlicher. Schließlich war er von seinem Sockel gestürzt und nicht mehr die unantastbare Märtyrerikone, der ich niemals das Wasser reichen konnte. Er war das wehrlose Opfer einer bodenlosen Verleumdungskampagne seitens seiner Eltern, und doch liebte ich ihn dafür nicht. Im Gegenteil, ich hasste ihn immer noch, nur von jetzt an aus einem anderen Grund. Aus dem strahlenden Heiligen war im Handumdrehen ein armseliger Sünder geworden, dem gerade recht geschehen war, da er nicht fähig gewesen war, seine Gelüste zu beherrschen.

Kein Quäntchen Glück lag im Unglück. Abel gehörte zu denen, die ihr Leben lang nicht begriffen, worauf es ankommt, und einen sinnlosen Tod erlitten hatten – wie mein Vater sagen würde und höchstwahrscheinlich damals auch gesagt hatte: einen egoistischen Tod, denn er hatte sich betrunken hinter das Steuer gesetzt, ohne Rücksicht darauf, dass er auch andere Menschenleben gefährdete. Das war mitleiderregend, aber nicht bemitleidenswert.

3

Ich bin einer der zahllosen Linkshänder, die niemals Linkshänder waren, sondern von ihren ehrgeizigen Eltern dazu abgerichtet worden sind, weil diese sich nicht damit abfinden wollten, dass ihr Kind so wie die meisten anderen war. So wuchs ich mit zwei linken Händen auf und hatte schon frühzeitig keine andere Wahl, als eine intellektuelle Karriere anzustreben.

Für mich stand bald fest, dass ich wie Martin Luther King werden wollte. Oder wie Mahatma Gandhi, Mutter Theresa oder Johannes der Täufer. Eine Symbolfigur des Guten, dem die Massen zuhörten. Ich war entschlossen, mein Leben nicht in eitler Weise für den ganz privaten Ruhm zu verschwenden, so wie all die anderen, die Popidolen und Filmstars nacheiferten. Eines Tages wollte ich jemand sein, der in dieser gleichgültigen Welt eine Wende herbeiführte. Ich wusste, dass es dazu nicht nur Ideen brauchte, sondern Persönlichkeiten. Eine charismatische Gestalt. Ich war überzeugt davon, dass die Welt auf jemanden wie mich wartete.

Als ich Janis Quint kennenlernte, arbeitete ich schon seit geraumer Zeit auf dieses Ziel hin. In meiner Zeit als Klassensprecher hatte ich eine Bewegung für universale Wahrheit gegründet. Sie sollte sich über alle Konfessionsgrenzen hinweg für die wirklichen Ziele stark machen. Leider schaffte sie es noch nicht einmal über die Schulgrenzen hinaus, und die einzigen Erfolge, die sie verbuchen konnte, waren ein Rauchverbot auf dem Schulhof, Tempo Dreißig für die Zufahrt zum Lehrerparkplatz und ein mit fünfzehn Unterschriften versehener Appell an die Bundesregierung, den Klimaschutz ernster zu nehmen. Dessen ungeachtet übte ich mich weiter in der Fähigkeit, meine Umgebung für eine Sache zu begeistern, und wenn es darum ging, auf Menschen zuzugehen, kannte ich keine Hemmungen.

Dass diese Methode nicht zum durchschlagenden Erfolg führte, lag nicht an mir. Der Grund war vermutlich, dass es zu der Zeit eben nicht cool war, zu wissen, was man wollte. Rumhängen war cool und keinen Bock haben. Etwas lernen zu wollen, um das Gelernte später zur Durchsetzung seiner Ziele einsetzen zu können, galt als verpönt, und wer den Mut hatte, sein Leben in diesem Sinn zu organisieren, wurde als Streber angesehen. Wie oft erlebte ich, dass diejenigen, auf die ich zuging, sich umdrehten und lieber über das gestrige Fußballspiel oder die Fete am Wochenende schwatzten. Wie naiv von mir zu glauben, Menschen für außergewöhnliche Dinge gewinnen zu können, die nichts anderes im Sinn hatten, als sich auf ein durchschnittliches, vorhersagbares Leben ohne Überraschungen vorzubereiten! Sollten sie mir doch den Stuhl vor die Tür stellen, mir konnte es egal sein. Ich hatte nämlich Wichtigeres zu tun als auf Feten herumzuhängen.

Trotzdem war es mir nicht egal.

***

Es war in der achten Klasse, als Friese, unser Lehrer, uns eines Tages einen neuen Schüler präsentierte, einen unscheinbaren, unsportlichen Jungen mit blassen Gesicht und Segelohren. Sein Vater hatte einen Lehrstuhl für neue Literatur an der Uni und war der Meinung, dass die Waldorfschule, die Janis bis dahin besucht hatte, ihn leistungsmäßig unterfordert habe. Friese, unser Lehrer, war hin und weg von diesem Vater und wies mindestens drei Mal, nachdem Janis sich längst auf seinen Platz verzogen hatte, darauf hin, dass unser neuer Mitschüler der Sohn eines gefeierten Literaturprofessors sei.

„Er ist nicht mein Vater“, sagte Janis knapp und deutlich. Das war das Erste, was ich ihn sagen hörte.

„Nicht?“ Friese war irritiert. „Aber nach meinen Informationen ...“

„Sie haben mich bloß adoptiert.“

Von da an kam Friese nie mehr auf Janis Quints Eltern zu sprechen, und der Versuch, das Eis für den neuen Mitschüler zu brechen, scheiterte kläglich. Weitere Versuche scheiterten ebenfalls, weshalb er sie bald einstellte.

Natürlich konnte Quint nichts dafür, dass er der Sohn eines ‚literarischen Urgesteins’ - so hatte Friese sich ausgedrückt – war. Für die meisten in der Klasse galt er dennoch als hochnäsiger Schnösel, der sich einbildete, etwas Bessers zu sein. Keine der Klicken nahm ihn auf, er stand in den Pausen allein herum, und jeden Tag erging es ihm wie am ersten Schultag. Wir gewöhnten uns allmählich daran, dass er eine sozial isolierte Existenz fristete, und Janis ging es wahrscheinlich genauso.

Allen fiel zunächst nur das Negative an ihm auf. Quint sähe Scheiße aus, meinten die Mädchen, was nicht stimmte. Vielleicht war sein Kopf im Verhältnis zum restlichen Körper ein wenig zu groß geraten, und er trug seine Brille auf eine Art, als wollte er kund tun, dass er kein Brillentyp war, doch konnte man ihn nicht wirklich hässlich nennen.

Und abgesehen davon spürte ich von Anfang an, dass eine Faszination von ihm ausging. Nein, das ist nicht wahr, ich spürte es erst mit der Zeit, als ich ihn näher kennenlernte. Zunächst bekam er in der Klasse den Platz neben mir. Pech für ihn. Wenn er sich von meiner Bekanntschaft den Zugang zu den Anderen versprach, dann täuschte er sich.

„Adoptiert?“, kam ich auf seine Bemerkung zurück. „Das bedeutet, dass du Pflegeeltern hast?“

Quint nickte. „Adoptiveltern, um es genau zu sagen.“

„Und echte Eltern auch noch.“

„Leibliche“, verbesserte er mich. „Man nennt es leibliche Eltern.“ Sein Blick durchbohrte mich. „Was gibt es darüber zu grinsen?“

„Nichts. Ich frage mich nur, wie es ist, vier Eltern zu haben statt zwei.“

„Tja, die Antwort ist leicht. Es ist wie keine Eltern zu haben.“

***

Vielleicht war ich von Quint heimlich fasziniert, weil es den Anschein hatte, dass er gar nicht unter seiner Einsamkeit litt. Es schien ihm nichts auszumachen, dazusitzen und aus dem Fenster zu starren, während sich alle um ihn herum über die Bundesliga unterhielten. Er verhielt sich so, als sei ihm das aus-dem-Fenster-Schauen hundertmal wichtiger als irgendeine belanglose Plauderei mit einem seiner oberflächlichen Mitmenschen, den er auf diese Weise kennenlernen und vielleicht sogar zum Freund gewinnen konnte.

Genauso ergeht es mir doch auch, flüsterte ich ihm im Stillen zu. Sie können mir egal sein, diese Schwätzer. Aber das glauben sie mir nicht. Im Gegenteil, sie denken, die Art und Weise, wie ich ihnen mit meinen Unterschriftslisten auf die Nerven gehe, sei ein Versuch, Anerkennung und Zustimmung von ihnen zu erlangen.

Janis spielte seine Außenseiterrolle konsequent und mit der Zeit gelang es ihm sogar, sie mit dem Nimbus des Geheimnisvollen zu umgeben, der ihm eine schwer fassbare Art von Respekt einbrachte. Es war genial: Ich konnte so viel auf die Leute zugehen, wie ich wollte – sie kritzelten ihre Unterschrift hin und schlugen mir die Tür vor der Nase zu; Quint passte die Rolle des unnahbaren Zeitgenossen, der es nicht im mindesten nötig hatte, sich in den Vordergrund zu spielen, wie angegossen, weil er genau wusste, was alles in ihm schlummerte. Und diesen Mythos erschuf er einzig dadurch, dass er sich nicht die Bohne für den Kram der anderen interessierte.

Auch ich war ihm eigentlich egal, obwohl ich neben ihm saß. Das änderte sich eher zufällig, als Friese auf die Idee kam, Kleingruppen zu bilden, ohne einen Schüler um seine Meinung zu fragen. Das war sein Stil: lange Lobreden auf Teamwork und Dialog auf Augenhöhe zu halten, aber wenn es konkret wurde, alles selbstherrlich durchzuziehen. Es ging um diverse Referatprojekte, an denen jeweils zwei Schüler arbeiten sollten, und als ich mich für das Thema Das Streben nach Glück meldete, schrieb er uns beide auf.

„Ich würde aber lieber etwas anderes machen“, verlangte Quint. „Das Streben nach Glück liegt mir nicht besonders.“

„Kein Problem“, meinte Friese. „Im Gegenteil, es trifft sich sogar sehr gut. Meine Hoffnung war, dass ihr das Thema kontrovers angeht. Also einer von euch übernimmt pro, der andere kontra.“

So begann alles. Von mir aus konnten wir uns irgendwo auf dem Schulhof zusammensetzen und die Sache besprechen. Doch Janis fand es besser, wenn ich ihn am nächsten Samstagnachmittag zu Hause besuchte.

4

Es war Frühling, sehr sonnig und schon viel zu warm für die Jahreszeit, als ich mich auf dem Fahrrad dem Quintschen Haus näherte.

Anwesen war der bessere Ausdruck. Es war eines dieser Häuser, die ganz allein stehen, so als gäbe es nur sie auf der Welt, umgeben von einer Gartenanlage, über der die Sonne nicht unterzugehen scheint, mit Golfrasen, Wasserspielen und und perfekt frisiertem Heckenlabyrinth. In solchen Häusern wohnt man nicht, hatte ich immer gedacht, man dreht Fernsehserien darin und gaukelt der Masse Episoden aus einem frei erfundenen Leben der Schönen und Reichen vor.

Janis erwartete mich in hellen Shorts, die ihm nicht standen, weil sie seine staksigen Beine wie eine grellbunte Verpackung umschlotterten, auf dem breiten Treppenaufgang, der zur Haustür führte.

Er hat mich nur eingeladen, um anzugeben, dachte ich im ersten Moment.

„Komm herein“, sagte er mit einem ungeschickten, seltsam verlegenen Gesichtsausdruck, und ich folgte ihm ins Haus. „Mach’s dir gemütlich.Willst du was trinken?“

Er drückte mir ein Glas Cola in die Hand, während ich damit beschäftigt war, mit offenem Mund den Luxus zu begaffen.

„Tolles Haus“, meinte ich, eher neidisch als bewundernd. „Was machen deine Eltern? Lass mich raten: Sklaven-Im- und Export?“

„Tja.“ Quint grinste gequält. „So ähnlich.“

„Ach, ich vergaß, dein Vater ist ja literarisches Urgestein. Wo steckt er denn?“

„Er hält ein Symposion an der Uni ab. Und abends feiert er noch mit seinen Studenten.“

„Was ist mit deiner Mutter?“

„Sie haben sich getrennt, schon als ich sieben war. Meine Mutter ist Solistin. Klassische Violine. Sie ist ständig auf Tournee, wohnt aber in Berlin.“ Er zuckte mit den Schultern. „Glaube ich jedenfalls.“

„Du weißt es nicht genau?“

„Ich sehe sie nicht sehr oft. Das meiste erfahre ich aus der Zeitung oder dem Fernsehen.“

„Verstehe“, sagte ich. „Deshalb wohnst du bei deinem Vater.“

Quint schüttelte den Kopf. „Es ist hauptsächlich wegen des Hauses.“

„Was hat denn das Haus damit zu tun?“

„Als meine Adoptiveltern sich trennten, wollte keiner das Kindermädchen weiterbezahlen, also musste sie gehen. Meine Eltern stritten um das Sorgerecht.“

„Sowas hört man ja andauernd“, sagte ich mit halbherzigem Verständnis. „Keiner will auf die Kinder verzichten, und die Zankerei nimmt kein Ende.“

Wieder schüttelte Quint den Kopf. „Tja, es ist leider genau umgekehrt.“

„Umgekehrt? Was?“

„Streng genommen haben beide nie Zeit. Aber dann stritten sie sich auch noch um dieses Haus, und paradoxerweise brachte das die Lösung.“

Ich wartete darauf, dass er sie mir verriet, doch er schien zu glauben, dass ich selbst drauf kommen würde.

„Keiner wollte die Kinder“, erklärte er schließlich, „aber beide waren scharf auf das Haus. So haben sie sich geeinigt.“

„Du meinst, dein Vater bekam das Haus dafür, dass er dich nahm?“

Janis nickte bitter. „Exakt.“

Ich grinste verlegen. „Also doch Sklaven-Im- und Export, was?“

Wir gingen nach oben in sein Arbeitszimmer, das man eher als Konferenzsaal bezeichnen musste. Breit wie ein Konzertflügel stand der Schreibtisch mitten im Raum, ausgestattet mit zwei Computern und Drucker und allem sonstigen Schnickschnack.

„Lass uns anfangen.“ Ich kramte mein Konzeptpapier hervor. „Streben nach Glück liegt dir also nicht so.“

Mein Gastgeber ignorierte den protzigen Arbeitsplatz und hockte sich lieber an ein niedriges Tischchen in der Nähe des Fensters, wo er mit einem Kugelschreiber auf einem Blatt herumkritzelte. „Nicht besonders“, sagte er.

„Und wonach willst du dann streben?“, erkundigte ich mich. „Ich meine, wenn du mit der Schule fertig bist?“

„Mal sehen.“ Janis dachte nicht lange nach. „Mama will, dass ich Pianist werde.“

„Wusste gar nicht, dass du Klavier spielen kannst.“

„Das habe ich auch nicht gesagt.“

„Du kannst es also nicht?“

„Wenn ich schon Musiker wäre, dann bräuchte ich es ja nicht mehr zu werden.“

„Aber wenn du berühmt werden willst, hättest du schon längst damit anfangen müssen. So im Alter von vier oder fünf.“

Janis schüttelte wieder den Kopf, dieses Mal ohne Grinsen. „Wer hat denn gesagt, dass ich berühmt werden will? Die Rede war von Klavier spielen, weiter nichts.“

***

Vielleicht bin ich nicht der richtige Biograph für einen wie Quint. Dazu habe ich ihn zu wenig verstanden. Und jetzt, wo ich mir alles noch mal vor Augen führe, scheint mir so manches rätselhafter als vorher. Wieso sagte er das mit dem Klavierspielen, wo er doch nichts damit erreichen wollte? Pianist ist man doch nicht, wenn man auf welche Weise auch immer auf einem Klavier herumklimpert, sondern wenn man in Konzertsälen auftritt. Im Grunde gab es gar nichts, wofür er Feuer und Flamme war. Wen wundert es also, dass er es zu nichts gebracht hat? Wahrscheinlich hat er das mit der Musik nur gesagt, um irgendetwas zu sagen. Genauso hätte er antworten können: Ich will später einmal Tote auferwecken.

„Wie steht’s denn mit dir?“, erkundigte er sich, ohne von seinem Blatt aufzusehen. „Was willst du machen?“

Gern erklärte ich ihm ausführlich, was mir schon seit langem im Kopf herumging. Auf solche Fragen war ich immer vorbereitet, ich wartete geradezu auf sie.

Quint zeigte sich allerdings nicht sehr beeindruckt. Er grinste nur und deutete ein Kopfschütteln an.

„Eine universale Bewegung?“, zweifelte er. „Wie oft gab es das denn schon?“

„Man muss eine Essenz bilden“, präzisierte ich. „Das eine, was alle Weltanschauungen und Konfessionen wollen. Und damit kann man alle Menschen zusammenbekommen.“

„Eine hehre Idee oder sowas?“

„Richtig. Nenne es von mir aus eine hehre Idee. Eines Tages werde ich sie formulieren.“

Er zuckte mit den Schultern. „Davon verstehe ich nichts.“

„Ich schon. Mein Vater ist evangelischer Geistlicher und meine Mutter Mitglied der Frauen- und Friedensbewegung.“

„Verstehe“, nickte er.

Ich ärgerte mich über diesen Kommentar, denn er klang mitleidig, nicht, wie ich erwartet hatte, bewundernd oder meinetwegen auch spöttisch. So, als hätte ich ihm erzählt, dass meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien.

„Was würdest du von einem Vater halten, der sein Kind sogar sehenden Auges in einen Hinterhalt schickt, nur weil er glaubt, dass das einer hehren Idee nützt?“, fragte er mich nach einer Weile. Er war aufgestanden und schaute aus dem Fenster in den Garten hinaus.

„Ein Hinterhalt? Wem soll denn das nützen?“

„Egal.“ Schulterzucken. „Er glaubt es jedenfalls. Und schickt sein Kind ins sichere Verderben. Würde ein Vater, der sein Kind liebt, so handeln? Oder eher einer, der menschenverachtend ist?“

„Na, das Letztere, denke ich.“

Er lachte zischend. „Dann lass die Finger von hehren Ideen, Kai. Sie bringen Väter dazu, ihre Kinder zu opfern und über Leichen zu gehen. Du weißt, wovon ich rede.“

„Ich weiß, wovon du redest? Was meinst du damit?“

„Na, was denn schon?“

„Nein, weiß ich nicht.“

Ich öffnete die Tür, trat auf den Balkon um die Aussicht auf den weiten Park zu genießen, den Janis Garten nannte. Es gab einen großen Teich, auf dem Libellen spielten, von farbenfrohen Beeten umrankt.

Und ich bemerkte noch etwas: Auf dem Balkon stand ein Rollstuhl. Ich wollte mir ihn genauer ansehen und erst da nahm ich wahr, dass jemand darin saß. Es schien eine Puppe zu sein, denn für einen Menschen war die Gestalt viel zu klein. Sie hatte rotes, viel zu dünnes Haar, die Augen blickten starr aus einem bleichen Gesicht, und der Mund stand schief, wie verrutscht. Die ganze Puppe war verrrutscht, und ich trat noch näher, um sie aufrecht in den Stuhl zu rücken. Da bewegte sie sich.

„Das ist Leonore, meine Schwester“, erklärte Quint, der mir noch eine Cola eingegossen hatte. „Natürlich ist sie nicht meine leibliche Schwester.“

„Hi“, sagte ich und lächelte dem starren Gesicht verlegen zu.

„Man sieht ihr nicht an, dass sie zwei Jahre älter ist als ich, was?“ Quint trat zu dem Mädchen und strich ihr auf zärtliche Weise über den Kopf. Dann löste er die Bremsen des Rollstuhls und stellte ihn so hin, dass auch Leonore den Blick auf den Garten genießen konnte.

„Tja, jetzt kennst du auch schon den Grund dafür, dass meine Zweiteltern mich adoptiert haben. Da sie in ihrer Karriere alles geben müssen, brauchen sie jemanden, der auf ihre behinderte Tochter aufpasst.“

„Deshalb haben Sie dich adoptiert?“

„Die Ärzte meinen, dass Leo länger lebt, wenn sie etwas Gesellschaft hat.“

Ich war immer noch ziemlich perplex. „So gut wie sie verdienen, müssten sie sich doch Pflegepersonal leisten können.“

„Personal könnte Leo aber nur betreuen und pflegen. Nicht heilen.“

„Heilen? Kann das denn jemand?“

Quint antwortete nicht. Wir gingen wieder hinein und arbeiteten bis Abends, ohne sehr viel zustande zu bringen. Die Sonne verschwand hinter den Tannen und Leonore saß immer noch in ihrem Stuhl und verfolgte das Schauspiel, ohne sich zu regen.

Schließlich machte ich mich auf Weg.

„Nächsten Freitag will ich meinen Geburtstag feiern“, sagte Quint, während er mich zur Haustür begleitete. „Wie wär’s, hättest du Lust zu kommen?“

„Klar, wenn du mich einlädst.“

„Also, bis dann.“

In der Diele fiel mir ein Bild an der Wand auf. Ein Foto hinter Glas, das das Proträt eines braungebrannten Mannes mit länglichem Gesicht und Sonnenbrille zeigte. Sein Gesicht zierte ein Bart, der wild und gepflegt gleichzeitig war. Sein Schnitt lag irgendwo zwischen Fidel Castro und Walther Ulbricht.

„Mein Vater“, erklärte Janis. „Das literarische Urgestein. Er war immer schon sehr eitel.“

Mir ging seine Bemerkung nicht aus dem Kopf. „Hast du eigentlich Kontakt zu deinen Eltern? Ich meine, zu deinen leiblichen?“

Schulterzucken. „Zu meinem Vater. Wir telefonieren hin und wieder.“

„Das mit dem Hinterhalt“, fragte ich, „ist dir das passiert?“

Wieder dieses zischende Lachen. Quint hatte keine Lust, darauf zu antworten.

„Also dann“, sagte ich. „Wir müssen den Text noch mal durchgehen, sonst wird da kein Referat draus.“

„Nicht mir“, sagte er, als ich ihm schon den Rücken zugekehrt hatte. „Meinem Bruder ist es passiert.“

***

Janis Quint wollte mich zum Freund haben, das war an diesem Herbstnachmittag nur allzu deutlich geworden. Vielleicht nicht deshalb, weil er mich besonders mochte oder mich bewunderte, sondern – das vermutete ich jedenfalls - weil er es satt war, wie der Geist von Canterville durch die leeren Riesenzimmer dieses Hauses zu spuken, den Aufpasser für seine Halbschwester zu spielen und nicht einmal seinem ungeliebten Papa am Rockzipfel hängen konnte, weil der nie Zeit für ihn hatte und lieber mit seinen Studenten feierte.

Die Geburtstagsfeier, die eine Woche später stattfand, brachte mir dafür den Beweis.

Ich war nämlich der einzige Gast.

„Wo sind die anderen?“

„Viele habe ich gar nicht eingeladen“, meinte Quint. Ich kannte ihn noch zu wenig, um einzuschätzen, ob er gekränkt war. „Sieh dir das Wetter an. Die meisten sind lieber ins Freibad gegangen.“

Ich glaube fast, so wurde ich sein bester Freund. Es sagt einiges über unser Verhältnis aus, wie ich finde. Du wirst unweigerlich der Freund von einem Menschen, nur weil du zufällig der Einzige bist, der zu seinem Geburtstag gekommen ist.

Im Übrigen reagierte Quint wie ein guter Verlierer. Er schmiedete keine Rachepläne und verbrachte den Rest des Nachmittags auch nicht damit, seine sogenannten Freunde zum Teufel zu wünschen, was viele andere getan hätten. Stattdessen saßen wir gemütlich bei Kaffee und Kuchen, denn davon hatten wir ja reichlich.

„Hattest du eigentlich schon eine Freundin?“, erkundigte er sich mit vollem Mund.

„Die eine oder andere“, log ich. „Bisher noch nichts Festes.“

„Ich frage mich, wie man es anstellt, ein Mädchen dazu zu bringen, dass es für einen schwärmt.“

„Sie schwärmen doch schon für dich“, sagte ich. „Du merkst es zwar nicht, aber sie halten dich für den geheimnisvollen Typen. Du kriegst kein Wort heraus, deshalb malen sie sich wer weiß was aus, was sich hinter deiner Fassade verbirgt. Hut ab, das ist eine geniale Masche.“

„Sie werden aber nichts Besonderes finden.“